Arzneimittel und Therapie

Teratogenität: Arzneimittel in der Schwangerschaft

Bis zur Contergan-Katastrophe hatte man jahrzehntelang angenommen, daß die Plazenta das Ungeborene wie eine Barriere vor den Nebenwirkungen von Arzneimitteln schützt. Tatsächlich können jedoch fast alle Stoffe durch die "Plazentaschranke" hindurchtreten.

Viele Mütter, die in der Schwangerschaft während der sensiblen Organbildungsphasen das Schlafmittel Thalidomid (Contergan®) eingenommen hatten, brachten Kinder mit schweren Gliedmaßendefekten und anderen Organschäden (z.B. an Herz und Nieren) zur Welt. Trotz der hohen Mißbildungsrate von 20 bis 30% und der charakteristischen Mißbildungsmuster war mehrere Jahre lang kein Verdacht auf Teratogenität aufgekommen.

Teratogenität Heute - 35 Jahre später - ist immer noch wenig über die Wirkungen von Arzneimitteln auf das Ungeborene bekannt. Für weniger als 30 Arzneistoffe ist nachgewiesen, daß sie teratogen wirken, also beim Embryo/Fetus zu strukturellen oder funktionalen Organstörungen führen. Ein teratogener Effekt kann sich nicht nur in Mißbildungen, sondern auch in Wachstumsverzögerung, Krebserkrankung oder Tod des Embryos/Fetus manifestieren.

Zu wenig Informationen Praktisch kein Arzneimittelhersteller testet seine Produkte vor der Markteinführung an Schwangeren. Daher wird in der Gebrauchsinfomation schon aus rechtlichen Gründen generell von einer Anwendung in der Schwangerschaft abgeraten. Dies ist aus zwei Gründen problematisch: § Viele Schwangerschaften (in den USA mindestens die Hälfte) sind ungeplant. Daher nehmen Hunderttausende von Frauen Arzneimittel ein, ohne zu wissen, daß sie schwanger sind. Viele fürchten später, daß die Medikamenteneinnahme zu Mißbildungen des Kindes geführt haben kann, und brechen aus diesem Grund die Schwangerschaft unnötigerweise ab. § Das Durchschnittsalter der Schwangeren steigt. In diesem Alter bestehen häufig chronische Erkrankungen, die auch während der Schwangerschaft weiter behandelt werden müssen. Daher ist es wichtig, die Wirkungen von Arzneimitteln auf den Fetus zu kennen.

Mißbildungsrisiko durch Arzneimittel überschätzt In einer Studie schätzten Frauen, die während der Schwangerschaft nicht teratogene Arzneimittel eingenommen hatten, das Mißbildungsrisiko auf 25%. Die spontane Mißbildungsrate in der Allgemeinbevölkerung liegt bei 1 bis 5%. Tatsächlich führen fast alle teratogenen Substanzen nur bei einer Minderheit der Feten zu Mißbildungen. Sehr wenige Substanzen, darunter Thalidomid und Isotretinoin, erhöhen das Mißbildungsrisiko auf das Doppelte oder mehr. Nicht nur Arzneimittel, sondern auch Erkrankungen der Schwangeren erhöhen das Risiko für den Fetus. Beispielsweise bringen Frauen mit Bluthochdruck oder Krebserkrankungen häufiger Kinder mit intrauteriner Wachstumsverzögerung zur Welt als gesunde Frauen. Diabetikerinnen und Epileptikerinnen haben ein erhöhtes Risiko für Kinder mit Mißbildungen. Zahlreiche Arzneistoffe, denen aufgrund von Tierversuchen oder Fallberichten zunächst eine teratogene Wirkung nachgesagt wurde, erwiesen sich später in großen Studien als sicher. Hierzu zählen so weit verbreitete Wirkstoffe wie Diazepam, orale Kontrazeptiva, Salicylate und Spermizide. In den USA nahm in den 50er und 60er Jahren ein Großteil der Frauen mit Schwangerschaftsübelkeit oder -erbrechen das Präparat Bendectin ein. Die Kombination aus dem Antihistaminikum Doxylamin und Pyridoxin wurde wegen zahlreicher Klagen auf Teratogenität 1982 vom Markt genommen. Da es daraufhin in den USA kein zugelassenes Arzneimittel gegen Schwangerschaftsübelkeit und -erbrechen mehr gab, stieg die Zahl der Krankenhausaufnahmen aufgrund von schwerer Schwangerschaftsübelkeit/-erbrechen auf das Doppelte. Der Verdacht auf Teratogenität wurde nicht bestätigt, und Doxylamin-Pyridoxin-Kombinationen sind in anderen Ländern weiterhin für diese Indikation zugelassen.

