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Nach dem EuGH-Urteil

Gute Gründe

Ein Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel ist wettbewerbsökonomisch und gesundheitspolitisch begründet

Die Annahme, ein freier Preiswettbewerb führe auch bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (Rx-Arzneimitteln) zu einer besseren und kostengünstigeren Versorgung, ist nach dem gesicherten Stand der wohlfahrts- und gesundheitsökonomischen Erkenntnisse unzutreffend. Aus wohlfahrts- und gesundheitsökonomischer Sicht ist vielmehr das System der Preisbindung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in Verbindung mit der flächendeckenden Apothekenversorgung und dem Sachleistungsprinzip effizienter und kosteneffek­tiver. Als Reaktion auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19. Oktober 2016 ist daher ein grundsätzliches Verbot des Versandhandels mit Rx-Arznei­mitteln zur Aufrechterhaltung der Preisbindung und flächendeckenden Versorgung auch aus wohlfahrts- und gesundheitsökonomischer Sicht begründet. | Von Uwe May, Cosima Bauer und Heinz-Uwe Dettling 

EuGH-Urteil und Folgeszenarien

Rx-Arzneimittel sind medizinische Therapien und greifen besonders stark in den Organismus ein. Dessen ungeachtet hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 19.10.2016 entschieden, dass die Preisbindung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (sog. Rx-Arzneimittel) für Versandapotheken mit Sitz im EU-Ausland nicht gilt. Aus diesem Urteil können sich im Wesentlichen vier Folgeszenarien ergeben:

  • Szenario 1: Untätigkeit und Inländerdiskriminierung
  • Szenario 2: Aufhebung der Preisbindung und des Sachleistungsprinzips
  • Szenario 3: „Sanfter Preiswettbewerb“ mit beschränkten Boni
  • Szenario 4: Verbot des Rx-Versandes zur Aufrechterhaltung der Preisbindung und flächendeckenden Apothekenversorgung

Nach dem gesicherten Stand der ökonomischen Erkenntnisse würde das bislang flächendeckende – gerade auch von der konkreten räumlichen Lage jeder einzelnen Apotheke abhängige – Apothekennetz in Deutschland in den Szenarien 1 bis 3 insbesondere auf dem Land deutlich ausgedünnt und die flächendeckende Apothekenversorgung beeinträchtigt.

Dagegen ist das Verbot des Rx-Versandes (Szenario 4) nach dem gesicherten Stand der ökonomischen Erkenntnisse in der Situation nach dem Urteil des EuGH vom 19.10.2016 unverzichtbare Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der flächendeckenden Apothekenversorgung in Deutschland.

Warum diese Studie?

Am 19. Oktober 2016 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die deutsche Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht für ausländische Versandapotheken gilt. Sie schränkt den freien Warenverkehr in unzulässiger Weise ein, da die ausländischen Versender ihren Nachteil, dass sie keinen direkten Kundenkontakt haben, nicht durch günstigere Preise ausgleichen können.

Solche Einschränkungen der Warenverkehrsfreiheit können gerechtfertigt sein, wenn sie z. B. dem Schutz der Gesundheit dienen. Auch der abstrakte Schutz der flächendeckenden Versorgung mit Apotheken könnte Eingriffe rechtfertigen. Die Europa-Richter bemängelten in ihrer Urteilsbegründung aber mehrfach, dass im Verfahren keine Belege für solche Gefährdungen vorgelegt wurden. Im Gegenteil, aus Unterlagen der EU-Kommission gehe hervor, dass ein freier Preiswettbewerb zwischen Apotheken eher zu einer flächendeckenden Verteilung der Apotheken führe – immerhin könnten Apotheken im ländlichen Raum wegen mangelnder Konkurrenz höhere Preise durchsetzen.

Nicht zuletzt diese Argumentation hat die Apothekergenossenschaft Noweda und den Deutschen Apotheker Verlag dazu veranlasst, ein eigenes Gutachten in Auftrag zu geben, das diese „Lücken“ mit wissenschaftlichen Belegen füllt.

Szenario 1: Untätigkeit und Inländerdiskriminierung

Der deutsche Gesetzgeber könnte untätig bleiben. Die Folge wäre eine Diskriminierung der inländischen Apotheken gegenüber Versandapotheken mit Sitz im EU-Ausland. Versandapotheken mit Sitz im EU-Ausland könnten in diesem Fall inländische Apotheken gezielt bei Preisen für einzelne Arzneimittel (sog. „Rosinenpicken“) unterbieten.

