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Antiepileptika - bekannte und neue Strategien

Am 7. Juli 1998 hielt Prof. Dr. G. Dannhardt, Institut für Pharmazie der Universität Mainz, auf Einladung der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft in Kiel einen Vortrag zum Thema Antiepileptika. Darin referierte er über mögliche Ursachen und die Klassifizierung der Epilepsie sowie über prinzipiell mögliche Konzepte der Therapie. Neben den klassischen Antiepileptika waren Innovationen auf der Grundlage des gestörten Gleichgewichts zwischen inhibitorischer und exzitatorischer Neurotransmission Gegenstand des Vortrags.


Die ersten Publikationen zum Thema Fallsucht lassen sich auf Hippokrates zurückführen. Nach aktuellen Schätzungen leiden 0,4 bis 1% der Bevölkerung an Epilepsie, die damit die zweithäufigste neurologische Erkrankung ist. Obwohl die verfügbaren Antiepileptika als wirksam gelten, ist bei 15 bis 20% der Patienten keine ausreichende Anfallskontrolle möglich; damit ist ein nicht unerhebliches Risiko verbunden, bleibende Hirnschäden zu erleiden. Etwa jeder zehnte Status epilepticus, d.h. schwere Anfälle in schneller Abfolge, führt heute noch zum Tod. Durch die Entwicklung neuer Wirkstoffe wie Gabapentin, Vigabatrin, Lamotrigin sowie Topiramat und Fosphytoin konnte die therapeutische Breite und Verträglichkeit von Antiepileptika signifikant erhöht bzw. verbessert werden.

Ursachen und Klassifizierung der Epilepsie


Epileptische Anfälle beruhen auf einer gesteigerten Erregbarkeit zentraler, miteinander vernetzter Neuronengruppen, die sich im Anfall spontan synchron entladen. Als Ursachen der für die Spontanentladung verantwortlichen Instabilität des Membranpotentials werden

  • die Erhöhung der Konzentration exzitatorischer gegenüber inhibitorischen Neurotransmittern,
  • die Erniedrigung des Membranpotentials bei Elektrolytstörungen und
  • die Beeinträchtigung der Natrium/Kaliumpumpe durch Energiemangel


diskutiert. Die Einteilung der verschiedenen Epilepsieformen erfolgt nach Art des Anfalls oder dem EEG-Befund. Man unterscheidet:

  • Fokale (= lokal begrenzte) Anfälle; dazu gehören einfache (ohne Bewußtseinsstörung) und komplexe Anfälle (mit Bewußseinsstörung), aber auch sekundär generalisierte Anfälle.
  • Primär generalisierte Anfälle, mit oder ohne Krampf, mit typischen oder atypischen Absencen; myoklonische Anfälle, tonische, klonische und tonisch-klonische Anfälle (Grand mal).

Alte und neue Konzepte der Arzneitherapie


Die klassischen Antiepileptika sind oft mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Ihre therapeutische Breite ist gering, die Bioverfügbarkeit und Metabolisierung variieren interindividuell sehr stark. Ziele der Entwicklung neuer Wirkstoffe sind

  • die Erhöhung der Krampfschwelle, ohne die neuronale Normalfunktion einzuschränken,
  • ein möglichst geringes Nebenwirkungsspektrum,
  • eine hohe Wirksamkeit, die bei einer Langzeittherapie eine niedrige Dosierung ermöglicht,
  • möglichst wenig Nebenwirkungen sowie
  • eine gute Nachweisbarkeit im biologischen Material, die ein Drug-level-Monitoring ermöglicht.


Es gibt zwei grundsätzliche Konzepte, nach denen eine Therapie der Epilepsie möglich ist:

  • Stabilisierung des Membranpotentials von Nervenzellen durch Modifizierung der Eigenschaften der Ionenkanäle, die für Ruhe- und Aktionspotentiale verantwortlich sind.
  • Wiederherstellung des physiologischen Gleichgewichts zwischen inhibitorischen und exzitatorischen Neurotransmittern.


Die geringe therapeutische Breite der klassischen Antiepileptika, wie Carbamazepin, Phenytoin, Phenobarbital und Primidon macht eine Bestimmung der Plasmakonzentration dieser Substanzen und ihrer Metaboliten, die teilweise ebenfalls eine antiepileptische Potenz haben, notwendig.
Antiepileptika stammen aus sechs Stoffklassen:
-Barbiturate,
-Benzodiazepine,
-Harnstoffderivate,
-Sulfonamide,
-Imide,
-sonstige Antiepileptika.
In die letzte Gruppe gehören neuere Präparate wie GABA-Analoga und Topiramat, die gegenüber den klassischen Antiepileptika eine erheblich größere therapeutische Breite aufweisen.

