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Ethnopharmakologie
L. BeerhuesJagdgift und Arznei – Gifte aus tro
In der frühen Menschheitsgeschichte bildete das Sammeln von Pflanzen und das Jagen von Tieren die Grundlage der menschlichen Ernährung. Für die Jagd verwendeten die Menschen anfangs hölzerne, steinerne und knöcherne Gegenstände, die von Natur aus scharf oder spitz sind.
Später fertigten sie ihre Waffen dann selbst, z.B. Faustkeil und Wurfspeer. Die Einführung sehr viel leistungsfähigerer Waffen (Speerschleuder, Pfeil und Bogen) markiert weitere Meilensteine in der Jagdgeschichte [1]. Die Erfindung von Pfeil und Bogen zählt wie die vorangegangene Beherrschung des Feuers und die spätere Erfindung des Rades zu den wichtigen Errungenschaften in der Menschheitsgeschichte.
In vielen Gegenden der Erde kombiniert man die verwundende Kraft eines Pfeils mit der schädigenden Wirkung eines Gifts [2 - 4]. Ein frischer, gut platzierter Giftpfeil wirkt absolut tödlich, und das in kürzester Zeit. Auch heute noch dienen Giftpfeile der lautlosen Jagd.
Giftwaffen
Die meistverbreiteten Giftwaffen sind, neben Giftspeeren und -fallen, vergiftete Pfeile [2, 5]. Diese sind gewöhnlich aus Hartholz mit einer im Feuer gehärteten oder metallenen Spitze gefertigt. Hinter der Spitze befindet sich eine Umhüllung aus Pflanzenmaterial, die eine bessere Anhaftung des Gifts ermöglicht. Das Gift wird immer hinter der Pfeilspitze aufgetragen, um ein Abstreifen bei der Verwundung des Tiers zu vermeiden. In der Regel ist die Giftmasse an einem Pfeil auch für den Menschen tödlich.
Verschossen werden die Giftpfeile entweder mit einem Bogen oder einem Blasrohr. Blasrohre sind etwa 3 m lang und aus dem Holz bestimmter Bambus- oder Palmenarten hergestellt [3, 6]. Mit einem kräftigen Luftstoß werden die Blasrohrpfeile aus dem Rohr gepresst, wobei auf 25 bis 40 m hohe Treffsicherheit erzielt wird.
Giftgewinnung
Jagdgifte sind in erster Linie pflanzlichen Ursprungs [2, 3, 5] (Tab. 1). Das häufigste Verfahren ihrer Zubereitung ist das Auskochen von kleingeschnittenem Pflanzenmaterial in Wasser. Das Dekokt wird vorsichtig eingeengt und die dann zurückbleibende teerartige Giftmasse dick hinter der Pfeilspitze aufgebracht. Ölreiche Samen und Wurzeln werden zerrieben und, um den Zusammenhalt zu verbessern, mit einem klebrigen Saft wie z.B. Latex vermischt. Als drittes Verfahren bietet sich bei frischen, sukkulenten Pflanzenteilen das Auspressen des Saftes an. Auch heute noch ist bei vielen Ethnien die Giftbereitung mit allerlei geheimnisvollen Riten und Tabus verknüpft.
Pflanzliche Jagdgifte Afrikas
Das Verbreitungsgebiet von Jagdgiften deckt sich weitgehend mit der Ausdehnungszone des tropischen Regenwaldgürtels: Süd- und Mittelamerika, Zentralafrika und Südostasien. Afrika ist der Kontinent, in dem so sehr wie nirgendwo sonst auf der Erde von Giften Gebrauch gemacht wird [2, 5].
Die schwarzafrikanischen Jagdgifte sind vornehmlich Herzgifte und leiten sich größtenteils von drei Pflanzengattungen ab: Acokanthera, Parquetina und Strophanthus. Da diese Taxa chemisch wie toxikologisch ähnlich sind, bezeichnet man die aus ihnen gewonnenen Zubereitungen als APS-Gifte. Die APS-Gifte stellen die Grundlage von etwa drei Vierteln aller afrikanischen Jagdgifte dar.