Die aktuellen Äußerungen der Krankenkassen zeigen, dass sie in diesem Fall mit Versandapotheken im EU-Ausland bezogen auf einzelne Arzneimittel Selektiv- und Exklusivverträge abschließen und so Druck auf ihre Versicherten ausüben können, diese Arzneimittel von Versandapotheken im EU-Ausland zu beziehen. Darüber hinaus zeigen aktuelle Studien, dass im Falle der Zulassung eines Preiswettbewerbs für einen relevanten Teil der Verbraucher auch bei Rx-Arzneimitteln der Preis zum maßgeblichen Entscheidungskriterium für den Versandweg wird.

So werden Rx-Arzneimittel durch den Preiswettbewerb auf ihren reinen Warencharakter ohne medizinischen Hintergrund reduziert. Medizinisch ist bei Rx-Arzneimitteln aber nicht nur die Verschreibung durch den Arzt, sondern auch die Kontrolle durch die Apotheken wichtig. Deshalb hat der Gesetzgeber sowohl die Verschreibungspflicht als auch die Apothekenpflicht vorgesehen. Aktuelle Studien bestätigen, dass Apotheken vor Ort mehrfach täglich Kontakt mit verschreibenden Ärzten vor Ort haben, um Rezeptfragen zu klären, umgekehrt aber ein Großteil der Ärzte noch nie beruflichen Kontakt zu einer Versandapotheke im EU-Ausland

hatte. Beim Bezug von Versandapotheken im EU-Ausland aufgrund des billigeren Preises werden die medizinischen Aspekte der Versorgung in den Hintergrund gedrängt. Preise werden für einen relevanten Teil der Verbraucher zum entscheidenden, aber unsachgemäßen Vergleichsmaßstab der Kaufentscheidung.

Einschränkungen der flächendeckenden Apothekenversorgung

Die durch einen Preiswettbewerb induzierten Mengen- und Preiseffekte bewirken zwangsläufig einen Umsatzverlust sowie reduzierte Margen im Rx- und OTC-Segment der Apotheken vor Ort. Dies mindert die Wirtschaftlichkeit der Apotheken. In der weiteren Folge ist mit einer Ausdünnung des pharmazeutischen Personals, einer Verschiebung zu niedrigeren Qualifikationen innerhalb der Personalstruktur sowie mit kurz- und mittelfristig nicht reversiblen Apothekenschließungen zu rechnen. Dies führt zu einer deutlichen Verschlechterung der Apothekenversorgung insbesondere in ländlichen Gebieten. In vielen Gegenden würde es kurz- und mittelfristig an Apotheken fehlen, die vor Ort für die pharmazeutische Betreuung, für die Akutversorgung, für den Nacht- und Notdienst, für die Rezepturherstellung und für die Versorgung mit Arzneimitteln zur Verfügung stehen, die – wie Betäubungsmittel – nicht über Paketdienste zugestellt werden dürfen und können. Die Versorgungslücken, die dadurch entstehen, sind durch Versandapotheken nicht auszufüllen.

Demoskopische Studien und die Erfahrungen im Versandhandel mit rezeptfreien apothekenpflichtigen Arzneimitteln erlauben fundierte Prognosen zu Marktanteilsverlusten der Apotheken an den Versandhandel im Falle der Zulassung des Preiswettbewerbs bei Rx- Arzneimitteln. Auch die durch den Versandhandel induzierten Veränderungen des Einkaufsverhaltens der Verbraucher im Bereich des Buchhandels sowie die empirischen Belege für die Verdrängungswirkung des Preiswettbewerbs im Einzelhandel im Allgemeinen lassen diesbezüglich weitere ergänzende Rückschlüsse zu. Überdies ist anhand der vorliegenden Versorgungsdaten und betriebswirtschaftlichen Kennzahlen der Apotheken quantifizierbar, in welchem Umfang und in welcher räumlichen Verteilung Apotheken unter die Rentabilitätsgrenze rutschen. Schon heute werden etwa 25 Prozent der Rezepte erst zwei Tage nach der Verschreibung durch den Arzt in Apotheken vor Ort eingelöst. Mindestens die Versorgung mit diesem „Nicht-Akutbedarf“ kann daher aufgrund von Preisanreizen zu Versandapotheken abwandern. Ein Verlust von 25 Prozent der Verschreibungen bedeutete bei einer Apotheke mit einem durchschnittlichen Nettoumsatz von zuvor ca. 2.100.000 Euro aufgrund betriebswirtschaftlicher Berechnungen eine Reduktion des Gewinns auf nur noch 37.000 Euro. Von den 20.249 Apotheken im Jahr 2015 erreichten über 60 Prozent nicht einmal den durchschnittlichen Umsatz in Höhe von ca. 2.100.000 Euro. Bei den für die flächendeckende Versorgung besonders bedeutsamen Apotheken auf dem Land ist der Anteil der Apotheken mit einem unterdurchschnittlichen Umsatz sogar noch höher.

