Kommentar

R. ZuckDas Bei-Pack - Vom zweifelhaften Wert der "Ge

Der Beipackzettel, wichtiger Bestandteil eines Fertigarzneimittels, gibt immer Anlass zu Kritik. Soll er einerseits dem Verbraucher "allgemeinverständlich" wichtige Informationen über sein Arzneimittel liefern, gerät er andererseits immer wieder zur Aufzählung aller erdenklichen Nebenwirkungen, wobei diese Aufzählung eher dem Schutz des Herstellers vor einem Regress dient als der Patienteninformation. Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Rüdiger Zuck greift diese Problematik in einem Kommentar auf, den die Neue Juristische Wochenschrift unlängst veröffentlichte. Wir fanden diesen Kommentar so lesenswert, dass wir die Nachdruckerlaubnis für die Deutsche Apotheker Zeitung einholten.

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, diese abfällige Klassen-Bemerkung kennt man. Natürlich gehört man nicht zum Pack. Bei-Pack gibt es dagegen als Bezeichnung überhaupt nicht. Es ist der gewaltsame Versuch, mit Hilfe eines Wortes die Nase zu rümpfen, nämlich über die den Arzneimitteln nach § 11 AMG beim Inverkehrbringen zwingend hinzugefügten Beipackzettel, juristisch "Packungsbeilage" genannt. Auch die meisten Gesunden kennen das Bei-Pack, wenn sie nämlich einen Fernseher haben.

In der Werbung, vor allem zwischen Seifenoper und Tagesschau, werden uns mancherlei Arzneimittel angepriesen, tauglich für die kleinen Hinfälligkeiten, die - je nach hypochondrischer Neigung - von uns in den Rang ernster Krankheiten erhoben werden, auf jeden Fall aber immer geeignet sind, das Lohnfortzahlungsgesetz in Gang zu bringen. In dieser Werbung heißt es, drohend wie eine Strafrechtsnorm und bedeutungsschwanger wie ein Grundrecht: "Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker."

Je nach Menge der Werbespots hören wir das wie ein Endlosband, in rasender Sprechgeschwindigkeit. Man hat das Gefühl, der Sprecher wolle mit der kürzesten Ansagezeit in das Guinness Buch der Rekorde, vor allem macht er mit der ganzen Lustlosigkeit, mit der dieser Text vorgetragen wird, deutlich, dass ihm nur Widerwillen zu Grunde liegt. Dazu besteht auch aller Anlass, denn was hier geschieht, ist die Ouvertüre zu einem Kapitel Verbraucheraufklärung, das man nur als Farce bezeichnen kann. Der Text beruht auf BPI/VFA-Wettbewerbsregeln. Er ist für die Verbandsmitglieder verbindlich. Seine Einhaltung ist mit den üblichen verbandsrechtlichen Mitteln erzwingbar.

Juristen sind von Haus aus keine Fachleute für die Notwendigkeiten und Möglichkeiten von Medien. So ist es nicht verwunderlich, dass diese Wettbewerbsregeln vorschreiben, den Text nicht nur zu zeigen, sondern auch zu sprechen, offenbar in der Annahme, Fernsehen sei ein Kommunikationsmittel für Blinde. Da für rezeptfreie Arzneimittel geworben wird (immerhin 34% des gesamten Arzneimittelmarktes, DAZ 18/1999), betrifft der Text in erster Linie den großen Bereich der Selbstmedikation. Der Hinweis auf den Arzt läuft hier leer, er ist auch fehl am Platz: Die nach wie vor überfüllten Arztpraxen sollte man von den Bagatellen freihalten. Schwer vorstellbar auch, dass jemand bei Hustensaft den Apotheker nach Risiken und Nebenwirkungen fragen wird.

Nun soll der Patient die Packungsbeilage lesen. Aber die fällt ihm doch bei jeder Verpackung eines Arzneimittels ohnehin als erstes in die Hand. Das Niveau dieses Hinweises entspricht deshalb der Information: "Wenn es Ihnen zu dunkel ist, betätigen Sie den Lichtschalter (und lesen Sie vorher die VDE-Richtlinien!)." Wer für diese einfachen Zusammenhänge zu dumm ist, für den kommt auch die Zusatzinformation zu spät. Er ist dann nämlich erst recht zu dumm, den Inhalt der Packungsbeilage zu deuten.

Mit dem Kern der Botschaft, dass Arzneimittel nicht helfen, sondern in erster Linie Risikofaktoren sind, und der unscharfen Logik (Nebenwirkungen sind nicht etwas anderes als Risiken, sondern eine besonders klassifizierte Risikogruppe) wollen wir uns an dieser Stelle nicht beschäftigen. Es wäre jedenfalls viel gewonnen, wenn man diesen selbstauferlegten teuren Unsinn (Werbesekunden in der prime time sind sehr teuer) rasch beenden würde.

