Arzneimittel und Therapie

Fibromyalgie: Ein verkanntes Leiden

Patienten, die über anscheinend unerklärliche Schmerzen in verschiedenen Körperregionen klagen, aber keine meßbaren Befunde zeigen, durchlaufen häufig eine lange "Patientenkarriere" in vielen Arztpraxen und erhalten dabei oft mindestens ebenso viele verschiedene Diagnosen. In vielen Fällen mag die Krankheit als Fibromyalgie richtig zu beschreiben sein.

Als Fibromyalgie wird ein Symptomenkomplex bezeichnet, dessen Ätiologie und Pathogenese ungeklärt sind. Die derzeit gebräuchlichste Definition geht von einer generalisierten Schmerzsymptomatik in typischen Körperregionen aus. Dabei sollen an mindestens 11 von 18 genau definierten "tender points" druckabhängige Schmerzen auftreten. Umstritten ist, wie genau die Lokalisation einzuhalten ist und ob der Druck auf bestimmte Kontrollpunkte schmerzfrei bleiben muß. Dabei ist die Fibromyalgie eine Ausschlußdiagnose, d. h. andere denkbare Schmerzursachen (z. B. rheumatoide Arthritis) müssen ausgeschlossen sein. Röntgenologische und labordiagnostische Befunde sind unauffällig, doch darf das Fehlen klassischer Meßgrößen kein Anlaß sein, die Existenz der Krankheit zu negieren.


Viele Symptome als Folge der Schmerzen?
Die Fibromyalgie tritt bevorzugt bei Frauen zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr auf. Die Prävalenz in der Gesamtbevölkerung aller Altersstufen und beider Geschlechter wird aufgrund neuerer Untersuchungen für Industrieländer mit etwa 3% angegeben, so daß der Krankheit eine große volkswirtschaftliche Bedeutung zukommt, zumal sie häufig zu Frühverrentungen führt. Die Symptomatik beginnt meist als Schmerz an einem einzelnen Punkt, oft als Rückenschmerz im Zusammenhang mit ungünstiger Sitzposition oder Nackensteifigkeit. Bis zur vollen Entwicklung des Krankheitsbildes vergehen durchschnittlich etwa 7 Jahre. Zu den typischen Begleiterscheinungen gehören vielfältige funktionelle Störungen, wie z. B. Schlafstörungen, Müdigkeit, Orthostasereaktionen, Atembeschwerden und kalte Akren. Besonders häufig sind gastrointestinale Begleitbeschwerden. Bei bis zu 50% der Patienten tritt ein irritables Kolon auf. Doch können diese Symptome teilweise auch als Folgen der jahrelang durchgemachten Schmerzen erklärt werden. In Untersuchungen wurden bei etwa 75% der Fibromyalgie-Patienten Persönlichkeitsstörungen festgestellt, wobei eine ängstliche Persönlichkeit dominiert. Häufig streben die Betroffenen nach Perfektionismus und sind extrem von der Anerkennung ihrer Umwelt abhängig. Sie erzeugen damit einen Leistungsdruck, dem sie nicht gerecht werden, was ihre psychische Situation weiter verschlechtert. Möglicherweise prädisponieren erbliche Faktoren für die Entwicklung einer Fibromyalgie.


Diagnose und Differentialdiagnose
Aufgrund der diffusen Symptomatik und der Verknüpfung mit psychischen Faktoren sprechen manche Kritiker der Fibromyalgie einen eigenständigen Krankheitswert ab. Dem ist insbesondere die herausragende Bedeutung der "tender points" entgegenzuhalten. Gezielter Druck auf diese Punkte löst bei Betroffenen einen charakteristischen Schmerz aus, der tagelang anhält. Andererseits gibt es Patienten mit generell erniedrigter Schmerzschwelle, bei denen die "tender points" kaum empfindlicher als andere Körperpartien sind. Bei diesen Patienten scheinen psychische Begleitsymptome zu dominieren. Durch die Messung des Druckes läßt sich die Schwelle für die Schmerzauslösung objektivieren.