Daran wird deutlich, dass die wirtschaftliche Existenzfähigkeit der Mehrheit der Apotheken durch die Zulassung des Preiswettbewerbs real gefährdet wird. Dabei fallen gerade die für die flächendeckende Versorgung besonders relevanten Landapotheken als erste unter die kritische Gewinnschwelle von 50.000 Euro, sodass bei Zulassung des Preiswettbewerbs viele Landapotheken in überschaubarer Zeit schließen würden.

Selbst wenn durch Schließungen Umsätze nicht nur den Versandapotheken, sondern teilweise auch anderen Apotheken vor Ort zufließen, so wären diese anderen Apotheken doch weiter entfernt gelegen und würde das bislang flächendeckende – und gerade auch von der konkreten räumlichen Lage der einzelnen Apotheke abhängige – Apothekennetz insbesondere auf dem Land deutlich „löchriger“ und aus­gedünnt.

Das auch vom Europäischen Gerichtshof angeführte, theoretisch-ökonomische Gegenargument, wonach Landapotheken im Sinne einer monopolistischen Konkurrenz über Preisspielräume verfügen, die ihre Existenz sichern können, hält einer näheren Überprüfung nicht stand. Es greift schon deshalb nicht, weil in Deutschland für gesetzlich Versicherte, die etwa 90 Prozent des Marktes ausmachen, das Sachleistungsprinzip gilt. Aufgrund des Sachleistungsprinzips sind die Versicherten nicht zur Vorkasse verpflichtet. Die Apotheken erhalten die abgegebenen Arzneimittel vielmehr erst im Nachhinein von den Krankenkassen vergütet. Abgesehen von einer geringen Zuzahlung dürfen Apotheken von Versicherten daher keine Vorkasse verlangen. Damit entfällt auch für Apotheken auf dem Land die Möglichkeit, eine räumliche Monopolsituation zur Durchsetzung höherer Preise zu nutzen.

Szenario 2: Aufhebung der Preisbindung und des Sachleistungsprinzips

Der deutsche Gesetzgeber könnte als anderes Extrem auch in Deutschland die Preisbindung für Apotheken und zugleich das Sachleistungsprinzip abschaffen. Von diesem Szenario geht der Europäische Gerichtshof aus, der wie gesehen in seinem Urteil das in Deutschland geltende Sachleistungsprinzip außer Betracht gelassen hat.

In diesem Szenario würde die Verdrängungswirkung des Preiswettbewerbs noch weiter verschärft. Die GKV-Versicherten müssten wie bei ganz normalen Waren zunächst den Preis für die – häufig sehr teuren – Rx-Arzneimittel in voller Höhe selbst im Wege der Vorkasse in der Apotheken zahlen und später von der Krankenkasse eine Erstattung verlangen. Durch den Wegfall des Sachleistungsprinzips hätten die Patienten einen umso höheren Anreiz zum Bezug bei den billigsten Anbietern.

Die Abschaffung des Sachleistungsprinzips im Zuge der Einführung des Preiswettbewerbs brächte eine Vielzahl von GKV-Versicherten, insbesondere chronisch Erkrankte, in finanzielle Schwierigkeiten, weil sie mit der Vorfinanzierung teurer Rx-Arzneimittel überfordert wären. Gleichzeitig wären aufseiten der Apotheken die Einbußen durch den Preiswettbewerb zu hoch. Ein hinreichender Ausgleich der Umsatzverluste durch erhöhte Preise bei den von ihnen noch versorgten Patienten wäre ökonomisch nicht durchsetzbar. Dies wäre nur bei einer echten Monopolstellung, d. h. nur dann möglich, wenn für einen Großteil der Patienten Bezugs­alternativen gänzlich fehlten. Über eine so weitgehende Monopolstellung verfügen aber auch Apotheken auf dem Land nicht. Der Preiswettbewerb vollzieht sich in diesem Szenario der generellen Aufhebung der Preisbindung nicht nur zwischen Apotheken und dem Versandhandel, sondern auch im Wettbewerb der Vor-Ort-Apotheken untereinander. Dabei ist es für eine individuelle Apotheke rational, sich in einen Wettbewerb und Preiskampf zu begeben, wenngleich dieser für die Apotheken kollektiv ruinös wirken kann.

