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Toxikologie: Blei in den Knochen

Früher war die Welt noch in Odnung. Die Umwelt verschmutzen nur die rücksichtslosen Menschen der Gegenwart. - Diese Vorstellung ist falsch. Das zeigt z. B. die erschreckend hohe Belastung früherer Menschen mit Blei. Die Kontamination wurde aus vielen Quellen gespeist.

Die Bleibelastung der Menschen war in vergangenen Zeiten wesentlich höher als heute. Blei ist auf niedrigem Niveau ubiquitär. Doch die geochemischen Karten weisen Orte mit anomal hohen Konzentrationen des Bleis und anderer Schwermetalle aus, z. B. in Bergbaugebieten.

Ursache der Toxizität

An Knochen lässt sich die Belastung der Menschen mit Blei zuverlässig bestimmen. Der anorganische Anteil der Knochen besteht überwiegend aus dem Mineral Hydroxylapatit [Ca10(PO4)6(OH)2]. An der großen Oberfläche des Knochenminerals findet ein kontinuierlicher Stoffaustausch mit dem Blutplasma statt. Bei erhöhten Bleikonzentrationen im Blut wird das Calcium der Knochen sukzessive durch Blei ersetzt, da Bleiionen einen ähnlichen Radius wie Calciumionen haben. Das tertiäre Bleiphosphat passt besonders gut an die Stelle des Ca5 und wird an Fehlstellen des Apatit-Kristallgitters eingebaut.

Oral aufgenommenes Blei wird nur zu 8% resorbiert; bei Kindern kann der Wert wegen des schnelleren Stoffwechsels auf 50% steigen. Inhaliertes Blei gelangt über die Atemwege zu 90% in den Körper. Es verteilt sich zunächst auf Blut, Urin, Stuhl, Weichteile und Knochen. Fast das gesamte Blei, das nicht eliminiert wird, wird schließlich im Skelett festgelegt. Die Knochen sind das natürliche Endlager.

In den Knochen festgelegt, ist das Blei physiologisch unbedeutend; nur im Blut kann es seine verheerende Wirkung auf den Organismus ausüben. Aus dem Bleigehalt fossiler Knochen kann allerdings nicht direkt auf die Bleispiegel des Blutes zu Lebzeiten des Individuums geschlossen werden. Trotz ständiger Regeneration der Knochensubstanz scheint nur verhältnismäßig wenig Blei wieder daraus freigesetzt zu werden.

montani und silvani

Zur korrekten Analyse der Bleibelastung durch den Bergbau vergangener Zeiten sind Skelette von Menschen notwendig, die nachweislich in der Metallgewinnung und -verarbeitung gearbeitet hatten. Der Anthropologe Holger Schutkowski von der Universität Göttingen hat solch seltene Glücksfälle untersucht. Im Rammelsberg bei Goslar wurden seit dem 9. Jahrhundert in großem Maßstab Silber-Blei-Erze abgebaut, in Sulzburg im Schwarzwald ist der Silberbergbau seit dem 11. Jahrhundert urkundlich belegt. An beiden Orten wurden Friedhöfe gefunden, auf denen nachweislich Berg- und Hüttenleute und deren Familien begraben liegen.

Am Rammelsberg lebten die silvani - die in den Wald gehen zur Erzverhüttung - und in Sulzburg die montani - die in den Berg steigen zur Erzgewinnung. Da der Boden in Sulzburg immer noch stark mit Blei belastet ist, wurden bei den montani die Zähne analysiert, um Fehler aufgrund nachträglicher Kontamination der Knochen durch den Boden zu vermeiden.

Süßer Rauch

Schutkowski zeigte im Mai 1999 auf auf dem 3. Deutschen Archäologenkongress in Heidelberg, dass die Bleikonzentration mit steigendem Lebensalter der Toten zunahm, weshalb von einer kontinuierlichen Exposition auszugehen ist. Die montani atmeten unter Tage bleihaltige Stäube ein, während die silvani beim Ausschmelzen der bleihaltigen Erze vom gelblich-süßen Rauch geplagt wurden. Frauen waren durch den hoch belasteten Hausstaub und die Nahrungsaufnahme in diesem Umfeld ähnlichen Risiken ausgesetzt.

Das Vieh starb auf den Weiden

Starke Bleiexpositionen haben dramatische Folgen: Die Menschen leiden an Kachexie, Darmkoliken, Krämpfen und Lähmung, an Anämie und Enzephalopathie. Noch vor hundert Jahren fiel das Vieh auf den Weiden bis nach Hildesheim tot um, wenn das Harzflüsschen Innerste Hochwasser führte und die Weiden mit seiner Bleifracht überschwemmte. Kleinvieh zu halten war dort früher nicht möglich.