Bei der Differentialdiagnose zu anderen Schmerzursachen ist zu beachten, daß sich die Fibromyalgie auch als Folge verschiedener Erkrankung entwickeln kann. Dies tritt vergleichsweise selten bei rheumatoider Arthritis und häufiger bei Lupus erythematodes auf, ist aber auch als Folge von Tumoren oder Infektionen, insbesondere bei Borreliose möglich. Doch kann sich die Fibromyalgie auch nach erfolgreicher Behandlung der zugrundeliegenden Erkrankung selbständig weiterentwickeln. Besonders interessant erscheint, daß die Krankheit auch im Zusammenhang mit hormonellen Störungen auftritt, die Einfluß auf den Calciumhaushalt haben. Angesichts der zentralen Rolle des Calciums in der Muskulatur könnte die Störung des Calciumhaushalts eine Ursache der Fibromyalgie sein.


Viele Therapieansätze
Doch bietet keine der Spekulationen über die Ursachen der Fibromyalgie bisher einen Ansatz für eine kausale Therapie. Ziel der Therapie sollte daher sein, Veränderungen im ZNS infolge des dauernden Schmerzreizes zu verhindern. Bereits kleine Schmerzreize lösen durch Genexpression Veränderungen an den Nervenendigungen aus, z. B. werden vermehrt Rezeptoren oder Ionenkanäle in Membranen gebildet oder Transmittersubstanzen ausgeschüttet. Bei dieser primären Hyperalgesie werden die empfindlichen Felder auf der Haut vergrößert. Weitere Schmerzreize mit einem ständigen "Beschuß" der Neuronen lösen eine sekundäre Hyperalgesie im ZNS aus. Um dies zu vermeiden und zu verhindern, daß sich ein "Schmerzgedächtnis" ausprägt, sollte die Schmerzempfindung dauerhaft und rechtzeitig an der Peripherie behandelt werden. Hierzu werden physikalische Verfahren wie Bindegewebsmassagen und Wassergymnastik eingesetzt. Im Rahmen der Pharmakotherapie bilden Myotonolytika die erste Wahl. Tetrazepam gilt als wirksam, aber wegen der Abhängigkeitsgefahr und der Nebenwirkungen auch als problematisch. Geeigneter erscheinen lidocainartig wirkende Muskelrelaxantien wie Tolperison, das nicht zu Müdigkeit führt und als gut verträglich gilt. Da etliche Fibromyalgie-Patienten Symptome einer Depression zeigen, werden auch Antidepressiva wie Maprotilin eingesetzt. Die Dosis liegt dabei erheblich unter der Dosierung bei Depressionen, doch sind die Erfolge nicht überzeugend. Außerdem kommen topisch Lokalanästhetika zum Einsatz. Erst an letzter Stelle ist an die Medikation mit Analgetika, insbesondere Opioiden zu denken. Nichtsteroidale Antirheumatika sollen allenfalls kurzzeitig eingesetzt werden, in der Langzeittherapie sind sie kontraindiziert. Auch systemische Glucocorticoide sind kontraindiziert, weshalb der Differentialdiagnose zu entzündlichen Erkrankungen große Bedeutung zukommt. Neben den Schmerzen sind die vegetativen Begleitsymptome zu behandeln. Zu den weiteren therapeutischen Ansätzen gehören die Akupunktur und die Psychotherapie. Ein moderates Fitnesstraining verbessert oft die Symptomatik. Eine zentrale Rolle in der Therapie spielt die Patientenschulung, bei der besonders die Interaktionen innerhalb der Gruppe als wichtig gelten. Die wichtigste Voraussetzung für jede Therapie ist aber, daß der Arzt die Schmerzen der Patienten glaubhaft anerkennt.



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