Foto: Noweda

Der Vorstandsvorsitzende der Noweda, Dr. Michael P. Kuck, erklärt die Motivation der Noweda, das Gutachten zu unterstützen, so: „Der Europäische Gerichtshof hat Versandapotheken mit Sitz im EU-Ausland von der Einhaltung des deutschen Preisrechts entbunden. Diese Entscheidung ist geeignet, katastrophale Folgen für die Versorgung der Bevölkerung durch die Vor-Ort-Apotheken nach sich zu ziehen. In dieser Situation ist es Aufgabe und Pflicht der Noweda als apothekeneigenes Unternehmen, alles daranzusetzen, dass diese Folgen nicht eintreten.

Wir freuen uns daher sehr, gemeinsam mit dem Deutschen Apotheker Verlag einen wertvollen Beitrag leisten zu können, das Rx-Versandverbot als die einzig verantwortungsvolle Reaktion der Politik auf das EuGH-Urteil mit dem von uns beauftragten Gutachten wissenschaftlich zu untermauern.

Genauso wichtig ist es zweifellos, den politischen Kräften, die das Rx-Versandverbot ablehnen, allen voran der SPD, aufzuzeigen, wie gefährlich deren von wenig Sachkenntnis geprägte Haltung für die flächendeckende Versorgung ist. Auch das leistet das von uns beauftragte Gutachten. Es nimmt zudem der SPD die Möglichkeit, später zu sagen, sie habe es nicht besser gewusst.“

In dem Szenario freier Apothekenpreise wird daher nicht nur ein Preiswettbewerb zwischen Versandhandel und Apotheken vor Ort, sondern auch zwischen Apotheken vor Ort untereinander induziert. Diese Wettbewerbsdynamik nimmt im Zeitablauf durch steigende Preissensitivität und -elasti­zität der Verbraucher zu und wird, wie zurzeit bereits beobachtbar, durch offensive preisfokussierte Werbemaßnahmen angetrieben. In der Folge entstehen nicht nur im Rx-, sondern auch im OTC-Sortiment Abwanderungspro­zesse von Kunden und verstärkter Preisdruck. In dem Szenario freier Apothekenpreise werden die Apotheken daher nicht nur Mengenanteile an den Versand, sondern auch an andere Apotheken vor Ort verlieren.

Auswirkungen auf die Qualität und Effizienz der Patientenversorgung

Der entstehende, allgemeine Preiswettbewerb wirkt daher sowohl über die Mengen- als auch über die Preiskomponente umsatzmindernd. Betriebswirtschaftlich ergeben sich daraus als Folge die Unwirtschaftlichkeit und damit der Wegfall einer Vielzahl von Apotheken insbesondere auf dem Land. Der quantitative und qualitative Abbau des Apothekenangebots und die damit verbundene Ausdünnung des Apothekennetzes hat wiederum versorgungspolitisch und volkswirtschaftlich zur Folge, dass durch die weiteren Wege bis zur nächsten Apotheke die zur Sicherung der medizinischen Versorgungsqualität notwendigen Informationen und Dienstleistungen nur noch eingeschränkt von den Verbrauchern abgerufen werden. Konsumenten (hier Patienten) folgen einem einfachen Nutzenmaximierungskalkül, bei dem sie den – laienhaft – erwarteten Nutzen ihres Handelns und die erwarteten Kosten (Aufwand) abwägen: Wenn die Transaktionskosten (Zeit-, Wege- und Informationskosten) steigen, sprich der Apothekenbesuch aus subjektiver Sicht zu aufwendig wird, unterbleibt er in vielen Fällen und es wird der Weg über Versandapotheken ohne persönliche Betreuung gewählt.

Diese Entwicklung ist aufgrund der gegebenen Informationsasymmetrien zwischen medizinischen Laien und Heilberuflern problematisch. Ein Informations-, Beratungs- oder Therapiebedarf wird häufig durch den Laien unterschätzt. Zudem tritt ein solcher, eigentlich gegebener Bedarf, häufig erst durch die persönliche und vertrauensvolle Interaktion zwischen Laie und Heilberufler zutage. Ähnliches gilt für Unklarheiten bei Verschreibungen. Findet diese Interaktion nicht statt, werden der entsprechende Bedarf oder etwaige Unklarheiten nicht erkannt. Hierin liegt ein wichtiger Teil der Bedeutung des niederschwelligen Zugangs zur Apotheke.

