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- DAZ 32/1998
- Compliance
Klinische Pharmazie
Compliance
Der Preis eines Arzneimittels steht in enger Beziehung zum Kosten-Nutzen-Verhältnis. Die indirekten Kosten, verursacht durch Diagnose, Verschreibung, Anwendung und Therapieüberwachung, sind oft wesentlich höher als der Preis des Produktes. Meist ist es auch nicht der Patient, der für dieses spezielle Konsumgut die vollen Kosten trägt. Krankenkassen, Versicherungen und auch der Staat beteiligen sich an der Finanzierung.
Allgemein wird angenommen, daß der Kranke oder die Betreuungsperson bei einer lebensbedrohlichen symptomatischen Störung die therapeutischen Anweisungen strikt einhalten. Bei Asthmapatienten wurde gezeigt, daß nur 50% ihre Arzneimittel nach Vorschrift anwenden. Bei symptomlosen Gesundheitsstörungen zur Verhinderung der Morbidität, z.B. bei der Behandlung mit Lipidsenkern oder Antihypertensiva, bleiben nur 30 bis 50% der Betroffenen dem Behandlungsschema treu.
Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen und der begrenzten finanziellen Mittel der öffentlichen Hand zeigt sich:
- Die Problematik der Arzneimittelcompliance wird von Gesundheitspolitikern und Fachleuten erkannt.
- Neue Meßmethoden zur Erfassung und Evaluation der Compliance werden entwickelt.
- Strukturelle Veränderungen im Gesundheitswesen, wie die Schaffung
von Gesundheitsnetzwerken oder von HMOs (Health Maintenance Organizations), aktualisieren den Themenkreis Compliance und treffen Maßnahmen für deren Verbesserung.
Definitionen
Einige Autoren bemerken, daß Compliance ein zu einseitiger Begriff sei: Der Fachmann verordnet, der Patient befolgt. Es werden Begriffe wie "adherence" vorgeschlagen, die eine gemeinsame Verantwortung von Patient und Verschreiber beinhalten und am besten mit "sich an die Vorgaben halten" übersetzt werden.
Neuere Entwicklungen auf dem Gebiete der Meßtechnik erlauben es, die Dimension Zeit zu integrieren:
Diese Definition kann auch auf Prozesse angewendet werden, die keine aktive Teilnahme des Patienten voraussetzen. Bei parenteraler Behandlung im stationären Bereich ist die Compliance nicht unter Kontrolle des Patienten, sondern hängt von allen ab, die von der Verschreibung bis zur Verabreichung Verantwortung tragen. Bei peroraler Behandlung hingegen wird der Patient in das Geschehen miteingebunden.
Compliance betrifft aber nicht nur die medikamentöse Behandlung, sondern auch andere Bereiche wie Protokollvorschriften bei klinischen Versuchen, Diät- oder Hygienevorschriften usw. Für die Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln bedeutet Compliance die Konformität mit den gesetzlichen Vorgaben wie Indikation, Anwendungsvorschriften und -einschränkungen. Hersteller, Arzt, Apotheker und Patienten sind also gefordert.
Non-Compliance
Häufigkeit, Faktoren und Formen
den Einnahmefrequenz, Polymedikation und eventuell Beschwerden wie Schwerhörigkeit oder Sehschwäche mitbestimmend sein.
Die Compliance stellt eine dynamische, bei jedem Patienten veränderbare Größe dar. Die Faktoren, die dazu beitragen, werden in vier Kategorien unterteilt:
- Offengebliebene Fragen des Patienten: Nicht eingestandene Angst vor unerwünschten Arzneimittelwirkungen.
- Kommunikationsprobleme zwischen Patient und Medizinalperson: Der Kranke hat den Arzt nicht verstanden, der Apotheker versieht das Arzneimittel mit einem Etikett, das der
Patient nicht lesen kann oder nicht versteht.
- Komplexität der Behandlung: Bei mehr als vier verschiedenen Arzneimitteln nimmt die Compliance ab. Arzneiform, Verpackung, Behandlungsdauer und tägliche Frequenz der Einnahme spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle.
- Das soziale Umfeld: Einsamkeit bei alten Personen oder Integrationsschwierigkeiten bei Jugendlichen und Fremdsprachigen.
Die Non-Compliance bei verordneten Arzneimitteln kann unterteilt werden:
- Das Rezept wird nicht eingelöst.
