Imcivree®

Setmelanotid

01.06.2022


Melanocortin-4-Rezeptor-Agonist
Erwachsene und Kinder ab sechs Jahren mit Adipositas und unkontrolliertem Hungergefühl können nun mit dem Melanocortin-4(MC4)-Rezeptor-Agonisten Setmelanotid (Imcivree®) behandelt werden. Die Therapie kommt für Personen mit genetisch bedingtem, biallelischem Proopiomelanocortin- oder Leptinrezeptor-Mangel infrage.

Setmelanotid 

ATC-Code

A: Alimentäres System und Stoffwechsel


A08: Antiadiposita, exkl. Diätetika


A08A: Antiadiposita, exkl. Diätetika


A08AA: Zentral wirkende Antiadiposita


A08AA12: Setmelanotid


Wirkungsmechanismus

Das Proteohormon Leptin, das vorwiegend von Fettzellen und Enterozyten im Dünndarm gebildet wird, stimuliert über Leptin-Rezeptoren (LEPR) zentrale Proopiomelanocortin(POMC)-Neuronen. Aus POMC werden unter anderem das adrenocorticotrope Hormon (ACTH, Corticotropin) und das Melanozyten-stimulierende Hormon (MSH, Melanotropin) gebildet. Bei Patienten mit genetisch bedingten, homozygoten Funktionsverlust-Mutationen der Proteine POMC oder LEPR findet daher keine Produktion an Glucocorticoiden, teilweise auch von Mineralocorticoiden und Sexualhormonen, statt. Fehlt das Melanozyten-stimulierende Hormon, unterbleibt zudem die Stimulation der zugehörigen Melanocortin-Rezeptoren 1, 2 und 4 (MC1, MC2 und MC4), wobei Melanotropin an MC1-Rezeptoren die Melanin-Produktion in Melanozyten und an MC4-Rezeptoren das Sättigungsgefühl auslöst und zudem den Energieumsatz steuert. Patienten mit POMC- oder LEPR-Mangel sind daher sehr hellhäutig und rothaarig. Sie leiden unter Hypocortisolismus und durch das fortwährend starke Hungergefühl an Adipositas. Bei Patienten mit Proopiomelanocortin-Mangel treten erste Symptome bereits im Neugeborenenalter auf, bei fehlendem Leptin-Rezeptor setzen Hyperphagie (unkontrollierter Hunger) und Adipositas etwas später im Säuglingsalter ein. Mit Setmelanotid ist nun erstmals ein kausales Therapeutikum für Menschen mit Adipositas-Formen aufgrund einer unzureichenden Aktivierung des MC4-Rezeptors verfügbar. Das Peptidanalogon des natürlich vorkommenden α-Melanozyten-stimulierenden Hormons wirkt als selektiver Agonist am Melanocortin-4-Rezeptor und kann somit die Aktivität des MC4-Rezeptor-Signalwegs wiederherstellen. Als Folge werden das Hungergefühl reduziert und der Energieumsatz erhöht, sodass bei den meisten Patienten eine klinisch relevante Gewichtsabnahme herbeigeführt wird. Durch seine geringe agonistische Wirkung am MC1-Rezeptor, der auf Melanozyten exprimiert wird, führt Setmelanotid, unabhängig von UV-Bestrahlung, zu einer Akkumulation von Melanin. Damit kommt es bei den Behandelten zu einer erhöhten Hautpigmentierung, während die Haare von Rot in einen Braunton übergehen.

Pharmakokinetik

Resorption: Nach subkutaner Injektion treten innerhalb von etwa acht Stunden maximale Plasmakonzentrationen auf. Die absolute Bioverfügbarkeit von Setmelanotid wurde beim Menschen noch nicht untersucht.


Proteinbindung, Verteilung: Die Plasmaproteinbindung beträgt etwa 79%, das Verteilungsvolumen liegt bei 49 Litern.


Metabolismus: Setmelanotid wird offenbar nicht in wesentlichem Ausmaß biotransformiert.


Exkretion: Etwa 39% der subkutanen Dosis erscheinen in unveränderter Form im Urin. Die Eliminationshalbwertszeit liegt bei elf Stunden.