Der Versandhandel stellt auch im Hinblick auf die Versorgungsqualität keine Alternative zur Vor-Ort-Apotheke dar. Wie u. a. die Compliance-Forschung belegt, beruht eine zielführende pharmazeutische Betreuung auf subjektiven Faktoren wie Vertrauen, Emotionalität und Empathie, die nur im persönlichen und verstärkt im wiederkehrenden Kontakt erreichbar sind. So kann in vielen Fällen die verhaltensbestimmende Laienhypothese mit dem medizinisch Rationalen in Einklang gebracht werden. Arzneimittelsicherheit und Compliance (jeweils im Rx- und OTC-Segment) sind unmittelbar damit an die räumliche Präsenz der Apotheke, aber auch an die Qualität und Quantität des pharmazeutischen Betreuungsangebots geknüpft.

Besonders hart sind durch Apothekenschließungen Menschen betroffen, die faktisch von der Arzneiversorgung durch Versandhandel abhängig werden, obwohl sie mit dem eingeschränkten Kommunikations- und Betreuungsangebot auch nach eigener Einschätzung nicht ausreichend versorgt sind. Solche „harten Versorgungslücken“ betreffen Befragungen zufolge einen bedeutenden Teil insbesondere der kranken und älteren Menschen.

Studienautor Dr. Heinz-Uwe Dettling zieht aus dem Gutachten folgende Quintessenz: „Das EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 verlangt nach dem grundsätzlichen Versandverbot für Rx-Arzneimittel. Die dagegen gestreuten unions- und verfassungsrechtlichen Bedenken sind haltlos. Es wäre umgekehrt unionsrechts- und verfassungswidrig, die flächendeckende Arzneimittelversorgung in Deutschland den Interessen einer Handvoll ausländischer Versandapotheken zu opfern. Jede einzelne Apotheke auf dem Land ist für die Arzneimittel­versorgung der Bevölkerung wichtiger als DocMorris.“

Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sind infolge dieser Entwicklung die Arzneimittelversorgungs- und Anwendungssicherheit sowie die Therapietreue (Compliance) betroffen. Hinzu kommen im Bereich der Selbstbehandlung, die mehr als die Hälfte der Fälle in der Apotheke ausmacht, eine mit der abnehmenden Apothekenpräsenz verminderte Bereitschaft zur Eigenverantwortung sowie eine abnehmende Selbstbehandlungskompetenz.

Fehlanwendungen und Non-Compliance führen messbar dazu, dass der Therapieerfolg ausbleibt und/oder medizinische Folgeschäden aus dem ursprünglichen Krankheitsbild respektive als Folge der unsachgemäßen Arzneimittelanwendung auftreten. Gesundheitsökonomisch relevante Kosten, die daraus resultieren, betreffen den ineffizienten Arzneimitteleinsatz selbst sowie zusätzlichen Ressourcenbedarf für weitere Therapieversuche, zur Behandlung der Folgeschäden und für eine erhöhte Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung. Ein Zielkonflikt zwischen Patienten- und Versorgungsorientierung einerseits sowie Wirtschaftlichkeits- und Effizienzaspekten andererseits ist vor diesem Hintergrund hier nicht erkennbar: Die bessere Versorgung ist zugleich auch die insgesamt kostengünstigere.

Szenario 3: „Sanfter Preiswettbewerb“ mit beschränkten Boni

Bei der als „milder“ diskutierten dritten Variante eines „sanften Preiswettbewerbs“ mit beschränkten Boni stünde einem minimalen finanziellen Vorteil für Verbraucher ein maximaler Schaden für die flächendeckende Versorgung gegenüber. In diesem Szenario würden die Nachteile des Preiswettbewerbs und die Nachteile der Preisbindung kumuliert.

Aktuelle Studien zeigen, dass Verbraucher schon dann bereit sind, ihre Arzneimittel bei Versandapotheken zu beziehen, wenn sie auch nur 1 bis 2 Euro Boni pro verschriebenem Arzneimittel erhalten. Wie dargestellt können so mindestens 25 Prozent der Rezepte als „Nicht-Akutbedarf“ selbst aufgrund minimaler Preisanreize zu Versandapotheken abwandern. Dieser minimale finanzielle Vorteil würde mit einem maximalen Schaden für die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung erkauft. Wie ebenfalls dargestellt wird die Existenz der Mehrheit der Apotheken vor Ort und insbesondere der Apotheken auf dem Land gefährdet, wenn 25 Prozent der Rezepte selbst wegen geringfügigster Boni an Versandapotheken gesandt werden.