Woher stammen Teratogenitäts-Daten? Wie werden die Wirkungen neuer Arzneistoffe auf den Fetus festgestellt? Die ersten Hinweise stammen aus Tierversuchen zur Reproduktionstoxikologie, die der Hersteller vor der Zulassung durchführt. Trächtige Tiere erhalten während der sensiblen Organbildungsphasen verschiedene Dosen des Arzneistoffs. Die Neugeborenen werden mit dem Nachwuchs unbehandelter Tiere im Hinblick auf Mißbildungen verglichen. Die Contergan-Katastrophe führte zunächst zu der fälschlichen Annahme, daß sich die Teratogenität beim Menschen nicht durch Tierversuche vorhersagen läßt. Jedoch hat jeder Arzneistoff, dessen Teratogenität sich seitdem beim Menschen herausstellte, ausgenommen Misoprostol, auch bei Tieren teratogene Wirkungen gezeigt. Tierversuche haben bei mindestens einem Arzneistoff - Isotretinoin - eine Contergan®-ähnliche Katastrophe verhindert. Allerdings gilt umgekehrt: Nicht alle Arzneistoffe, die in hohen Dosen bei Tieren teratogen wirken (z.B. Mundspalten durch Benzodiazepine), wirken in normalen klinischen Dosen bei Menschen ebenfalls fruchtschädigend. Die nächsten Informationen zur Teratogenität stammen aus Fallberichten. Diese sind nur dann aussagekräftig, wenn es sich um ungewöhnliche Mißbildungen handelt oder der Arzneistoff nur von wenigen Frauen eingenommen wird. Mit epidemiologischen Studien versucht man dann herauszufinden, ob Frauen, die ein Arzneimittel während der Schwangerschaft eingenommen haben, gehäuft Kinder mit Mißbildungen haben oder ob Mütter von Kindern mit einer bestimmten Mißbildung ein Arzneimittel häufiger eingenommen haben als Mütter von gesunden Kindern. Problematisch ist allerdings bei retrospektiven Studien: § die fehlende Randomisierung § daß sich die Frauen - insbesondere die mit gesunden Kindern - nur zum Teil an die eingenommenen Medikamente erinnern. Hier hilft es, als Kontrollen Mütter von Kindern mit einer anderen Mißbildung zu wählen. Da die meisten Studien zum Mißbildungsrisiko sehr klein sind, versucht man, die Ergebnisse in Form von Metaanalysen zusammenzufassen. Dies gelingt nur dann ordnungsgemäß, wenn methodisch und qualitativ gleichwertige Studien erfaßt werden.

Warnung im Beipackzettel genügt nicht Bei nachgewiesener Teratogenität reicht der Hinweis im Beipackzettel allein nicht aus. Das zeigten die Erfahrungen mit Isotretinoin in den frühen 80er Jahren in Nordamerika. Damals wurden viele Kinder mit Retinoid-Embryopathie geboren. Dies lag zum einen daran, daß viele Schwangerschaften ungeplant waren und Verhütungsmethoden versagten, zum anderen wohl auch daran, daß Analphabetinnen die Warnung nicht kannten. Seit 1989 wird umfassender auf das Risiko hingewiesen: zusätzlich mit dem Symbol eines mißgebildeten Kindes und mit einer Einverständniserklärung der Patientin, daß sie zwei wirksame Verhütungsmethoden benutzt. Weitere Möglichkeiten, um ungeplante Schwangerschaften während einer teratogenen Behandlung zu verhindern, sind die Dreimonatsspritze mit Medroxyprogesteronacetat, die in Südamerika Leprapatientinnen vor einer Thalidomid-Verschreibung bekommen, und Hormon-Implantate, die die Empfängnis bis zu fünf Jahre lang wirksam verhüten.

Drei Grundprinzipien Drei Grundprinzipien sollten bei der Arzneimitteleinnahme in der Schwangerschaft eingehalten werden: § Ältere Arzneistoffe sind neuen vorzuziehen. Neue Arzneistoffe haben zwar mitunter spezifischere Wirkungen und weniger Nebenwirkungen, aber über das fetale Risiko ist meist wenig bekannt. § In der Schwangerschaft sollten, wenn möglich, die niedrigsten therapeutischen Dosen eingesetzt werden. Manche Frauen benötigen zum Ende der Schwangerschaft allerdings höhere Dosen mancher Arzneistoffe (z. B. Lithium, Digoxin, Phenytoin) aufgrund des gestiegenen Körpergewichts und der rascheren Clearance. § Schwangere sollten möglichst keine frei verkäuflichen Arzneimittel einnehmen. Falls doch, müssen sie sich sorgfältig beraten lassen. Beispielsweise kann ein nichtsteroidales Antirheumatikum gegen Ende der Schwangerschaft den Ductus arteriosus des Fetus verengen oder verschließen.

Informationsdienste im Internet Bei Teratogenitäts-Informationsdiensten kann man sich telefonisch oder per Internet zu Risiken beraten lassen. Zwei entsprechende Adressen im World Wide Web sind: § http://www.motherisk.org für das Motherisk Program im kanadischen Toronto § http://orpheus.ucsd.edu/ctis/ für die Organization of Teratology Information Services in den USA

Arzneistoffe mit nachgewiesener teratogener Wirkung beim Menschen: ACE-Hemmer Aminopterin* Anticholinergika Antidiabetika, orale Carbamazepin Cyclophosphamid Danazol und andere androgene Arzneistoffe Dietylstilbestrol* Lithium Methotrexat Misoprostol Nichtsteroidale Antirheumatika Paramethadion* Phenytoin Retinoide systemisch (Isotretinoin und Etretinat) Tetracycline Thalidomid Thyreostatika (Propylthiouracil, Thiamazol) Trimethadion* Valproinsäure Warfarin

Die Psyche beeinflussende Substanzen, die, in der späten Schwangerschaft eingenommen, beim Neugeborenen ein Entzugssyndrom auslösen können (Barbiturate, Opioide, Benzodiazepine) * Zur Zeit nicht klinisch eingesetzt

Literatur Koren, G., et al.: Drugs in pregnancy. New Engl. J. Med. 338, 1128-1137 (1998). Susanne Wasielewski, Münster

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