- Die eingenommene Dosis entspricht nicht der verschriebenen.
- Das Arzneimittel wird zu einem falschen Zeitpunkt konsumiert.
- Eine oder mehrere Dosen werden vergessen.
- Die Behandlung wird abgebrochen.
Über die Compliance-Verhältnisse im stationären Bereich ist wenig bekannt. Es darf bei per os verabreichten Arzneimitteln mit einer Compliance von 70%, bei anderen Verabreichungsformen mit ungefähr 90% gerechnet werden.
Auswirkungen
Die amerikanische Gesellschaft gibt jährlich rund 30 Milliarden Dollar für rezeptpflichtige Arzneimittel aus. Die Kosten der Non-Compliance werden auf das Dreifache dieses Betrages geschätzt: Im stationären Bereich kann man davon ausgehen, daß die Non-Compliance kostspielige Aufenthaltsverlängerungen und verspätete Wiedereintritte ins Berufsleben verursacht. Als weitere Auswirkung können falsche Arzneimitteleinnahme durch unbefugte Dritte sowie finanzielle und ökologische Aspekte durch weggeworfene Arzneimittel erwähnt werden.
Compliance im strukturellen Umfeld
In der ambulanten Behandlung gibt es drei Möglichkeiten:
- Der Patient befolgt eine vom Arzt verordnete Behandlung, die ihm der Apotheker aushändigt.
- Der Patient befolgt eine Behandlung, die ihm der Apotheker empfiehlt.
- Der Patient behandelt sich selbst mit Arzneimitteln im freien Verkauf.
In allen drei Situationen erhält der Patient Arzneimittel und einen Beipackzettel mit Informationen zum korrekten Gebrauch. Die Kommunikation beschränkt sich im ambulanten Bereich unter den Gesundheitsberufen oft auf das Rezept.
Im Gegensatz zur ambulanten wird bei stationärer Behandlung
- die Arzneimitteltherapie durch die direkten Kontakte innerhalb des Behandlungsteams erleichtert,
- die Fachinformation vorrangig berücksichtigt; der Patient bekommt wenig Einblick.
Wie überall gilt, daß die Schnittstellen zwischen den Bereichen entscheidend sind. Krankenhausintern müssen die medizinischen Anordnungen bei Stationswechsel koordiniert werden. Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus, d.h. an der Schnittstelle stationär/ambulant, ist das Rezept ein entscheidendes Element, um den Erfolg der Hospitalisation und der Therapie zu garantieren. Der Apotheker ist zugleich Verbindungsmann zwischen den Behandlungsbereichen und mögliche Anlaufstelle aller medikamentösen Behandlungen eines Patienten.
zt}Messung und Beurteilung
der Compliance
Man unterscheidet zwischen direkten und indirekten Methoden zur Compliance-Messung. Zu den direkten Verfahren zählt man die Messung der Konzentration von Arzneistoffen oder Markersubstanzen in Plasma und Urin.
Zu den indirekten Verfahren gehören alle anderen Methoden wie Patientenbefragung, Tablettenzählen, Kontrolle der Therapiewirkung, schriftliches oder elektronisches Festhalten von Daten. Die Verfahren unterscheiden sich durch ihre Sensitivität (Non-Compliance) und ihre Spezifität (Compliance) sowie durch ihre Eignung, verschiedene Aspekte wie Einnahme und Einnahmezeitpunkt zu messen.
Bei den direkten Methoden ist die Plasmakonzentrationsbestimmung Referenz. Sie ist invasiv und zuverlässig, aber auch teuer und aufwendig. Bei Arzneistoffen mit einer Halbwertszeit zwischen 4 und 12 Stunden gibt sie nur Aufschluß über die korrekte Einnahme der Arzneimittel in den Tagen vor der Blutentnahme. Diese sind meist von einer besseren Compliance gekennzeichnet. Niedrigdosierte Markersubstanzen mit langen Halbwertszeiten wie Phenobarbital erlauben Rückschlüsse auf längere Behandlungsperioden. Auch im Urin kann die Konzentration von Arzneistoffen oder Markersubstanzen gemessen und zur Compliance-Bestimmung herangezogen werden. Diese Verfahren lassen wenig Rückschlüsse auf den Einnahmezeitpunkt zu.