Auswirkung auf Grenzwerte

Doch Schutkowski ist nicht an den Sünden der Vergangenheit interessiert. Die aktuelle humanökologische Bedeutung der Befunde steht im Vordergrund seiner Untersuchungen. Denn der Mensch adaptiert sich mit der Zeit an verschiedene Belastungen. Der physiologische Nullpunkt (no-effect level), unterhalb dessen keine potenzielle oder tatsächliche Schädigung durch Blei mehr möglich ist, lässt sich nach Schutkowski nur durch den Vergleich rezenter und historischer Werte biologisch sinnvoll beurteilen. Dies hat dann Auswirkungen auf die Arbeits- und Umweltmedizin (z.B. Grenzwerte).

Technischer Fortschritt durch Blei

Blei wurde nicht nur durch den Bergbau, sondern auch sekundär durch bleihaltige Produkte freigesetzt. So setzten bleihaltige Glasuren keramischer Geschirre den Menschen zu, teilweise bis in die Gegenwart. Da die Öfen des ausgehenden Mittelalters die Schmelztemperatur des Quarzsandes, 1700°C, kaum erreichten, verwendeten die Glasmacher sogenannte Netzwerkwandler oder Flussmittel, die die Schmelztemperatur senken. Durch Zugabe von Soda (Natriumcarbonat), Pottasche (Kaliumcarbonat), Kalkstein (Calciumcarbonat) und anderen Stoffen konnte man die Schmelztemperatur um 600°C senken.

Zum Glasieren von Keramiken konnte man die Schmelztemperatur auf fast 700°C absenken, indem man dem Gemisch Bleiglätte (PbO) und Mennige (Pb3O4) hinzufügte. Diese Bleiglasur war technisch ein enormer Fortschritt, der allerdings durch die Bleikontamination der in die Gefäße eingefüllten Lebensmittel erkauft wurde.

Die Kehrseite: Koliken und toter Hund

Oliver Mecking vom Institut für anorganische Chemie der Universität Kiel referierte in Heidelberg über das Gefährdungspotential solcher Bleiglasuren und zitierte aus der Oekonomisch-Technologischen Encyclopaedie von Krünitz (1784): "Das Trinken des Apfel-Weines aus irdenen glasurten Geschirren, ist eine in einigen Grafschaften Englands herrschende sehr schädliche Gewohnheit." Krünitz beschrieb verschiedene Fälle der "Devonshirer Kolik", einer Bleivergiftung, und mahnte: "Die besten, und zur Verwahrung saurer und scharfer Nahrungs-Mittel tauglichsten Gefäße, sind die Stein-Töpfe, das Stein-Gut, und das ächte Porzellan."

Sein Hund fraß aus bleiglasierten Schüsseln und starb. Das veranlasste Ebell 1794 zu seiner Schrift: "Die Bleiglasur des Küchengeschirrs als eine erkannte Quelle vieler Krankheiten". Nach dieser und weiteren Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts muss mit hohen Bleiaufnahmen durch Bleiglasuren in der damaligen Bevölkerung gerechnet werden.

Mecking konnte diese Vermutung durch die Analyse historischer Scherben aus dem Raum Eberswalde in Brandenburg bestätigen. Die Bleiabgabe der Glasur an Getränke steigt in negativer Korrelation mit sinkendem pH-Wert der Flüssigkeit linear an - vom Bier über Wein zum Apfelsaft. Alle untersuchten Glasuren gaben mehr Blei ab als die heute für Tafel- und Küchengeschirr maximal zulässigen 0,8 mg/dm² - meistens um den Faktor 100, maximal um den Faktor 2500 mehr. Mit solchen Glasuren muss es zu akuten Vergiftungen gekommen sein. Vor allem gekochter Apfelsaft - im ausgehenden Mittelalter wurden Breie häufig mit Obstzusatz gekocht - zeigte ein deutlich höheres Risiko als Wein oder Bier.

Akute und chronische Vergiftungen

Bei 5 bis 10 mg/dl Blei im Blut sollen erste neuronale Schäden auftreten. Erste Symptome werden beim Erwachsenen bei 30 bis 40 mg/dl erkennbar. Bei Kleinkindern können bereits 10 mg/dl toxische Wirkung zeigen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, weniger als 3,5 mg Blei pro Woche aufzunehmen. Ein Viertel der untersuchten Scherben muss akute Vergiftungen der Benutzer hervorgerufen haben. Nach Meckings Berechnungen ist davon auszugehen, dass die Einführung der Bleiglasuren zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert außerdem zu großräumigen chronischen Belastungen der Bevölkerung geführt hat.