Dosierung, Art und Dauer der Anwendung

Initial erhalten Erwachsene und Kinder von zwölf bis 17 Jahren einmal täglich 1 mg Setmelanotid. Die Anwendung erfolgt an wechselnden Stellen des Abdomens subkutan. Für eine optimale Dämpfung des Hungergefühls während des Tages empfiehlt sich eine morgendliche Applikation, unabhängig von der Nahrungsaufnahme. Bei anhaltend guter Verträglichkeit kann die Dosis nach zwei Wochen auf 2 mg erhöht werden. Bei Erwachsenen, die eine zusätzliche Gewichtsabnahme anstreben, ist eine weitere Steigerung auf 2,5 bis 3 mg möglich. Bei Patienten von zwölf bis 17 Jahren, bei denen mit einmal täglich 2 mg das Gewicht über der 90. Perzentile bleibt und eine zusätzliche Gewichtsabnahme gewünscht wird, kann ebenso vorgegangen werden. Kinder von sechs bis elf Jahren erhalten initial entsprechend einmal täglich 0,5 mg Setmelanotid. Bei Bedarf und guter Verträglichkeit ist in jeweils zweiwöchigen Abständen eine Steigerung auf 1 bzw. 2 mg möglich. Wenn bei diesen Patienten dennoch das Gewicht über der 90. Perzentile bleibt und eine zusätzliche Gewichtsabnahme gewünscht wird, kann eine Dosiserhöhung auf 2,5 mg erfolgen. Nach entsprechender Schulung ist die subkutane Applikation auch durch den Patienten selbst oder eine Betreuungsperson möglich. Das Ansprechen auf die Setmelanotid-Therapie sowie die Entwicklung von Wachstum und Reifung der teilweise noch sehr jungen Patienten müssen regelmäßig durch einen Arzt bewertet werden. Versäumte Anwendungen sollten nicht nachgeholt werden. Bei Patienten mit leichter Nierenfunktionsstörung ist eine Dosisreduktion empfohlen. Vom Setmelanotid-Einsatz bei mäßiggradiger bis schwerer Niereninsuffizienz wird abgeraten. Auch bei Leberfunktionsstörungen sollte die Anwendung wegen fehlender Erfahrungen unterbleiben. Sicherheit und Wirksamkeit von Setmelanotid bei der Behandlung von Kindern unter sechs Jahren wurden bisher noch nicht untersucht.

Kontraindikationen

Bei Überempfindlichkeit gegen Setmelanotid besteht eine Kontraindikation.

Unerwünschte Wirkungen

Während der Anwendung von Setmelanotid kommt es sehr häufig zu Hyperpigmentierungsstörungen, Reaktionen an der Injektionsstelle, Übelkeit und Kopfschmerzen. Häufig wird über Pruritus, Hautausschläge, trockene Haut, Erytheme, Hyperhidrose, Ermüdung, Asthenie, allgemeine Schmerzen, Schüttelfrost, Erbrechen, Diarrhö, Abdominalschmerzen, Mundtrockenheit, Dyspepsie, Obstipation, Flatulenz, weitere abdominale Beschwerden, Schwindelgefühle, spontane Peniserektionen, verstärkte Erektionen, Störungen der sexuellen Erregung, Depressionen, depressive Verstimmungen, Schlaflosigkeit, melanozytische Nävi, Rückenschmerzen, Myalgien, Muskelspasmen, Skleraverfärbungen und Vertigo berichtet.

Wechselwirkungen

Cytochrom-P450-Isoenzyme und Effluxpumpen sind nicht maßgeblich an der Clearance von Setmelanotid beteiligt. Daher wird die Wahrscheinlichkeit für Interaktionen als gering eingeschätzt. Aus diesem Grund wurde bislang auf die Durchführung von klinischen Studien zur Erfassung von Wechselwirkungen verzichtet.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen

Die Gewichtsabnahme und die Kontrolle des Hungergefühls können nur bei ununterbrochen fortlaufender Setmelanotid-Applikation aufrechterhalten werden. Anderenfalls kehren die Symptome der durch POMC- und LEPR-Mangel bedingten Adipositas zurück. Setmelanotid führt mitunter zu einer generalisierten erhöhten Hautpigmentierung sowie zur Verdunkelung bereits vorhandener Nävi. Umfassende Hautuntersuchungen sind daher vor und jährlich während der Therapie angeraten. Auch Herzfrequenz und Blutdruck müssen während der Anwendung des MC4-Rezeptor-Agonisten in mindestens sechsmonatigen Abständen kontrolliert werden. Während der Setmelanotid-Therapie wurden spontane Peniserektionen berichtet. Bei länger als vier Stunden andauernder Erektion muss ärztlicher Rat eingeholt werden, da gegebenenfalls eine Priapismus-Notfallbehandlung erforderlich ist, um dauerhafte Schädigungen des Penisgewebes zu vermeiden. Ebenso ist die Anwendung von Setmelanotid mit dem Auftreten von Depressionen assoziiert. Eine engmaschige Überwachung bei jedem Arzttermin ist daher angeraten. Im Fall von Suizidgedanken oder suizidalen Verhaltensweisen ist ein Absetzen der Setmelanotid-Therapie zu erwägen. Bei der Behandlung von Patienten mit Leber- oder Niereninsuffizienz und auch bei Schwangeren ist Vorsicht geboten, weil der im Präparat Imcivree® enthaltene Hilfsstoff Benzylalkohol im Organismus akkumuliert und eine metabolische Azidose auslösen könnte.