Zur Überwachung der Compliance in klinischen Versuchen werden für per os angewendete Produkte indirekte Methoden wie das Tablettenzählen (Pill-counting) eingesetzt. Im Vergleich mit Plasmakonzentrationsbestimmungen oder elektronischen Meßmethoden wurde allerdings festgestellt, daß die Compliance mit dem Pill-counting überschätzt wurde. Miniaturisierung und Verbilligung der Elektronik haben zu neuen Systemen der Compliance-Messung geführt. In klinischen Prüfungen verwendet man nun häufig das
Medication Event Monitoring System MEMS(r). Das System besteht aus einem Kunststoffbehälter mit im Verschluß eingebautem Mikroprozessor, der Datum und Öffnungszeit registriert. Die gesammelten Daten sind mit dem PC auswertbar. Es wurden mehrere Varianten entwickelt, beispielsweise mit Angaben über die Anzahl der Öffnungen pro Tag oder über die verstrichene Zeit seit der letzten Entnahme. Obwohl die elektronischen Tablettenbehälter leicht zu handhaben sind, ist eine genaue Validierung der Abläufe von der Instruktion des Patienten bis hin zur Interpretation der Resultate und dem Tablettenzählen unerläßlich. Andere Systeme zeichnen auf, wann die Tablette aus einem Blister entnommen wurde. Sie sind noch nicht serienreif. Für Tropfen oder Sprays wurden ebenfalls Apparate entwickelt.
Diese Hilfsmittel erfassen die Dynamik der Compliance und konzentrieren sich auf die häufigsten Formen der Non-Compliance, d.h. auf die Einnahme zu einem falschen Zeitpunkt oder auf das Auslassen einer Dosis. Im Gegensatz zu den Plasmakonzentrationsbestimmungen kann durch die indirekten Methoden die wirkliche Einnahme des Arzneimittels nicht bewiesen werden. Direkte und indirekte Verfahren ergänzen sich. Die indirekten Verfahren mit hochentwickelter, interaktiver Technologie und verbesserter Benutzerfreundlichkeit werden jedoch in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Das MEMS(r) und andere elektronische Verfahren wurden in erster Linie für klinische Studien der Phasen II und III entwickelt und führten zu genaueren therapeutischen Dosisempfehlungen. Wenn auch die EU-GCP-Richtlinien den Nachweis von Compliance-Messungen empfehlen, wird dieser von den Zulassungsbehörden noch nicht routinemäßig gefordert.
Die Anforderungen im ambulanten Bereich unterscheiden sich von denjenigen in klinischen Studien. Die Compliance soll nicht nur gemessen werden, sondern es gilt sie zu verbessern. So sollen Behälter handlich und preisgünstig sein, damit ein großes Kollektiv von diesen Verfahren profitieren kann.
Im stationären Bereich wurde die Compliance kaum untersucht. Das Unit-dose-System und die Patientenbeobachtung bei der Arzneimitteleinnahme sollen die Compliance garantieren. Viele Krankenhäuser in Europa arbeiten ohne das Unit-dose-System; die Arzneimitteleinnahme wird nicht routinemäßig überwacht. Bei einer ärztlich verordneten, intravenösen Verabreichung können zum Beispiel folgende Faktoren eine Non-Compliance zur Folge haben:
- Mißverständnis bei der Entgegennahme der Verordnung,
- Fehlerhafte Übertragung ins Patientendossier,
- Zubereitungsfehler,
- Ungeeignete Behältnisse,
- Falscher Injektionsort,
- Falsche Injektionsart,
- Irrtümliche Infusionsgeschwindigkeit,
- Dosierungsfehler,
- Falsches Applikationsintervall.
Es handelt sich einerseits um punktuelle Faktoren wie die Übertragung einer Verordnung, kontrollierbar durch Einsichtnahme in die Behandlungsunterlagen, andererseits um zeitabhängige Variablen wie den Beginn und die Dauer einer Infusion, die durch elektronische Geräte, z.B. Infusionspumpen, kontrollierbar sind.
Möglichkeiten zur Verbesserung
der Compliance
Klinische Studien
elektronischen Hilfsmitteln ausgerüstet werden.
In Phase-III-Studien sind Meßverfahren unumgänglich, sollten aber für den Patienten nicht belastend sein und das Non-Compliance-Risiko nicht auf Null herabsetzen. Die Ursachen des Fehlverhaltens sind festzustellen.
