Feuilleton

Zur Erinnerung: Zum 200. Geburtstag von Friedrich Wöhler

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Paris das international anerkannte Zentrum der chemischen Forschung. Das änderte sich ab etwa 1835, als Friedrich Wöhler und Justus Liebig mit ihrem modernen Experimentalunterricht und ihren innovativen Forschungen neue Akzente setzten. Damit legten sie das Fundament für den beispiellosen Aufstieg der chemischen Industrie Deutschlands, der etwa um 1860 einsetzte.

Friedrich Wöhler wurde am 31. Juli 1800 in Eschersheim (heute Stadtteil von Frankfurt/M.) als Sohn eines Tierarztes und Landwirts geboren. Die ersten sechs Jahre seines Lebens verbrachte er in Meiningen, kam dann nach (Frankfurt-)Rödelheim und im Alter von 13 Jahren nach Frankfurt, wo er das Gymnasium besuchte. Da er sich besonders für die Chemie interessierte, ging er an schulfreien Nachmittagen zu dem Privatgelehrten Dr. J. J. C. Buch (1778-1851), dem er bei seinen Experimenten half. Außerdem wurde er von diesem in die Botanik und Mineralogie eingeführt. Wöhler entwickelte sich zu einem leidenschaftlichen Experimentator und isolierte bereits als Gymnasiast u.a. das von Berzelius in einem böhmischen Mineral gefundendene Selen, worüber er 1821 in Gilberts Annalen berichtete. 1820 begann er auf Wunsch seines Vaters an der Universität Marburg mit dem Studium der Medizin. Daneben beschäftigte er sich auf chemischem Gebiet mit den Cyan- und Rhodan(Thiocyan)-verbindungen. Bereits nach einem Jahr wechselte er von Marburg an die Universität Heidelberg. Dort beendete er nach sechs Semestern das Medizinstudium und wurde 1823 zum Dr. med. promoviert.

Entdeckung der Isomerie

In Heidelberg hatte Wöhler seine chemischen Studien unter Leopold Gmelin (1788-1853) fortgesetzt. Gegen den Willen seines Vaters widmete er sich nach der Promotion nur noch der Chemie. Auf Anraten von Gmelin ging er im Herbst 1823 nach Stockholm zu Berzelius, arbeitete dort ein Jahr lang in dessen Laboratorium und nahm in Schweden an mineralogisch-geologischen Exkursionen mit Berzelius, Alexandre Brongniart (1770-1847) und dessen Sohn Adolphe Théodore (1801-1876) teil. In Stockholm hatte Wöhler die Cyanursäure (HOCN) synthetisiert und unter anderem das Silbercyanat hergestellt. Letztere Substanz und das 1823 von Liebig in Paris dargestellte Silberfulminat (AgCNO) wurden von Liebig und ihm analysiert. Dabei fand man, dass diese Verbindungen von gleicher chemischer Zusammensetzung waren, gleiche Molekulargewichte hatten, aber verschiedene Eigenschaften besaßen. Es stellte sich dabei heraus, dass die Anordnung der Atome der Substanzen im Molekül verschieden ist. 1830 bezeichnete Berzelius diese Erscheinung "Isomerie". Nach einem Zwischenaufenthalt in Frankfurt reiste Wöhler im März 1825 nach Berlin, wo er als Lehrer (ab 1828 als Professor) in der eben eröffneten städtischen Gewerbeschule (Niederwallstraße 12) tätig war. Während seiner Jahre in Berlin hat Wöhler viele bedeutende Arbeiten in seinem Laboratorium durchgeführt. So stellte er 1827 das von Įrsted 1825 entdeckte Aluminium nach einem verbesserten Verfahren her. Wöhler versuchte damals vergeblich, dieses Metall statt Eisen als Werkstoff einzuführen.