Goya, Beethoven, Heine

Das wachsende Wissen über Blei führt auch zur Neuinterpretation der Krankheiten historischer Persönlichkeiten. Berühmt ist Francisco de Goya (1746 bis 1828) für das gleißende Weiß in seinen Bildern, z.B. in "Die Erschießungen an der Montagna del Principe Pio". Dafür verwendete er Bleiweiß (basisches Bleicarbonat). Seine Halluzinationen und die daraus geborenen alptraumhaften Radierungen sollen ebenso Folge einer Bleivergiftung sein wie die Lähmung seiner rechten Hand.

Wacher Verstand und fortschreitende Lähmung - dieses Krankheitsbild von Heinrich Heine (1797-1856) soll, nach Meinung einiger Mediziner, auf einer schleichenden Bleivergiftung und nicht auf einem Leberleiden beruht haben. Und Ludwig van Beethoven (1770-1827), der die Donaufische so gerne aß, soll an deren hoher Bleibelastung gestorben sein.

Verhaltenstoxikologie

Das Ausmaß physischer Schäden durch Blei ist sehr gut dokumentiert. Es gibt jedoch keine quantifizierbaren Erkenntnisse über die psychischen und neurologischen Folgen einer Vergiftung. Monika Meyer-Baron vom Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund hat deshalb in einer Metaanalyse ein Dutzend Studien aus den letzten 20 Jahren ausgewertet, die die Wirkung des Bleis untersucht hatten. Sie konnte nachweisen, dass Blei bereits bei 40 mg/dl Blut mindestens das logische Gedächtnis und die visuell-räumliche Organisation deutlich einschränkt. Meyer-Baron hält auch Einschränkungen motorischer Leistungen, z.B. der Haupthand (Santa Ana), für möglich.

In den USA gehen Toxikologen nach Aussage Meckings davon aus, dass chronische Bleibelastung den durchschnittlichen IQ um 5 Punkte senkt. Da es dort noch viele Häuser gibt, die mit Bleiweiß - fast 10% Bleianteil - gestrichen sind, sollen vor allem verarmte Teile der hispanischen Bevölkerung solchen chronischen Belastungen noch heute ausgesetzt sein. Ähnliches gilt für die rund um das Mittelmeer noch heute hergestellten Geschirre mit Bleiglasur.

Mechanistisches Denken unpassend?

Viel Belastung macht viel Schaden - dieses mechanistische Denken lehnt Andreas Seeber aus Dortmund ab. Seiner Überzeugung nach war der Mensch zu allen Zeiten adaptions- und kompensationsfähig. So hat er ohne evolutive Anpassung gelernt, die Geschwindigkeiten heutiger Automobile zu meistern. Bei physiologischen Belastungen sei er ebenso anpassungs- und lernfähig. Deshalb könne eine Exposition gegenüber giftigen Substanzen nicht absolut bewertet werden.

Körperschäden lassen sich nach Meinung von Seeber in vielen Fällen nur zu etwa 5% mit der erhöhten Exposition gegenüber einem bestimmten Stoff erklären. Die Höhe des Schadens werde von vielen weiteren Faktoren, z.B. dem Bildungsgrad, der Hygiene oder der Ernährung, wesentlich beeinflusst.

Schicksalhaftes Blei

Ab dem 11. Jahrhundert kamen zu den genannten Kontaminationsquellen noch medizinische Bleipflaster hinzu. Auch die Herstellung von Bleikugeln erhöhte die Belastung stark. Bleiwasserleitungen und die Verwendung von Bleiweiß als Wandanstrich taten ein Übriges. Die Qualen der direkt exponierten silvani und montani müssen besonders furchtbar gewesen sein. Aber auch die Vorstellung, dass ein großer Teil der Bevölkerung wegen chronischer Bleivergiftung geistig stark eingeschränkt gewesen sein muss, ist zutiefst erschreckend.

Früher war die Welt noch in Odnung. Die Umwelt verschmutzen nur die rücksichtslosen Menschen der Gegenwart. - Diese Vorstellung ist falsch. Das zeigt z. B. die erschreckend hohe Belastung früherer Menschen mit Blei. Die Kontamination wurde aus vielen Quellen gespeist.

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