Studienautor Prof. Dr. Uwe May: „Die Frage einer wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung geht weit über den Aspekt hinaus, wie ein Präparat am billigsten vom Hersteller zum Patienten gelangt. Sowohl Kosten als auch Nutzen einer flächendeckenden Apothekenversorgung werden in der öffentlichen Diskussion häufig an Einzelaspekten festgemacht, die der Komplexität des Themas in keiner Weise gerecht werden. Unser Gutachten stellt auf den Wert der flächendeckenden Apothekenversorgung im sozioökonomischen Gesamtzusammenhang ab.“

Dies gilt umso mehr, als in diesem Szenario das Sachleistungsprinzip beibehalten würde und so auch Apotheken auf dem Land nicht in der Lage wären, eine räumliche „Monopolsituation“ zur Durchsetzung höherer Preise zu nutzen.

Es kommt hinzu, dass mit der Zulassung von Boni der Sinn und Zweck von Zuzahlungen unterlaufen würde. Diese erfüllen eine Anreiz- und Steuerungsfunktion, indem sie eine Preissensibilität und ein Kostenbewusstsein auf der Nachfrageseite (Arzt, Patient) schaffen, um so Moral-Hazard-Phänomenen und einem Free-Rider-Verhalten entgegenzuwirken. Darüber hinaus ist die bewirkte Preissensibilität bedeutsam für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs insbesondere im Generikamarkt. Die hier im GKV-Markt eingesetzten Regulierungsinstrumente (u. a. Festbeträge, Zuzahlungsbefreiungsgrenzen) nutzen und verstärken gezielt diesen Steuerungseffekt der Zuzahlung. Rx-Boni unterminieren diese Mechanismen und führen so zu mittelbaren und unmittelbaren Kosteneffekten. Im Übrigen gehören bei den erstattungsfähigen Rx-Arzneimitteln Boni und Rabatte ohnehin nicht dem einzelnen Versicherten, sondern den Kostenträgern.

Schließlich stünde die grundsätzliche Beibehaltung der Preisbindung bei gleichzeitiger Zulassung beschränkter Boni ebenso wie eine strenge Preisbindung im Widerspruch zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Die Gründe, die den Europäischen Gerichtshof dazu bewogen haben, die Festpreisbindung für unionsrechtswidrig zu halten, gelten auch für eine „gelockerte“ Festpreisbindung. Versandapotheken aus dem EU-Ausland wären daher weder an die in Deutschland geltenden Preise noch an die Boni-Beschränkung gebunden. Im Ergebnis wäre daher ein „sanfter Preiswettbewerb“ mit beschränkten Boni gleichbedeutend mit der Untätigkeit des Gesetzgebers und der Diskriminierung der Apotheken vor Ort gegenüber Versandapotheken im EU-Ausland wie im Szenario 1. Er wäre nur noch mit zusätzlichen Unklarheiten und Nachteilen verbunden.

Studienautorin Cosima Bauer, M.A.: „Ein Versandhandelsverbot ist auch deshalb sinnvoll, da die Möglichkeit der Boni-Gewährung durch in- und ausländische (Versand-)Apotheken und die Aufweichung der Arzneimittelpreisbindung sozialrechtliche Instrumente zur Steuerung der Nachfrage in ihrer Wirkung beeinträchtigen.“

Szenario 4: Verbot des Rx-Versandes zur Aufrechterhaltung der Preisbindung und flächendeckenden Apothekenversorgung

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs belässt dem Gesetzgeber in Deutschland die Möglichkeit, den Versand von Rx-Arzneimitteln grundsätzlich zu verbieten, um damit das bisherige System der Preisbindung und flächendeckenden Apothekenversorgung aufrecht zu erhalten. Weil in Deutschland – anders als in anderen Mitgliedstaaten der EU – Niederlassungsbeschränkungen als Instrument zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeschlossen sind, ist das Verbot des Rx-Versandes nach dem gesicherten Stand der ökonomischen Erkenntnisse in der Situation nach dem Urteil des EuGH vom 19.10.2016 eine unverzichtbare Voraussetzung für die Sicherung der Preisbindung und damit für die Aufrechterhaltung der flächendeckenden Apothekenversorgung in Deutschland. Die Aufrechterhaltung der Preisbindung und der flächendeckenden Apothekenversorgung ist in Verbindung mit dem Sachleistungsprinzip nach dem gesicherten Stand der wohlfahrts- und gesundheitsökonomischen Erkenntnisse auch effizienter und kosteneffektiver als ein System des freien Preiswettbewerbs bei Rx-Arzneimitteln. Die Annahme, ein System mit freiem Preiswettbewerb führe auch bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu einer besseren und billigeren Versorgung, ist demnach unzutreffend. Ein grundsätzliches Verbot des Versandhandels mit Rx-Arzneimitteln ist daher auch aus wohlfahrts- und gesundheitsökonomischer Sicht begründet.