Synthetischer Harnstoff

1824 hatte er bereits durch Hydrolyse von Dicyan die Oxalsäure hergestellt. Bei dieser Arbeit fand er eine kristalline Substanz, die er zunächst nicht näher untersuchte. Wie sich später herausstellen sollte, war es Harnstoff. Im Jahre 1828 gelang es ihm sowie dem Franzosen A. Bussy, das 1797 von Vauquelin entdeckte Beryllium als Metall darzustellen. Im gleichen Jahr veröffentlichte Wöhler seine berühmte Arbeit über die Harnstoff-Synthese. Den Harnstoff gewann er durch das Eindampfen einer wässrigen Lösung äquivalenter Mengen von Kaliumcyanat und Ammoniumsulfat. In einem Brief an Berzelius schrieb er begeistert: "Ich muss Ihnen sagen, dass ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Thier, sey es Mensch oder Hund nöthig zu haben." Mit seiner Entdeckung hat Wöhler das bisherige Dogma von einer besonderen Lebenskraft (vis vitalis), welche für die Entstehung organischer Stoffe notwendig sei, widerlegen können. Mit Liebig gab er 1838 die "Untersuchung über die Natur der Harnsäure" heraus, die eine großartige Gemeinschaftsarbeit war. Wöhler, der inzwischen geheiratet hatte, verließ Berlin 1831 wegen des Ausbruchs der Cholera. Zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn August, der später als Landwirt das großväterliche Gut in Rödelheim bewirtschaftete, zog er nach Kassel, wo er auf Empfehlung des Geologen Leopold von Buch (1774-1852) als Lehrer der Chemie und Mineralogie an der Höheren Gewerbeschule, die 1832 nach dem Vorbild der Ecole Polytechnique in Paris gegründet worden war, angestellt wurde. Hier beschäftigte sich Wöhler mit einer großen Anzahl von Arbeiten auf dem Gebiet der Mineralchemie und gründete zusammen mit mehreren Freunden eine Nickelfabrik.

Benzoyl - das erste Radikal

Der Tod seiner Frau im Jahr 1832 war für Wöhler ein schwerer Schlag. Justus Liebig, mit dem er seit seiner Tätigkeit in Berlin ständig korrespondierte und freundschaftlich verbunden war, versuchte ihn von seinem Schmerz abzulenken und lud ihn nach Gießen ein, um dann gemeinsam mit ihm in seinem Laboratorium zu arbeiten. Dort befassten sie sich mit dem Bittermandelöl (Benzaldehyd) und dessen Umwandlungsprodukten, zu denen auch die Benzoesäure gehört. Dabei entdeckten sie, dass bei ihr und den verschiedenen Derivaten das Benzoyl als "Radikal", wie sie es bezeichneten, unverändert blieb. Aus der Weiterentwicklung dieser "Radikaltheorie" durch verschiedene "Typentheorien" bildete sich unter A. M. Butlerov und F. A. Kekulé die Strukturtheorie zur Beschreibung von Molekülen heraus. Im März 1836 folgte Wöhler, der 1834 wieder geheiratet hatte, einem Ruf auf den Lehrstuhl für Chemie und Pharmazie an der Universität Göttingen, den zuvor Friedrich Stromeyer (1776- 1835) innegehabt hatte. Mit diesem Lehrstuhl war seit 1817 das Amt eines Generalinspekteurs der Apotheken im Königreich Hannover verbunden. So musste Wöhler in den Oster- und Herbstferien die Apothekenrevisionen durchführen. Ab 1850 übernahm sein Assistent L. A. Wiggers (1803-1880) dieses Amt, das Wöhler ein Greuel gewesen war.