Die Arten der Gattung Strophanthus (Apocynaceae) sind die meistverbreitete und wichtigste Quelle von APS-Giften [2]. Sie wachsen als Sträucher, Bäume oder hochkletternde Lianen. Unter ihnen ist Strophanthus kombe die klassische Jagdgiftpflanze. Die fünf Kronblätter ihrer dekorativen Blüten enden in bis zu 20 cm langen band- oder schnurförmigen Fortsätzen, die oft seilartig umeinander gewunden sind (Abb. 1). Dieses Blütenmerkmal prägte den Gattungsnamen (griech. strophe = Drehung; anthos = Blüte).
Darüber hinaus charakteristisch sind die Doppelbalgfrüchte, deren etwa 35 cm langen Einzelfrüchte in einem Winkel von ca. 180° auseinander spreizen. Die darin in großer Zahl vorkommenden spindelförmigen Samen haben einen gestielten Haarschopf als Flugapparat. Die Samen sind der Hauptakkumulationsort der Wirkstoffe und deshalb das bevorzugte Ausgangsmaterial für die Gewinnung des als kombé bezeichneten Pfeilgifts. Die ölreichen Samen werden zu einer Paste zerrieben, die man hinter der Pfeilspitze aufstreicht (s. o.). Das Kombé-Gift ist eines der stärksten afrikanischen Pfeilgifte, es wirkt in wenigen Minuten tödlich. Das Fleisch des erlegten Wilds kann bedenkenlos gegessen werden, nachdem man die Umgebung der Wunde herausgeschnitten hat.
k-Strophanthin
Kombé-Pfeilgift war das erste afrikanische Pfeilgift, das nach Europa kam und näher untersucht wurde [2]. Der Botaniker J. Kirk brachte es 1863 von einer Livingstone-Expedition nach England, wo man die Herzwirksamkeit feststellte. Im Jahre 1869/70 isolierte Thomas R. Fraser aus kombé-Gift und kombé-Samen dasselbe wirksame Prinzip und nannte es Strophanthin. Später stellte sich heraus, dass das kombé-Strophanthin (k-Strophanthin) keine einheitliche Substanz ist, sondern ein amorphes, leicht wasserlösliches Glykosidgemisch. Dessen Hauptbestandteile sind das k-Strophanthosid (Abb. 2), bestehend aus dem Aglykon k-Strophanthidin und der Zuckerkette Cymarose-Glucose-Glucose, sowie das entsprechende Biosid k-Strophanthin-, und das Monosid Cymarin.
Weil k-Strophanthin bei oraler Applikation schlecht resorbiert wird, ist es ausschließlich für die intravenöse Einleitung einer Therapie geeignet. Es wirkt schnell und wird rasch eliminiert. Albert Fraenkel führte 1906 die intravenöse Strophanthintherapie der akuten Herzinsuffizienz ein [7]. Damit war erstmals ein todbringendes Pfeilgift in ein lebensrettendes Arzneimittel überführt worden.
g-Strophanthin
Die zweite Strophanthus-Art, deren Samen für die Therapie bedeutsam sind, ist S. gratus. Ihre unbehaarten Samen enthalten nur einen maßgebenden Wirkstoff, das g-Strophanthin. Das Genin dieses Rhamnosids stellt mit sechs Hydroxylgruppen das sauerstoffreichste Cardenolid dar.
g-Strophanthin wurde 1888 von A. Arnaud isoliert und erwies sich als identisch mit dem von ihm kurz vorher aus Acokanthera ouabaio (heute A. schimperi) gewonnenen Ouabain. Es ist hoch toxisch und gut wasserlöslich. Das begünstigt zum einen seine Extrahierbarkeit aus dem Pflanzenmaterial, zum anderen seinen Übergang vom Giftpfeil in den Blutkreislauf. S. gratus ist somit ein ideales Waffengift [2]. Wo die Pflanze wächst und mit Giften gejagt wird, ist sie die Jagdgiftpflanze der ersten Wahl.
