Feuilleton

Charakterlehre: Melancholie - Laune, Typus, Symptom?

Im Widerstreit von sinnlicher Erfahrung, konstitutioneller Disposition und situativem Handeln lebt der Mensch seit Urzeiten zwischen Normen und der Überschreitung ihrer Grenzen. Demzufolge fällt auch das schillernde Phänomen Melancholie gleichermaßen in die Kultur- und in die Medizingeschichte.

Thema der Kunst und Literatur In allen Epochen und Bereichen der Kunst hat die Melancholie, dieses fast unbestimmbare Gefühl von Schwermut, Weltschmerz, Traurigkeit, In-sich-Versunkensein, existentieller Angst und grüblerischer Nachdenklichkeit, mehr oder minder ausdrucksstark ihren Niederschlag gefunden; denken wir nur an Tschaikowskis "Sérénade mélancolique", manche Volkslieder, Böcklins "Toteninsel", van Goghs "Bildnis des Doctor Gachet" oder zahlreiche Werke der Dichtkunst, stellvertretend sei Goethes "Werther" genannt. Der von vielen Poeten so geliebte Herbst läßt in den Strophen Kristalle der Melancholie wachsen. Treffende Beispiele sind die Zeilen: "Die Welt ein Tor zu tausend Wüsten stumm und kalt" in Friedrich Nietzsches Gedicht "Vereinsamt" und "...anfällt ein knöchern Grauen, wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden" in Georg Trakls Gedicht "Der Herbst des Einsamen". Mitunter wird der eigentlich nur den Menschen zukommende Begriff auch auf das Tier übertragen. So kann ein Hund "melancholisch" blicken, der französische Symbolist Guillaume Apollinaire nennt den Karpfen "poisson de melancolie". Die geradezu zum Typus erhobene Darstellung jenes seelischen Zustandes verkörpert Albrecht Dürers berühmter Kupferstich "Melancholie" von 1514, dessen Deutung zwischen den Extremen "Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt ausschließlich durch Maß und Zahl" (Richard Hamann) und "Apotheose des Schöpfertums trotz widriger Umstände" (Ernst Ullmann) schwankt. Melancholie galt in jener Zeit wie schon bei Aristoteles als Temperament der Gelehrten und Künstler, wie auch noch Schopenhauer in ihr eine Grundstimmung des Genies und das Kennzeichen eines edlen Charakters sah. Im Rahmen der astrologischen Bindung des Saturn an die Melancholie stand der gelehrte Arzt unter dem Einfluß dieses "melancholischen" Planeten.

Dyskrasie als Krankheitsursache Die medizinischen Anschauungen über die Melancholie wurzeln in der Humoralpathologie der hippokratischen Medizin mit der auf den vier Körpersäf- ten Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle (griech. melaina cholé) fußenden Lehre von den Temperamenten. Die "Schwarzgalligkeit" wurde in der Antike primär als körperliches Leiden aufgefaßt, wobei aber diese Dyskrasie (ungünstiges Mischungsverhältnis der Körpersäfte) von dem jeweiligen Seelenzustand beeinflußt wird: Ansätze zu einer psychosomatischen Betrachtungsweise. Bei Galen taucht der Begriff der hypochondrischen Melancholie, des Leidens an fiktiven körperlichen Gebrechen, auf. Aretaios von Kappadokien unterschied zwei Psychosen: Manie und Melancholie, wobei er letztere durch Traurigkeit und wahnhafte Ideenbesessenheit charakterisiert; der Übergang von dem einen Krankheitsbild zum anderen sei möglich. Therapeutisch wollte man im Altertum der Melancholie mit Alraunwurzel und Nieswurz, im Mittelalter mit Schlüsselblumen beikommen. Im 11. Jahrhundert wird im "Canon medicinae" des persischen Arztes Ibn Sina (Avicenna) unter den Geisteskrankheiten neben Manie, Hydrophobie und anderen auch die Melancholie als eigenständige Form aufgeführt. Constantinus Africanus übersetzte um 1080 für die medizinische Schule von Salerno unter dem Titel "De melancholia" eine arabische Abhandlung ins Lateinische, deren Aussagen bis ins 18. Jahrhundert konserviert wurden. Zwei Formen der Melancholie werden differenziert: eine im Gehirn zu lokalisierende Störung mit den Symptomen Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen u.a. sowie die Hypochondrie, die entstehen soll, indem die in der Milz abgesonderte schwarze Galle in den Magen gelangt und von dort als schwarzer Dunst über das Herz die Gehirnkammern erreicht, wodurch der Verstand verwirrt wird.

Heilmittel Zu kurieren war symptomatisch; an erster Stelle stand die Diätetik im weitesten Sinne, also die Kunst richtiger Lebensführung: Liebe, ausgewogene Ernährung, Bäder, Massagen, gute Gespräche, Musik, Wanderungen. Das hohe Mittelalter hatte sieben Mittel gegen die Melancholie parat: Freude, Weinen, mitmenschliche Anteilnahme, nüchterne Betrachtung der Wahrheit, Schlafen, Baden und Beten. In der medizinischen Anthropologie der Hildegard von Bingen wirkt der als Krankheit aufgefaßten "melancolia" die "viriditas", die lebenserhaltende "Grünkraft", entgegen. Französische Ärzte empfahlen im 16. Jahrhundert Licht, Luft, Frohsinn und leichte Diät, vor allem Äpfel. Der englische Universalgelehrte Robert Burton (1577-1640), Verfasser einer Essaysammlung "The Anatomy of Melancholy" (1621), sah in der Melancholie im Kern die Unzufriedenheit des Menschen mit der Welt. Wenn der Engländer Thomas Willis (1632- 1675) behauptet, daß Manie und Melancholie unmittelbar aufeinanderfolgen und "sich gegenseitig Platz machen wie die Flamme dem Rauch", blitzt schon eine Ahnung von dem später von Kraepelin als manisch-depressive Psychose bezeichneten Zustand auf, der bei dem französischen Psychiater Philippe Pinel (1745-1826) noch "bipolarer Wahnsinn" heißt. Überhaupt wurden Depression und Melancholie oft gleichgesetzt, wobei eine endogene Variante von einer reaktiven abgetrennt wurde.

Moderne Typenlehre Im 20. Jahrhundert definierte Ernst Kretschmer in seinem vielbeachteten Werk "Körperbau und Charakter" innerhalb des "cycloiden Temperamentes" einen "schwerblütigen Typus". Karl Jaspers erblickt im Wahnhaftwerden depressiver Zwangsideen das Charakteristikum der Melancholie. In seiner "Allgemeinen Psychopathologie" hebt er Angst und Suizidgefahr als dafür besonders typisch hervor. Oftmals äußern sich klimakterische Psychosen als melancholische Zustände. Die Melancholie-Forschung kulminierte in den Studien des Heidelberger Psychiaters Hubertus Tellenbach, der in der Monographie "Melancholie" 1961 den Typus melancholicus fixierte und ihm eine prämorbide Wesensstruktur zuordnete. Grundzüge dieses Typus seien prononcierte Ordentlichkeit, hoher Leistungsanspruch an sich selbst und exzessives Schulderleben. Unbeschadet der psychologischen und psychopathologischen Einordnung des Phänomens Melancholie läßt sich sagen, daß es nicht auf die Melancholiker beschränkt ist, sondern daß auch die Sanguiniker-, Choleriker- oder Phlegmatiker-Persönlichkeiten bei bestimmten äußeren und inneren Konstellationen von einem Hauch jener existentiellen Gestimmtheit angeweht werden können.

Dr. Dr. Roland Itterheim, Jena

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