Barbiturate und Desoxybarbiturate


Phenobarbital (Luminal(r), Lepinal(r))
Der Phenylring am C5-Atom der Barbiturate ist sowohl für die antiepileptische als auch für die hypnotische und narkotische Wirkung essentiell. Phenobarbital wird nur noch bei generalisierten Krämpfen und bei der Behandlung des ansonsten therapieresistenten Status epilepticus eingesetzt. In therapeutischen Dosen wirkt Phenobarbital durch Wechselwirkung mit den Barbiturat-Bindungsstellen des GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplexes und aktiviert so den Chloridkanal mit dem Korrelat einer Hyperpolarisation. In hohen Dosen erfolgt eine direkte Wirkung auf den Chloridkanal mit ausgeprägter ZNS-Depression.
Achtung: Phenobarbital induziert mikrosomale Enzyme und beschleunigt so den Abbau oxidativ metabolisierter Arzneistoffe. Bei gleichzeitiger Gabe von Valproinsäure steigt der Plasmaspiegel von Phenobarbital um etwa 40%.

Primidon (Liskantin(r), Mylepsinum(r))


Das Desoxybarbiturat Primidon ist ein Prodrug für Phenobarbital, da 5 bis 15% zu Phenobarbital metabolisiert werden. Es besitzt aber auch im unveränderten Zustand eine membranstabilisierenden Wirkung, was bei psychomotorischen Anfällen und Impulsiv-Petit-Mal-Anfällen gezeigt werden kann. Der andere Metabolit des Primidons, die Phenylethylmalonsäure, ist ebenfalls antiepileptisch wirksam.

Benzodiazepine


Analog Phenobarbital modulieren Benzodiazepine allosterisch den Chloridkanal. Durch den verstärkten Chlorideinstrom in die Zelle entsteht eine Hyperpolarisation mit Verminderung der Erregbarkeit der Zelle. Diese Effekte sind an die Anwesenheit von GABA gebunden, deren inhibitorische Eigenschaften durch Benzodiazepine verstärkt werden. Ferner blockieren sie schnelle Natriumkanäle und begrenzen die schnelle Spontanentladung von Neuronen. Benzodiazepine zeigen eine Toleranzentwicklung. Vorteil ist eine größere therapeutische Breite. Nitrazepam zeigt besonders bei epileptischen Episoden im Kindesalter gute Effekte. Clonazepam ist ein Mittel der Wahl bei Absencen und Petit mal. Die Toleranzentwicklung ist ausgeprägt.

Harnstoffderivate


Carbamazepin
(Tegretal(r), Timonil(r), Finlepsin(r))
Carbamazepin besitzt ein großes Wirkungsspektrum und breites Anwendungsgebiet, das von psychomotorischen Anfällen, Trigeminus-Neuralgien, Migräne bis zur diabetischen Neuropathie reicht. Ein besonderer Vorteil von Carbamazepin ist der stimmungsaufhellende Effekt, der bei der oft depressiven Symptomatik von Epileptikern durchaus erwünscht ist. Carbamazepin wirkt inaktivierend auf Na-Kanäle sowie auf die synaptische Transmission.
Die Metabolisierung des Carbamazepins erfolgt in erster Linie über die Bildung des 10,11-Epoxids, das vergleichbare Aktivität wie die Muttersubstanz zeigt. Die Umwandlung des Epoxids zum trans-Diol und Acridanabkömmling sowie die Hydroxylierung des Aromaten macht die Verbindung unwirksam.
Als Nebenwirkung hervorzuheben sind schwere allergische Hautreaktionen wie das Stevens-Johnson- oder Lyell-Syndrom. Wie auch viele andere Antiepileptika besitzt Carbamazepin einen photosensibilisierenden Effekt.