Physostigmin
Die obigen Basisgifte werden entweder allein verwendet oder durch eine Fülle von Zusatzpflanzen unterschiedlicher Wirkung ergänzt [2]. Wechselwirkungen, die zu einer Verstärkung der Giftwirkung führen, sind bekannt und spielen zweifelsohne bei vielen Giftbereitungen eine Rolle. Unter den Zusatzpflanzen gibt es zwei, die ebenfalls arzneilich bedeutsam sind.
Die eine ist Physostigma venenosum (Fabaceae), eine große Liane oder strauchartige Kletterpflanze. Ihre etwa 2 cm großen, bohnenförmigen Samen, die Calabar-Bohnen (Abb. 3), wurden als Gift für meistens tödlich ausgehende Gottesurteile (Ordale) verwendet [8]. Die Samen werden deshalb auch als Gottesurteilsbohnen bezeichnet. Gottesurteile mussten immer dann eine Entscheidung herbeiführen, wenn der Beweis durch Zeugen versagte und ein Sachverhalt nach menschlichem Ermessen nicht mehr zu klären war. In der Provinz Calabar in Südost-Nigeria und angrenzenden Gebieten wurden bis zu 20 Bohnen für ein Trink-Ordal verwendet. Erbrechen des Angeklagten bedeutete Freispruch von der erhobenen Anschuldigung.
Calabar-Bohnen enthalten als Hauptinhaltsstoff das Physostigmin, einen trizyklischen Methylcarbaminsäureester. Dieser hemmt reversibel die Acetylcholinesterase und wird in der Augenheilkunde zur lokalen Therapie des chronischen Offenwinkelglaukoms eingesetzt. Das Abfließen des Kammerwassers wird erleichtert, der krankhaft erhöhte Augendruck sinkt.
Reserpin und Ajmalin
Die zweite Zusatzpflanze ist Rauvolfia vomitoria aus der Familie Apocynaceae (Abb. 4). Ihre Wurzeln werden von der Industrie für die Isolierung von Reserpin und Ajmalin verwendet. Diese Alkaloide zeigen eine antihypertonische bzw. antiarrhythmische Wirkung. Ajmalin wird partialsynthetisch in das peroral anwendbare Prajmalium (N-Propylajmalin-hydrogentartrat) überführt. Das Alkaloidspektrum von R. vomitoria ähnelt dem der indischen Schlangenwurzel, R. serpentina.
Pflanzliche Jagdgifte Südamerikas
Das bei den Indianern des tropischen Südamerika meistverbreitete Jagdgift ist Curare [3, 9]. Curare ist eine Sammelbezeichnung für Pfeilgifte pflanzlichen Ursprungs mit muskelerschlaffender Wirkung. Da pflanzliche Gifte mit derselben Wirkung und denselben Wirkstoffen auch in West-Malaysia und vereinzelt in Zentralafrika verwendet werden, ist Curare kein ausschließlich südamerikanisches Produkt. Pfeile, die mit diesem Gift bestrichen sind, werden in der Regel mit einem Blasrohr verschossen und für die Jagd auf kleinere Tiere wie Vögel oder Affen verwendet. Der Tod tritt in kürzester Zeit durch Atemlähmung ein. Dies verhindert, dass die getroffenen Tiere sich in den Bäumen festklammern statt zu Boden zu fallen.
Erste Berichte über mit Curare vergiftete Pfeile und ihre todbringende Wirkung erreichten wenige Jahrzehnte nach der spanischen Invasion die Alte Welt [9, 18]. Als einer der ersten kam wohl 1548 Alonso Perez de Tolosa mit Curare in Kontakt. Im Jahre 1596 war es dann Lawrence Keymis, und nicht wie früher angenommen Admiral Walter Raleigh, der erstmals eine Probe des Gifts unter dem Namen "Ourari" nach Europa brachte. Von Anfang an bestand großes Interesse, die Quelle des Gifts zu identifizieren und seine Zubereitung mitzuerleben.