Modernes Laboratorium

Das Laboratorium in Göttingen reorganisierte Wöhler im Sinne von Berzelius und trug damit zur Verbesserung der Labortechnik bei. 1842 wurde ein moderner Laboratoriumsneubau errichtet, der bis zur Schließung des Pharmazeutisch-Chemischen Instituts 1938 in Betrieb blieb und erst in den 80er Jahren - leider! - abgerissen wurde. Ab 1860 baute Wöhler eine große Institutsbibliothek auf und vergrößerte die von Stromeyer angelegte Präparatensammlung beträchtlich. Von 1846 bis 1866 studierten bei Wöhler über 8200 Studenten, von denen viele später bedeutende Wissenschaftler wurden (H. Kolbe, F. K. Beilstein, E. Fittig u.a.). Neben seinen bekannteren Arbeiten (über Emulsin und Amygdalin, 1837; Entdeckung des Hydrochinons, 1843; Metalloxide als Katalysatoren, 1852; Darstellung von kristallinen Bor, 1856; Entdeckung des Calciumcarbids, 1863), an denen zum Teil Liebig mitgewirkt hatte, hat Wöhler mehr als 280 Veröffentlichungen publiziert. So übersetzte er mehrere Ausgaben von Berzelius' "Lehrbuch der Chemie" (z.B. 3. Aufl. in 10 Bänden, 1833-1841) in die deutsche Sprache. Großen Erfolg hatte er mit dem "Beispiel zur Übung der analytischen Chemie" (1849; 1861 unter dem Titel "Die Mineral-Analyse in Beispielen") sowie dem "Grundriss der Chemie" (1833; 11. Aufl. 1854). Zusammen mit Liebig und Poggendorff gab er 1842 die ersten sechs Bände des großen "Handbuches der reinen und angewandten Chemie" heraus und wurde ab 1838 Mitherausgeber der "Annalen der Chemie und Pharmazie" (später "Liebigs Annalen"). Mit zunehmendem Alter zog Wöhler sich von seinen Vorlesungen zurück, blieb aber bis zu seinem Tod Direktor des Instituts. 1873 las er letztmalig die Organische Chemie. Ab August 1882 begann er zu kränkeln und starb am 23. September 1882 an einem Ruhranfall. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Göttinger Stadtfriedhof am Groner Tor. Sein Grabstein trägt die Inschrift "Von Gott zu einer höheren Tätigkeit abberufen, ruht hier die sterbliche Hülle".

Ein Kompendium der Chemie

Für seine Verdienste um die Naturwissenschaften machte man Wöhler zum Ehrenbürger und Ehrendoktor. Der König von Preußen verlieh ihn 1864 den Orden Pour le mérite und Napoleon III. ernannte ihn zum Ritter der Ehrenlegion. In seiner Gedenkrede auf Friedrich Wöhler sagte der Chemiker August Wilhelm Hofmann: "Wollte man die Errungenschaften des Forschers im Einzelnen würdigen, müsste man ein Kompendium der Chemie schreiben". 1889/90 schuf der Bildhauer F. Hartzer ein realistisches Bronzestandbild von Wöhler. Ursprünglich stand es vor dem Auditoriengebäude in Göttingen und befindet sich seit 1985 in der Hospitalstraße 9, in der Nähe des alten Chemischen Laboratoriums. Wöhlers Wirken in Göttingen dokumentiert das 1979 gegründete "Museum der Göttinger Chemie".

Literatur

Männer der Zeit. Leipzig 1862, S. 687f.; Supplement, S. 182.

  • llgemeine Deutsche Biographie, Bd. 43, 1884, S. 711-717.
  • ohannes Valentin: Friedrich Wöhler (Große Naturforscher, 7), Stuttgart 1949.

Wilhelm Prandtl: Deutsche Chemiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weinheim/Bergstraße 1956, S. 135-192. R. Winderlich: F. Wöhler. In: G. Bugge, Das Buch der großen Chemiker, Bd. 2, Weinheim 1965, S. 31-52. Conrad Matschoss: Männer der Technik. 1925 (Reprint, Düsseldorf 1985), S. 298f. Ernst F. Schwenk: Sternstunden der frühen Chemie. München 1998, S. 214-232. Weitere Literaturangaben in Poggendorff, Bd. VIIa, S. 779-783.

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