Phenytoin (Phenhydan(r), Zentropil(r), Epanutin(r))


Phenytoin ist ein Imidazolidindion und damit ein N-Acyl-Harnstoffderivat. Es ist Mittel der ersten Wahl bei Schlaf-Grand-Mal- und diffusen Grand-Mal-Anfällen sowie bei der Jackson-Epilepsie. Für den Effekt bei der Epilepsie-Therapie scheint die Blockade von Na-Kanälen entscheidend zu sein. Sedierende Wirkungen sind im Gegensatz zu Barbituraten nur gering ausgeprägt, teilweise wird über eine erregende Wirkung berichtet.
Achtung: Aufgrund der starken interindividuellen Schwankung bei der Metabolisierung von Phenytoin ist eine ständige Kontrolle des Plasmaspiegels bis zum Erreichen der optimalen therapeutischen Breite angezeigt.
Gingivahyperplasien und Osteoporose sowie die Osteopathia antiepileptica sind häufige Komplikationen bei der Therapie mit Phenytoin. Es besteht eine gute Korrelation zwischen Plasmakonzentration und klinischen Effekten.
Das Fosphytoin (Cerebyx(r)) stellt eine Weiterentwicklung des Phenytoins dar. Zugelassen ist es bisher in den USA und einigen europäischen Staaten.

Sulfonamide


Sulfonamide sind aufgrund der hohen notwendigen Dosierung und aufgrund besserer Alternativen nur Antiepileptika der zweiten Wahl. Acetazolamid und Sultiam werden bevorzugt in Verbindung mit Phenytoin, Phenobarbital oder Primidon bei Grand-Mal-Anfällen eingesetzt.

Acetazolamid (Diamox(r))


Acetazolamid ist ein Carboanhydratase-Inhibitor und steigert die renale Ausscheidung von Na+-, K+- und HCO-3-Ionen, verbunden mit einer Acidose im Blut. Durch Acetazolamid steigt der Kohlendioxidpartialdruck an; damit korreliert kurzfristig eine Verbesserung der Gehirndurchblutung. Zusätzlich beobachtet man einen Anstieg der GABA-Konzentration und eine Hemmung der Liquorproduktion.

Sultiam (Ospolot(r))


Sultiam ist ein schwacher Carboanhydratase-Hemmstoff. In Kombination mit anderen Antiepileptika wird es bei Grand-Mal-Anfällen eingesetzt. Die antiepileptische Wirkung wird unter anderem auf die Entstehung einer acidotischen Stoffwechsellage durch Sultiam zurückgeführt. Ataxie, Müdigkeit, Depressionen und Kopfschmerzen sind häufige Nebenwirkungen. Ferner wird eine teratogene Wirkung diskutiert.
Achtung: Sultiam blockiert die Hydroxylierung von Phenytoin und verstärkt damit dessen Wirkung.

Imide


Ethosuccinimid (Pyknolepsinum(r), Petnidan(r))
Ethosuccinimid, ein Ethyl-methyl-Bernsteinsäure-imid, wird bei pyknoleptischen Absencen erfolgreich eingesetzt. Im Gegensatz zu Harnstoff- und Barbitursäurederivaten wirkt Ethosuccinimid nicht auf Na-Kanäle oder GABA-Rezeptoren, sondern wahrscheinlich auf den Calciumeinstrom mit niedriger Schwelle in thalamische Neuronen. Neben allergischen Hautreaktionen stehen hypnotische Effekte als unerwünschte Wirkungen im Vordergrund.

Valproinsäure


Valproinsäure (Dipropylessigsäure, Convulex(r), Ergenyl(r)) wird vor allem bei Absencen mit gutem Erfolg eingesetzt und ist Mittel der ersten Wahl. Ferner findet sie Anwendung bei generalisierten Krämpfen. Da Valproinsäure die GABA-Konzentration im Gehirn erhöht, nimmt man an, daß sie die
Glutaminsäuredecarboxylase-Aktivität erhöht und die Aktivität der GABA-Transaminase und der Succinsemialdehyd-Dehydrogenase inhibiert. Eine Sonderstellung gegenüber Phenytoin und Barbituraten besitzt Valproinsäure, da sie die Aktivität der Cytochrom-Isoenzyme nicht erhöht und kaum in den Metabolismus anderer Medikamente eingreift.
Achtung: Unter einer Valproinsäuretherapie sind Leber- und Pankreasfunktionsstörungen sowie Blutbildveränderungen (Thrombozytopenie) häufig zu beobachten, so daß eine engmaschige Kontrolle entsprechender Laborparameter notwendig ist.

GABA-Analoga


Vigabatrin (Sabril(r))
Analog der Valproinsäure erhöht Vigabatrin die GABA-Konzentrationen im ZNS durch Blockade der GABA-Aminotransferase, die GABA in Glutamat und Bernsteinsäuresemialdehyd abbaut. Nur das S-Enantiomer des Vigabatrins ist aktiv.
Vigabatrin weist ein dem Carbamazepin vergleichbares Nebenwirkungsspektrum auf. Therapieabbrüche sind häufig notwendig.