Ambulanter Bereich
Der Hersteller kann die Compliance auf den Ebenen Entwicklung und
Vertrieb beeinflussen. Von Bedeutung sind:
- Arzneiform: Kleine Tabletten oder Kapseln, angenehmes Aroma, einfache Anwendungsvorschriften und innovative Applikationssysteme sind Beispiele, wie ein Hersteller die Chancen für eine optimale Anwendung verbessern kann.
- Verpackung: Sie muß klar und eindeutig beschriftet (Primär- und Sekundärverpackung), kindersicher und zugleich leicht zu öffnen sein.
- Beipackzettel: Er sollte von verschiedenen Patiententypen getestet werden.
- Fachinformation: Sie erleichtert Verschreibung und Anwendung und enthält Hinweise, die eine Non-Compliance vermindern können.
Der Apotheker muß seine Mitarbeiter mit der Problematik vertraut machen. Nach der Kontrolle der Verordnung, auch mit Bezug auf frühere Rezepte, ist bei der Beratung des Patienten systematisches Vorgehen nötig:
- Arzneimittelnamen mit entsprechenden Indikationen erwähnen,
- Therapieschema erklären,
- Beipackzettel erklären und Etiketten mit notwendigen und lesbaren Informationen anfertigen,
- Abklären, ob der Patient die Informationen verstanden hat,
- Erreichbarkeit erwähnen.
In seinem Informationssystem legt der Apotheker ein Patientendossier mit allen relevanten Daten zur Medikation und mit Hinweisen zur Compliance an.
Weitere technische und organisatorische Hilfsmittel können eingesetzt werden (s. Kasten). Das Ziel ist eine interaktive Beratung, bei der der Patient lernt, Verantwortung mitzutragen. Außerdem ist eine Absprache mit dem verschreibenden Arzt und mit Familienmitgliedern von Vorteil.
Dem Patienten dient der Beipackzettel als Informationsquelle. Noch wichtiger ist die direkte Befragung von Arzt und Apotheker, denn jede noch so kleine Unsicherheit kann das Befolgen der Therapie erschweren.
Krankenhaus
Compliance-Förderung im Krankenhaus heißt Zusammenarbeit und gemeinsame Anstrengung aller an der medikamentösen Behandlung Beteiligten. Die Krankenhausapotheke muß daher, neben einer ausreichenden Versorgung, einer sicheren, wirksamen und ökonomischen Therapie zum Durchbruch verhelfen. Um dieses Ziel zu erreichen, muß ein regelmäßiger, interaktiver Erfahrungsaustausch mit dem Behandlungsteam und den Patienten möglich sein. In interdisziplinärer Zusammenarbeit können Medikationsirrtümer verhindert und die Compliance verbessert werden. Die Einführung eines Unit-dose-Systems, das Studium der Dokumente des Pflegepersonals, die pharmazeutische Beratung der Pflegeabteilungen, Fortbildung für Assistenzärzte und Krankenschwestern seien als Beispiele aufgeführt. Im Krankenhaus muß die Compliance beim Wechsel von einer Station auf eine andere durch genaue Vorschriften sichergestellt werden.
Die Entlassung des Patienten ist als letzte Etappe der stationären Behandlung anzusehen und bedarf einer sorgfältigen Planung. Der Apotheker kann die Entlassungsmedikation ausgewählten Patienten genau erklären. In Australien wurde der Begriff "Liaison pharmacist" vorgeschlagen. Er versucht, über Kontakte mit der öffentlichen Apotheke des Patienten die medikamentöse Behandlung beim Übergang vom stationären zum ambulanten Bereich sicherzustellen, ähnlich wie sich dies zwischen Klinik- und Hausarzt für Diagnose und weiteres Vorgehen längst eingebürgert hat. Das Entlassungsrezept ist für den öffentlichen Apotheker von Bedeutung, da er bis zur nächsten medizinischen Konsultation für den Patienten Ansprechpartner und Anlaufstelle ist.
Literatur bei den Verfassern.
Anschrift der Verfasser:
PD Dr. Jean-Philippe Reymond und Dr. Stefan Marty, Zentralinstitut der Walliser Spitäler, Apotheke, Postfach 510, CH-1951 Sitten
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