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Drogenmissbrauch
G. Roider et al. Tramadol als Drogenersatz – die m
Struktur und Wirkung
Bei Tramadol handelt es sich um ein Cyclohexanol-Derivat, dessen opiatähnliches Grundgerüst deutlich erkennbar ist, wie ein Vergleich mit Codein (Monomethylether des Morphins) zeigt (Abb. 1). Aufgrund dieser strukturellen Ähnlichkeit bindet Tramadol an den Opiatrezeptoren, jedoch mit deutlich geringerer Affinität als Morphin. Die analgetische Wirkung von Tramadol ist sehr viel stärker, als es aufgrund der geringen Rezeptoraffinität zu erwarten wäre. Sie wird mit einem Zehntel derjenigen von Morphin angegeben und entspricht somit in etwa derjenigen von Codein. Dies weist darauf hin, dass an der Wirkung andere, nicht-opioide Mechanismen beteiligt sind. Hierfür wird insbesondere eine Hemmung der Aufnahme von Noradrenalin und Serotonin diskutiert. Bei oraler Aufnahme liegt die Bioverfügbarkeit von Tramadol bei 75% und ist damit deutlich höher als die von Morphin; maximale Plasmaspiegel werden nach etwa 1,5 bis 2 Stunden erreicht, die Eliminationshalbwertszeit beträgt 5 bis 6 Stunden. Im Gegensatz zu Morphin weist Tramadol in äquianalgetischen Dosen kaum eine atemdepressive Wirkung auf.
Missbrauchspotenzial
Die Entwicklung von Abhängigkeit und Toleranz sowie das Missbrauchspotenzial wurden bisher in der Literatur im Allgemeinen als gering angesehen [2, 3, 5 - 7, 13 - 16, 21, 23]. In allerletzter Zeit finden sich jedoch in der internationalen Literatur Hinweise auf einen verstärkten Missbrauch dieser Substanz [10, 11]. Das primäre Missbrauchspotenzial von Tramadol ist zwar relativ gering, aber aufgrund seiner Kreuztoleranz zu Morphinderivaten eignet es sich offensichtlich zur Heroin-Substitution.
Untersuchte Fälle
Im Rahmen einer Studie am Institut für Rechtsmedizin München wurden die Daten der toxikologischen Untersuchungen der letzten fünf Jahre ausgewertet. Es handelt sich dabei um Untersuchungsergebnisse von Blutproben, die im Zeitraum von 1995 bis Mitte 1999 im Auftrag der Polizei bei Verdacht auf Verkehrs- oder kriminelle Delikte entnommen worden sind. Darüber hinaus um Fälle, in denen von der Staatsanwaltschaft zur Klärung der Todesursache eine gerichtliche Obduktion angeordnet worden ist. Die Fälle stammen aus dem südbayerischen Raum. Der Nachweis von Tramadol erfolgte mittels GC-MS oder HPLC mit Diodenarray-Detektor.
Missbrauchshäufigkeit
Auch unseren Erfahrungen nach wird Tramadol in letzter Zeit vermehrt missbräuchlich zur "grauen" Drogensubstitution verwendet. Dies zeichnet sich deutlich seit Anfang 1998 ab. Zu diesem Zeitpunkt wurde das bis dahin im bayerischen Raum vorherrschende Dihydrocodein, der so genannte "Codeinsaft", unter das Betäubungsmittelgesetz gestellt und somit weitgehend dem Markt entzogen. Während im Jahr 1995 in unserem Untersuchungsgut Tramadol lediglich 7-mal, 1996 9-mal und 1997 ebenfalls 9-mal aufgefunden wurde, haben wir 1998 Tramadol in 38 Fällen nachgewiesen. Für 1999 zeichnet sich eine ähnlich hohe Fallzahl ab. Hochgerechnet aus den Fällen des ersten Halbjahres kann man eine Gesamtfallzahl von 36 Fällen für 1999 erwarten (Abb. 2). Tramadol wurde sowohl bei Todesfällen als auch bei lebenden Probanden, denen Verkehrs- und kriminelle Delikte zur Last gelegt wurden, 1998 und 1999 deutlich häufiger nachgewiesen als in den Jahren zuvor. Zum Vergleich: Methadon haben wir 1998 und 1999 jeweils etwa 5-mal so häufig wie Tramadol aufgefunden. Fasst man alle von 1995 bis Mitte 1999 nachgewiesenen Fälle von Lebenden (verkehrsauffällige Kraftfahrer und kriminelle Delikte) sowie die Todesfälle zusammen, so zeigt sich, dass die Tramadolkonzentration im Blut der lebenden Probanden sowohl im Mittel (Median) als auch im Maximalwert deutlich unter den Konzentrationen bei den Todesfällen liegen: - Lebende (n = 52): Median 0,32 mg/l, max. 4,70 mg/l; - Todesfälle (n = 22): Median 1,33 mg/l, max. 33,10 mg/l.