Im Arzneimittel- und Apothekenmarkt sind verschiedene Bedingungen gegeben, unter denen die Funktionsfähigkeit des Markts unvollkommen ist und unerwünschte Effekte eintreten. Ursachen dieses sog. Marktversagens sind hier das gleichzeitige Vorliegen externer Effekte sowie Informationsasymmetrien. Ebendiese Aspekte sind auch Grund für die Einbindung verschreibungspflichtiger Arzneimittel in das Vergütungs- und Sachleistungssystem der GKV.

Ein darüber hinausgehender Regulierungsbedarf leitet sich daraus ab, dass die Institution einer flächendeckenden Apothekenversorgung den Kriterien eines öffentlichen Guts entspricht. Öffentliche Güter werden in einem marktwirtschaftlichen System nicht bereitgestellt, da sie von privater Seite nicht finanziert werden. Sind sie gleichwohl gesellschaftlich gewünscht („meritorische Güter“), so muss ihre Bereitstellung staatlich organisiert werden. Es ist in diesen Fällen nicht nur aus wettbewerbspolitischer Sicht, sondern auch aus wohlfahrtsökonomischer Sicht notwendig, in den Markt und den freien Wettbewerb einzugreifen.

Dr. Christian Rotta, Geschäftsführer des Deutschen Apotheker Verlags: „Nach Auffassung des EuGH ist vonseiten der Apotheker bislang nicht hinreichend belegt worden, dass mit einer Aufhebung der Rx-Preisbindung für ausländische Arzneimittelversender weitreichende negative Folgen für das bestehende Apothekennetz und die flächendeckende Arzneimittelversorgung in Deutschland verbunden sind. Mit dem Gutachten schließen wir diese ‚Lücke im Tatsächlichen‘. Anhand von vier Szenarien zeigen May/Bauer/Dettling, dass ein Rx-Versandhandelsverbot in Deutschland nicht nur verfassungs- und europarechtskonform ist, sondern unter wettbewerbsökonomischen Gesichtspunkten auch effizient und kosteneffektiv.“

Eine für die Versorgung gleichwertige Alternative zum gegebenen Apothekenwesen ist nicht verfügbar, so dass die Effizienz des bestehenden Systems in dem Sinne gegeben ist, dass die gegenwärtige Versorgungsqualität nicht auf eine per se kostengünstigere Weise bereitgestellt werden kann. Der Unterhalt eines Mischsystems, bei dem eine flächendeckende Apothekenversorgung mit einem Versandsystem kombiniert wird, mindert die Wirtschaftlichkeit und Kosteneffektivität gegenüber einem rein auf Vor-Ort-Apotheken beruhenden System. Die Finanzierungslücke, die im Apothekensystem durch den Versand entsteht, muss in diesem Fall durch eine insgesamt teurere direkte Subventionierung des Apothekensystems oder mittels eines insgesamt teureren Honorarzuschlags finanziert werden.

Die ökonomische Rationale einer Preisbindung bei Arzneimitteln beruht zunächst darauf, dass es aufgrund der Markt­unvollkommenheiten und Informationsasymmetrien eine individuelle Zahlungsbereitschaft für pharmazeutische Dienstleistungen gibt, die unterhalb des sozialen Werts dieser Leistungen liegt. Im Ergebnis führt so ein freier Wettbewerb zu Preisen, mit denen die sozial und gesundheitspolitisch gewünschten Leistungen durch Apotheken nicht kostendeckend angeboten werden können. Die Preisbindung stellt hier eine (vergleichsweise marktnahe) Alternative zu einem subventionierten oder staatlich bereitgestellten Angebot dar.