Kommen wir zu unserem Bei-Pack selbst, gefahrenverliebter, gelegentlich sogar Tod verheißender Zwangsgeselle unserer jedenfalls psychisch Trost spendenden Arzneimittel. Stellen wir uns einen braven deutschen Bürger in einer der Übergangsjahreszeiten vor. Er hat eine fiebrige Erkältung mit Kopfschmerzen. Er kennt das schon, zum Arzt geht er damit nicht. Er trinkt heißen Tee mit Honig, zieht sich warm an und legt einen Schal um den Hals. Fieber, Husten und Kopfschmerzen nehmen trotzdem zu. Erst einmal etwas gegen das Fieber, sagt unser Bürger, es ist ja noch nicht so schlimm, da genügt etwas Einfaches, sagen wir "ilvico", das bewährte Mittel, der Bürger kennt es. Ihm ist langweilig, er liest das "Bei-Pack". Es besteht im wesentlichen aus "Gegenanzeigen" (wenigstens muss er über Schwangerschaft und Stillzeit nichts lesen, jedenfalls wenn er ein Mann ist), "Vorsichtsmaßnahmen und Warnhinweisen", negativ beeinflussenden "Wechselwirkungen" und einem langen Text über "Nebenwirkungen", alles dem Grunde nach durch europäisches Recht und § 11 AMG erzwungen.

Unser Patient sieht schon: Eigentlich will der Hersteller diesen Sprengstoff von Arzneimittel wegen der mit ihm verbundenen Risiken und Gefahren gar nicht verkaufen, und wenn der Patient das Wagnis dennoch eingeht, dann ist er doch gewarnt gewesen und begibt sich auf eigenes Risiko durch das Minenfeld. Unseren Bürger interessieren nun die Nebenwirkungen, immerhin 66 Zeilen.

Er findet Fallgruppen: Nebenwirkungen, mit denen häufig zu rechnen ist (z. B. geringfügige Magen-Darm-Blutverluste - das hört sich eigentlich gar nicht gut an), gelegentliche Wirkungen (z.B. Magen-Darm-Geschwüre, unter Umständen mit Blutung und Durchbruch; was heißt nur "unter Umständen", und ist man bei einem Durchbruch nicht vom Tode bedroht, lohnt sich das schon bei 39,3°C? Und "gelegentlich"? Wenn der Wetterbericht sagt, es regne gelegentlich, dann tut es das doch immer wieder). "Selten" ist dagegen glücklicherweise die "schwere Kreislaufstörung bis hin zu einem lebensbedrohlichen Schock". In Einzelfällen (wie mögen sie sich von seltenen Fällen unterscheiden?) gibt es Nierenschäden, Haarausfall und Leberschäden.

Nun wird der Patient vielleicht zögern. Während die Gerichtssprache deutsch ist und die Medizinsprache lateinisch, nennen die Ärzte den Vorgang, dass der Patient der abschreckenden Wirkung diser Aufklärung unterliegt, non-compliance (Heilmann, Der Beipackzettel, Ed. medpharm 1995, S. 16), schieben aber die Verantwortung gleich dem Opfer, nicht den Tätern zu, indem sie non-compliance mit "fehlender Kooperation" des Patienten umschreiben.

Unser Patient jedenfalls lässt Fieber Fieber sein und wendet sich seinen Kopfschmerzen zu. Er hat sich ASS + C ratiopharm besorgt, ein Substitut zum Allheilmittel Aspirin. Aber es geht ihm dabei nicht besser. Magen-Darm-Blutverluste sind auch hier häufig, allerdings ohne das Adjektiv "geringfügig". Selten ist das Magengeschwür (aber das ASS-Magengeschwür führt wenigstens nicht zum Durchbruch). In Einzelfällen (also hoffentlich, so sagt der Patient, ist er kein Einzelfall, obwohl ihm doch sonst gesagt wird, jeder Mensch sei ein Einzelfall) treffen ihn wieder Leber- und Nierenschäden (war das mit der Leber nicht irreversibel?) und besonders schwere Hautausschläge. Sie heißen Erythema exsudativum multiforme, und das muss so etwas Fürchterliches sein, dass man es nur auf Latein sagen kann, etwas wie Exitus. Verwirrtheitszustände (wenn man nicht weiß, wie man heißt oder wo man wohnt) "können" auftreten, das ist also eine neue, auch nicht im Ansatz quantifizierbare Fallgruppe, dann doch lieber Kopfschmerzen.

Aber Hustensaft, das wird doch noch gehen. Im Hause ist Cito-Guakalin-Hustensaft. Der Text zu den Nebenwirkungen verdient wörtlich wiedergegeben zu werden: "In Einzelfällen wurden z.T. schwere Überempfindlichkeitsreaktionen (allergische Reaktionen einschließlich des anaphylaktischen Schocks), tiefe Bewusstlosigkeit (Koma), Verwirrung (Konfusion), Wärmegefühl, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Magenunverträglichkeit, Sodbrennen, Schmerzen, verlangsamte Herzschlagfolge (Bradykardie), Bronchospasmus (Krampf der unwillkürlich bewegten Muskulatur, der zu einer Einengung der kleinen Äste der Luftröhre führt), erschwerte Atmung (Dyspnoe), Verminderung bestimmter weißer Blutkörperchen (Granulozytopenie), Hautausschlag und Juckreiz gesehen." Also besser auch keinen Hustensaft (obwohl man den Juckreiz vielleicht noch aushalten möchte).