Lebende Probanden
Bei den lebenden Probanden konnte nach den uns zur Verfügung stehenden Angaben in den meisten Fällen zwischen therapeutischer und missbräuchlicher Anwendung differenziert werden. Die Medianwerte der Blutkonzentrationen beider Gruppen unterscheiden sich zwar nicht (0,32 mg/l bzw. 0,31 mg/l), doch fanden sich die Spitzenwerte ausschließlich bei der missbräuchlichen Anwendung (Abb. 3). In der Literatur werden Plasmakonzentrationen bis 1 mg/l als therapeutisch bezeichnet [17, 20]. In diesem Bereich lagen auch alle unsere 15 Fälle mit therapeutischer Indikation, der höchste Wert betrug hier 0,63 mg/l. Im Gegensatz hierzu fanden wir in 10 der 33 Fälle nach missbräuchlicher Anwendung Werte oberhalb des therapeutischen Bereiches, die maximale Konzentration lag in dieser Gruppe bei 4,7 mg/l. Bis auf einen Fall hatten alle Probanden aus der Missbrauchsgruppe einen suchttypischen Beigebrauch, nämlich 91% Benzodiazepine, 38% Morphinderivate, 34% Cannabis, 25% Alkohol und 19% trizyklische Antidepressiva. Dieses Beigebrauchsmuster unterscheidet sich nur unwesentlich von dem, das wir bei der Substitutionstherapie mit Dihydrocodein [4, 18] oder auch Methadon [19] finden.
Todesfälle
Die Todesfälle, in denen wir Tramadol nachgewiesen haben, können nochmals in drei Gruppen unterteilt werden (Abb. 4): Die erste Gruppe umfasst Fälle mit "anderer Todesursache", das heißt, in diesen 6 Fällen haben wir zwar Tramadol aufgefunden, es war jedoch an der Todesursache nicht oder nur unwesentlich beteiligt. Dementspechend liegt auch der Median der Blutkonzentration mit 0,11 mg/l an der Untergrenze des therapeutischen Bereiches. Die zweite Gruppe besteht aus Mischintoxikationen von Tramadol mit anderen zentral wirksamen Arznei- oder Suchtstoffen. Der Median der Tramadolkonzentration im Blut liegt hier bei 1,51 mg/l. In der dritten Gruppe haben wir die tödlichen Monointoxikationen mit Tramadol zusammengefasst. Der komatös-letale Bereich wird in der Literatur ab 2 mg/l angegeben. Wie Abbildung 4 zu entnehmen ist, lagen alle unsere Fälle aus dieser Gruppe deutlich darüber. In der Literatur werden bei Todesfällen vergleichbare Tramaldolkonzentrationen im Blut berichtet [1, 7, 9, 12, 22].
Tramadol-Abgabe in der Apotheke
In den Fachinformationen der Herstellerfirmen ist ganz klar formuliert (z. B. [8]): "Tramal darf zur Drogensubstitution nicht verwendet werden. … Tramal darf nur unter besonderer Vorsicht angewendet werden bei Abhängigkeit von Opioiden. … Tramadol hat ein Abhängigkeitspotenzial. Bei längerem Gebrauch können sich Toleranz, psychische und physische Abhängigkeit entwickeln. … Bei Patienten, die zu Arzneimittelmissbrauch oder Medikamentenabhängigkeit neigen, ist eine Behandlung mit Tramal nur kurzfristig und unter strengster ärztlicher Kontrolle durchzuführen." In der Apotheke kann sich ein Verdacht auf Missbrauch z. B. aus folgenden Kriterien ergeben: - Patient kommt offensichtlich alkoholisiert bzw. unter Drogen stehend in die Apotheke. - Kauf von Einmalspritzen. - Offensichtlich unsinnige Angaben zur Indikation. - Wiederholte Verordnung in mehr als therapeutischer Dosierung (über 400 mg/Tag, cave: kann bei Tumorpatienten notwendig sein!). - Mitverordnung hoher Mengen an Tranquilizern (Diazepam u. a.) oder trizyklischen Antidepressiva (vor allem Doxepin) (cave: bei schweren Schmerzen kann eine zusätzliche Gabe von Tranquilizern oder Antidepressiva indiziert sein). - "Umstellung" eines Substitutionspatienten von Methadon oder Dihydrocodein auf Tramadol. In derartigen Fällen sollte zumindest Rücksprache mit dem verordnenden Arzt gehalten werden. Erfolgt auch von dort keine befriedigende Auskunft oder wird eine "graue" Substitution gleich mehr oder weniger versteckt eingeräumt, ist ein Verdacht des Missbrauchs nach § 17 Abs. 8 ApBetrO begründet und die Abgabe von Tramadol zu verweigern. Bitte bedenken Sie dabei: Eine Abgabe von Tramadol in solchen Fällen aus falsch verstandener Gefälligkeit führt zu einer erhöhten Zahl von "grauer Substitution" mit Tramadol. Der Gesetzgeber wird sich bei einem weiteren Ansteigen des Tramadol-Missbrauchs Gedanken über restriktivere Maßnahmen bei der Verordung von Tramadol machen müssen. Und derartige Restriktionen gehen (wie analoge Beispiele aus der Vergangenheit gezeigt haben) leider immer insbesondere auch zu Lasten der Schmerzpatienten, die auf ein zentral wirksames, potentes und dabei relativ gut verträgliches und nebenwirkungsarmes Analgetikum mit nur mäßigem primärem Abhängigkeitspotenzial angewiesen sind. Das ist Tramadol seit vielen Jahren, und für diesen Patientenkreis soll es auch weiter zur Verfügung stehen.
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Tramadol ist ein Opioid-Analgetikum, unterliegt aber in Deutschland nicht dem Betäubungsmittelgesetz. Es ist das meistverschriebene stärkere Analgetikum und für viele Patienten ein wertvolles Arzneimittel. Seit einigen Jahren wird es allerdings auch von Drogenabhängigen missbraucht. Sein primäres Missbrauchspotenzial ist zwar gering, aber aufgrund seiner Kreuztoleranz zu Morphinderivaten eignet es sich zur Heroin-Substitution.
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