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Missgebildet durch Schwangerschaftstest?
Mann klagt gegen Bayer Schering
Der Vorwurf schwerer Missbildungen durch das Medikament Duogynon kommt 30 Jahren nach einem eingestellten Verfahren erneut vor Gericht. Ein von Geburt an behinderter Mann verlangt in einer Musterklage von Bayer Schering Pharma Einsicht in sämtliche Unterlagen über das Hormonpräparat.
Der Mutter des Klägers war das Medikament 1975 als Schwangerschaftstest verabreicht worden – die heute üblichen Urintests gab es damals noch nicht. In Großbritannien durfte Duogynon zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zur Schwangerschaftserkennung benutzt werden, da kritische Studien veröffentlicht worden waren. Schering verkaufte es dort bereits seit 1970 nicht mehr zu diesem Zweck. Andere Studien konnten hingegen keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Einnahme des Hormonpräparates und Missbildungen finden.
Die Betroffenen sehen Parallelen zum Contergan-Skandal. Bayer Schering weist die Vorwürfe zurück. „Das Thema wurde in den 60er und 70er Jahren juristisch und wissenschaftlich ausgiebig und abschließend erörtert. Seitdem gibt es keine neuen Erkenntnisse“, sagte Bayer-Sprecher Oliver Renner. Es sei kein Zusammenhang zwischen Duogynon und Missbildungen bei Kindern festgestellt worden.
Das stellen der Kläger André Sommer und 200 weitere Betroffene infrage und verlangen nun in einem zweiten Anlauf Aufklärung. Auch weitere Dokumente aus Großbritannien sind aufgetaucht, wonach Schering Deutschland schon früh von britischen Kollegen über mögliche Missbildungsrisiken informiert wurde. Der Fall wird am Dienstag am Landgericht verhandelt.
In den 60er und 70er Jahren hatten viele Mütter, deren Kinder mit schweren Fehlbildungen wie Wasserkopf, offenem Bauch, offenem Rücken oder Missbildungen der inneren Organe und Extremitäten, geboren wurden, in der Frühschwangerschaft das Medikament genommen. Der Medizin-Fachanwalt Jörg Heynemann, der die Betroffenen und voran André Sommer vertritt, nennt die Zahl von rund 1000 Geschädigten, die allein in Deutschland leben. „Viele Frauen hatten auch Fehlgeburten, oder das behinderte Kind starb kurz nach der Geburt.“ Der Anwalt betont: „Behinderungen verjähren nicht. Mein Mandant ist vor fünf Jahren noch operiert worden.“ Beim gescheiterten ersten Verfahren gegen den Hersteller, das eine Interessengemeinschaft Ende der 70er Jahre anstrengte, sei die rechtliche Lage noch eine ganz andere gewesen, so Heynemann. Damals mussten die Patienten den Nachweis erbringen, dass der Schaden zweifellos durch das Medikament entstand. 2002 wurden die Rechte der Patienten durch das neue Arzneimittelgesetz gestärkt, das auch eine Reaktion auf die sich hinschleppenden Contergan-Verfahren war.
Sommer selbst sieht dem Gerichtstermin gelassen entgegen. Erst 2009, nachdem ein britisches mutmaßliches Duogynon-Opfer bei der Bayer Schering Hauptversammlung in Düsseldorf aufgetreten war und großes Medienecho fand, hat Sommer die Details über den Duogynon-Verdacht erfahren. Via Internet suchte er dann nach weiteren Betroffenen. „Ich habe mein Leben lang nach vorne geblickt. Jetzt kam das Thema nochmal hoch, und ich will es endlich abschließen. Wenn wir die Unterlagen einsehen und wir finden nichts, dann ist das für mich auch völlig in Ordnung. Ich möchte einfach Klarheit haben.“
Duogynon wurde als Dragee oder Injektion in den 60er und 70er Jahren sowohl als Schwangerschaftstest als auch zur Behandlung ausbleibender Monatsblutungen eingesetzt. Binnen einer Woche nach der Einnahme des Präparates, einer Kombination von Progesteron und Östradiol, wurde eine Blutung ausgelöst. Blieb diese aus, war eine Schwangerschaft wahrscheinlich. Bereits 1960 gab es erste Hinweise, dass Blutungen jedoch auch trotz bestehender Schwangerschaft eintreten können. In Deutschland wurde Duogynon bis in die späten 70er Schwangerschaftstest eingesetzt – zunächst als Dragee und später in veränderter chemischer Form als Injektion. Seit Anfang der 80er Jahre ist das Mittel auch in Deutschland nicht mehr auf dem Markt.
Berlin - 29.11.2010, 09:24 Uhr