Der Patient, so wollen wir annehmen, erzählt all dies (und er hätte, weil es ja nur auf die Wirkstoffe ankommt, auch andere Arzneimittel nennen können, die Hinweise sind also beliebig) nach Wiederherstellung seiner Gesundheit durch Zeitablauf (für bestimmte Anwendungsgebiete das verlässlichste Mittel) seinem Arztfreund. Der lacht: "Du bist doch Jurist, alles Defensivmedizin, theoretische Risiken, Du fährst doch auch Auto." Noch, so möchte man dann erwidern, fehlt allerdings in der Autowerbung der Hinweis des Verkehrsministeriums: "Autofahren ist gefährlich. Es kann zum Tode führen."

Was hier am Beispiel rezeptfreier Arzneimittel belegt wird, ist der Schlendrian und die Gedankenlosigkeit einer Aufklärung, die in Wirklichkeit gar nicht den Patienten meint, sondern den Schutz des Herstellers vor Schadensersatzansprüchen. In dieser Fallgruppe wirkt sich die "Gebrauchsinformation" (die Verwendung dieses Worts als Überschrift schreibt § 11 AMG vor) als Anleitung zum Nichtgebrauch aus. Gerade in dieser Fallgruppe muss man sehen, dass angesichts der zwar subjektiv sehr lästigen Gesundheitsstörung ihr objektiver Krankheitswert es nicht rechtfertigt, auch sehr kleine Risiken einzugehen. Wer tauscht schon einen Tag weniger Husten gegen Koma und Konfusion? In der Praxis wird natürlich getauscht, weil man geneigt ist, schlechte Risiken für sich selbstverlässlich auszuschließen. Ist das aber so, ist das ganze Aufklärungsinstrumentarium in dieser Form verfehlt.

Der eigentliche Mangel ergibt sich aus der Tatsache, dass das "Bei-Pack" zwar "allgemeinverständlich" (§ 11 AMG) geschrieben sein muss, dass die Furcht des Herstellers vor Regress aber nur zu einer karikierenden Ausfüllung des Begriffs der Nebenwirkung geführt hat. Zwar gibt es eine feststehende Risikogewichtung in "häufig" = über 10%, "gelegentlich" = 1 bis 10%, "selten" = weniger als 1% und "Einzelfälle". Diese Quantifizierungen stehen aber nicht im Gesetz. In den Packungsbeilagen sind sie nicht definiert. Die verwendeten Begriffe sind für sich genommen schon nicht eindeutig.

Hinzu kommen die individuellen Sprachfähigkeiten und das jeweilige Sprachvermögen des Patienten. Geht man davon aus, dass der durchschnittliche Bürger aufklärungsbedürftig ist, dann muss man ihm, wenn man ihn wirklich in den Stand versetzen will, Entscheidungen treffen zu können, auch realistische Entscheidungsgrundlagen geben (vgl. Heilmann, Medikament und Risiko, Ed. medpharm, 1994). Das geht doch aber nur, wenn der Patient weiß, ob er seine Entscheidung unter Gewissheit trifft (jedes Arzneimittel hat Nebenwirkungen, hier geht es um die unerwünschten), unter Risiko (was die Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten ermöglicht und die Einbeziehung statistischer Werte erlaubt) oder unter (völliger) Unsicherheit, bei der es dann von der Mentalität des Betroffenen abhängt, ob er - ohne sich in den Grundlagen der Entscheidungstheorie auszukennen - im Ergebnis etwa der Minimax- oder Maximin-Theorie folgt. Auf die im Sektor der rezeptfreien Arzneimittel im Bei-Pack praktizierte Scheinaufklärung sollte man verzichten. Sie macht dem Patienten Angst, Angst ist kein guter Arzt.

Nachdruck aus NJW 1999, Heft 24, S. 1769 bis 1770, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Schriftleitung der NJW.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Packungsbeilage: Patientenschutz durch Aufklärung

Weniger wäre mehr

Komplexe Sachverhalte einfach erklärt – Folge 4: Nebenwirkungen und Adhärenz

Verdammt, ich schluck dich! Ich schluck dich nicht!

Die letzte Woche

Mein liebes Tagebuch

Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller erreichte 1990 die Beibehaltung und Vereinfachung der Werbung für OTC-Arzneimittel

30 Jahre „Zu Risiken und Nebenwirkungen ...“

Aber wie? – Arzt und Patient im Dilemma zwischen Aufklärung und deren negativen Folgen

Noceboeffekt vermeiden

Firmen und Patientenorganisationen gemeinsam in der AG Beipackzettel

Gebrauchsinformationen besser verstehen

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.