Gabapentin (Neurontin(r))


Der für die antiepileptische Wirkung des Gabapentins verantwortliche Effekt ist nicht bekannt. 1993 wurde eine spezifische Bindungsstelle auf Neuronen beschieben. Zahlreichen Untersuchungen zufolge kann eine Beteiligung von Interaktionen mit GABA-, Monoamin-, Glycin- und cholinergen Rezeptoren sowie eine Wirkung über Na-Kanäle ausgeschlossen werden. Diskutiert wird eine Blockade von N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptoren durch Gabapentin. Zugelassen ist Gabapentin für eine Add-on-Therapie (Zusatzbehandlung) bei refraktärer Herdepilepsie mit oder ohne sekundäre Generalisierung. Bezüglich der Verträglichkeit des Gabapentins können noch keine genauen Angaben gemacht werden.

Lamotrigin (Lamictal(r))


Die Beobachtung, daß viele Antiepileptika Folsäuredefizite verursachten, erweckte Assoziationen, daß an der Wirkung der Antiepileptika Folsäuredefizite beteiligt sind. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich mit dem Diaminotriazinderivat Lamotrigin ein den als Chemotherapeutika eingesetzten Folsäureantagonisten ähnliches Antiepileptikum fand.
Lamotrigin ist bei etwa zwei Dritteln aller therapieresistenten Patienten wirksam. Es ist in Deutschland zur Add-on-Therapie fokaler Anfälle ohne sekundäre Generalisierung zugelassen. Lamotrigin verhindert durch Blockade spannungsabhängiger Na-Kanäle die ständig sich wiederholende Spontanentladung von Neuronen. Es unterbindet die durch Veratrin induzierte exzessive Glutamat-Freisetzung.
Bei den Nebenwirkungen stehen Verwirrtheit, Somnolenz, Kopfweh, Ataxie, allergische Hautreaktionen wie das Stevens-Johnson-Syndrom im Vordergrund. Vorteil ist, daß kaum signifikante Nebenwirkungen im Bereich des blutbildenden Systems auftreten.
Achtung: Bei Kombination mit Phenytoin, Phenobarbital oder Carbamazepin kommt es zu einer Induktion des Lamotrigin-Metabolismus.

Topiramat


Strukturähnlichkeiten des Topiramats (Topamax(r)/Topimax(r)) zu den Sulfonamiden und Carboanhydatase-Hemmern Sultiam und Acetazolamid sind unverkennbar. Topiramat wird zur Add-on- und zur Monotherapie eingesetzt. Als Wirkmechanismus wird eine Interaktion mit GABA-Rezeptoren und eine Inhibition derCarboanhydratase diskutiert. Topiramat blockiert spannungsabhängige Na-Kanäle. Unerwünschte Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Ataxie und Nervosität.
Achtung: Analog anderen Carboanhydratase-Inhibitoren besitzt Topiramat ein teratogenes Risiko.

Weitere Therapiemöglichkeiten


Abschließend sprach Professor Dannhardt über weitere Therapiemöglichkeiten.
Das adrenocorticotrope Hormon (ACTH) wurde seit Ende der fünfziger Jahre zur Behandlung von Blitz-Nick-Salaam-Krämpfen im Kindesalter angewendet, eine Erkrankung die oft mit fortschreitendem geistigem Verfall verbunden ist und charakterisiert ist durch blitzartiges Zusammenfahren des Körpers mit Nachvorneschleudern der Arme und Beine, Vorbeugen des Rumpfes und nickenden Kopfbewegungen. Die Effekte des ACTH sind denen des Nitrazepams vergleichbar: Reduzierung der Anfallfrequenz bei 50 bis 60% der Patienten um 75 bis 100%.
Das Hormon wird intramuskulär injiziert und die Dosis im Acht-Wochen-Zeitraum kontinuierlich reduziert. Nebenwirkungen sind Cushing-Syndrom, Leukozytose und Hypertension.
20% der Patienten bleiben bei Gabe von Antiepileptika therapierefraktär. Es bleiben in diesen Fällen chirurgische Eingriffe mit der Entfernung des epileptischen Focus, wobei nur in bestimmten Hirnregionen, wie Hirnrinde und Schläfenlappen, Eingriffe möglich sind.
Professor Dannhardt beendete seinen Vortrag, wie er ihn begonnen hatte, mit einem Hinweis auf Hippokrates und zitierte einen Text aus dem ersten Buch der Epidemien über das Gehirn. Jens Bielenberg, Itzehoe

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