Schwangerschaft und Stillzeit

Zur Anwendung von Setmelanotid während der Schwangerschaft liegen keine Erfahrungen vor. Da jedoch eine Gewichtsabnahme den Fötus möglicherweise schädigt, sollte die Anwendung bei Schwangeren sowie bei Frauen mit Kinderwunsch unterbleiben. Lediglich Patientinnen, die mit Setmelanotid bereits ein stabiles Gewicht erreicht haben, können die Therapie, gegebenenfalls mit einer reduzierten Dosis, in der Schwangerschaft fortsetzen, sofern keine weitere Gewichtsreduktion erfolgt. Tierexperimentelle Studien ergaben keine Hinweise auf Reproduktionstoxizität oder Teratogenität. Bei trächtigen Kaninchen kam es zu einer verminderten Nahrungsaufnahme durch das Muttertier, was wiederum die embryofetale Entwicklung beeinträchtigte. Es ist nicht bekannt, ob Setmelanotid in die Muttermilch übergeht. Im Tierexperiment war dies der Fall. Sicherheitshalber sollte eine Entscheidung getroffen werden, ob auf das Stillen oder für diesen Zeitraum auf die Behandlung verzichtet werden soll.

Handelspräparat Imcivree® 

Hersteller

Rhythm Pharmaceuticals Netherlands B.V., Amsterdam

Einführungsdatum

01. Juni 2022

Zusammensetzung

10 mg Setmelanotid pro ml Injektionslösung

Sonstige Bestandteile

α-{2-[1,2-Distearoyl-sn-glycero(3)phosphooxy]ethylcarbamoyl}-ω-methoxypoly(oxyethylen)-2000-Natriumsalz (MPEG-2000-DSPE), Carmellose-Natrium (Ph.Eur.), Mannitol (Ph.Eur.) (E 421), Phenol, Benzylalkohol, Natriumedetat (Ph.Eur.), Wasser für Injektionszwecke

Packungsgrößen, Preise, PZN

1 Ampulle, 3381,10 Euro, PZN 17896383

Indikation

Adipositas-Behandlung zur Kontrolle des Hungergefühls im Zusammenhang mit genetisch bestätigtem, durch Funktionsverlustmutationen bedingtem biallelischem Proopiomelanocortin-(POMC-)Mangel (einschließlich PCSK1) oder biallelischem Leptinrezeptor(LEPR)-Mangel bei Erwachsenen und Kindern ab sechs Jahren

Dosierung

Für Erwachsene und Kinder von zwölf bis 17 Jahre liegt die Anfangsdosis bei einmal täglich 1 mg Setmelanotid über einen Zeitraum von zwei Wochen. Bei guter Verträglichkeit und Bedarf kann eine Erhöhung auf einmal täglich 2 bis 3 mg erfolgen. Kinder von sechs bis elf Jahre erhalten initial entsprechend 0,5 mg und als Erhaltungsdosis 1 bis 2,5 mg.

Kontraindikationen

Überempfindlichkeit gegen Setmelanotid

Unerwünschte Wirkungen

Die häufigsten Nebenwirkungen sind Hyperpigmentierungen (51%), Reaktionen an der Injektionsstelle (39%), Übelkeit (33%) und Kopfschmerzen (26%).

Wechselwirkungen

Es wurden keine Studien zur Erfassung von Wechselwirkungen durchgeführt.

Warnhinweise, Vorsichtsmaßnahme

Vor und jährlich während der Behandlung mit Setmelanotid sollten den gesamten Körper umfassende Hautuntersuchungen erfolgen, um bereits vorhandene und neue Pigmentläsionen der Haut zu überwachen. Herzfrequenz und Blutdruck müssen mindestens alle sechs Monate kontrolliert werden. In klinischen Prüfungen wurden bei mit Setmelanotid behandelten Patienten Depressionen berichtet.

Literatur

[1] Fachinformation zu Imcivree®, Stand Juni 2022


[2] Kühnen P, Wabitsch M, von Schnurbein J, Chirila C et al. Quality of life outcomes in two phase 3 trials of setmelanotide in patients with obesity due to LEPR or POMC deficiency. Orphanet J Rare Dis 2022;17(1):38, doi: 10.1186


[3] EPAR summary for the public. Imcivree® Setmelanotide. EMA/309991/2021; European Medicines Agency; www.ema.europe.eu

Copyright

©08/2-2022 Deutscher Apotheker Verlag, Neue Arzneimittel, Beilage der Deutschen Apotheker Zeitung

Datenstand

22/08/2

Apothekerin Dr. Monika Neubeck