Vorstellung des Gutachtens auf der Interpharm

Das Gutachten „Wettbewerbsökonomische und gesundheitspolitische Begründetheit eines Versandverbots verschreibungspflichtiger Arzneimittel“ von Professor Dr. Uwe May, Cosima Bauer und Dr. Heinz-Uwe Dettling wird am Samstag, dem 1. April 2017 um 13.15 Uhr auch Thema auf der Interpharm in Bonn sein. „Keine Alternative zum Rx-Versandhandelsverbot! Wie geht es weiter?“ lautet der Titel der Veranstaltung, bei der Vorstands­vorsitzende der Noweda, Dr. Michael P. Kuck, und der Geschäftsführer des Deutschen Apotheker Verlags, Dr. Christian Rotta, das Gutachten zusammen mit den Autoren vorstellen werden.

Das Verbot des Versandhandels ist daher infolge des Urteils des EuGH wohlfahrtsökonomisch notwendig und begründet, um die bestehende effiziente Preisbindung zu erhalten. Die (ökonomische) Verhältnismäßigkeit des Markteingriffs ist vor dem Hintergrund des hohen Gemeinwohlinteresses und einer fehlenden gleichwertigen Regulierungsalternative zu bejahen. Die Umsetzung ist verhältnismäßig einfach und regulierungsökonomisch effizient, da der Aufwand für Überwachungs- und Sanktionsmaßnahmen gering ist und eine gesetzgeberische Interventionsspirale im Hinblick auf die Korrektur unerwünschter Marktentwicklungen, wie z. B. Apothekenschließungen in ländlichen Räumen oder eine nachlassende Arzneimittelsicherheit, vermieden wird.

Der minimale Verlust an Wohlfahrt, der durch ein Rx-Versandverbot bei einem sehr kleinen Kreis an Nutzern entsteht, ist gegenüber den großen Nachteilen abzuwägen, die bei vielen Menschen aus Einschränkungen der lokalen Apothekenversorgung resultieren. Die Versorgung immobiler Patienten kann durch die schon jetzt geleisteten Botendienste der Vor-Ort-Apotheken besser und schneller sichergestellt werden als durch die Versandapotheken, bei denen die Versorgung mit Rx-Arzneimitteln naturgemäß mehrere Tage in Anspruch nimmt. Zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung auf dem Land bedarf es daher des Versandes nicht.

Gesundheitsökonomischer Ausblick

Perspektivisch ist es aus gesundheitsökonomischer Sicht angeraten, den niederschwelligen Versorgungszugang in den Apotheken noch breiter und intensiver zu nutzen, um den Effizienzgrad der Arzneimitteltherapie zu steigern und die Apotheken verstärkt zur Entlastung des ambulanten Versorgungssystems zu nutzen. Eine Gefährdung der flächendeckenden Apothekenversorgung durch den Versandhandel und die Aufhebung der Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel würde diesem zukunftsorientierten Bestreben zuwiderlaufen. |

Autoren

Prof. Dr. Uwe May ist Inhaber einer Professur für Gesundheitsökonomie mit Schwerpunkt Pharmakoökonomie an der Hochschule Fresenius, Mitbegründer der Unternehmensberatung May und Bauer – Konzepte im Gesundheitsmarkt, langjähriger Lehrbeauftragter im Studiengang Consumer Health Care der Charité-Universitätsmedizin Berlin sowie im Masterstudiengang International Pharmaco­economics der Cardiff University. Seine Schwerpunkte sind Gesundheits- und Pharmakoökonomie, Kosten- und Nutzenbewertung sowie konzeptionelle und strategische Fragen des OTC-Marktes.

Cosima Bauer, M.A. ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist Mitbegründerin der Unternehmensberatung May und Bauer – Konzepte im Gesundheitsmarkt und gibt als Lehrbeauftragte an der Hochschule Fresenius und im Studiengang Consumer Health Care der Charité Universitätsmedizin ihre praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen weiter. Ihre Schwerpunkte sind Gesundheits- und Pharmapolitik, sozialrechtliche Marktregulierung sowie strategische Fragen des Marktzugangs in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung.

Dr. Heinz-Uwe Dettling ist Gründungspartner der Kanzlei Oppenländer Rechtsanwälte, Stuttgart, und liest als Lehrbeauftragter der Universität Hohenheim zum „Gesundheitswirtschaftsrecht“. Er ist Mitglied des Rechtsausschusses des BAH, Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Gesundheitsrecht und hat u. a. Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum Impfstoffversand an Ärzte und vor dem Europäischen Gerichtshof zum Fremdbesitzverbot bei Apotheken geführt.

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