An phantasievollen Mitteilungen über das geheimnisvolle Gift und die Rituale bei seiner Herstellung mangelte es kaum. Der erste authentische Bericht über die Zubereitung von Curare geht auf Alexander von Humboldt zurück, der 1800 während seiner Fahrt auf dem oberen Orinoko bei Esmeralda zusammen mit Aime Bonpland die Herstellung von Curare beobachtete und detailliert festhielt. Um 1840 identifizierten dann die Brüder Robert und Richard Schomburgk auf ihrer Expedition in Guayana eine Liane, die für die Curare-Gewinnung verwendet wurde, als Strychnos toxifera (Loganiaceae). Einige Jahre später klärten Claude Bernard und Rudolf von Koelliker den Mechanismus der Curare-Wirkung in seinen Grundzügen auf.
Calebassen-Curare
Strychnos-Arten sind in der Regel Lianen, die bis zu 120 m lang werden und bis zu 45 m hoch an Bäumen emporwachsen [3]. Einige Arten kommen als Sträucher oder kleine Bäume vor (Abb. 5). S. toxifera ist sicherlich die am häufigsten als Curare-Quelle genutzte Art, entweder allein oder in Kombination mit einer Vielzahl von anderen Pflanzen. Arten aus über 60 Gattungen gehen in die Giftmischungen ein, wobei allerdings ungewiss ist, ob überhaupt alle Arten toxische Substanzen enthalten. Einige dienen wahrscheinlich nur dazu, die Haftung des Gifts am Pfeil zu erhöhen.
S. toxifera ist eine etwa 10 cm breite, aber nur 1 bis 2 cm dicke Liane, die wie ein starkes Band, leicht schraubig gewunden, bis in die höchsten Baumkronen klettert [6]. Für die Curare-Gewinnung wird der glatte und zweiglose Spross mit einem Buschmesser in Bodennähe gekappt und in kleine Stücke zerteilt. Stück für Stück wird die wirkstoffreiche Rinde abgeschabt, und die sägemehlartigen Späne werden in ein trichterförmig eingerolltes Blatt überführt. Dann träufelt man in kleinen, wohldosierten Mengen Wasser hinein und sammelt die austretende Flüssigkeit Tropfen um Tropfen in einem untergestellten Tongefäß. Nach vorsichtigem Einengen bei moderater Hitze bis zur Sirupkonsistenz wird die jetzt pechschwarze Masse auf einer Tonscherbe ausgebreitet. Die Pfeilspitzen werden darin gedreht und die Pfeile nach dem Trocknen in einem Köcher gesammelt. Größere Giftmengen werden in Calebassen - hühnereigroßen, ausgehöhlten Flaschenkürbissen - aufbewahrt.
Trocken gelagertes Curare ist stabil und verliert nur wenig seiner anfänglichen Aktivität. Nach der Art der Aufbewahrung bezeichnet man diesen Typ von Gift als Calebassen-Curare, nach der botanischen Herkunft als Loganiaceen-Curare. Verbreitet ist es von Kolumbien bis Frz. Guayana sowie im östlichen Amazonien.
Mit Curare wird ein intensiver Handel betrieben [3]. Einige Volksstämme produzieren ein sehr wirkungsvolles Gift, weil nur sie über ausreichend Erfahrung in der Zubereitung des Pfeilgifts verfügen oder die in ihrem Siedlungsgebiet wachsenden Pflanzen einen ausgesprochen hohen Giftstoffgehalt besitzen. Demgegenüber haben andere Volksstämme Zugang zu Materialien, die für die Herstellung der Blasrohre benötigt werden. Hierzu zählen die Stängel von bambusverwandten Gräsern mit 5 bis 6 m langen Internodien.
Tubocurare und Topfcurare
In Ecuador und Peru ist nicht S. toxifera, sondern Chondrodendron tomentosum (Menispermaceae) die Basispflanze für die Curare-Gewinnung [3]. Auch diese Spezies ist eine Liane, die bis zu 20 m lang wird. Andere Chondrodendron-Arten dienen nicht als Curare-Quelle. Verwendet wird wiederum der eingedickte, wässrige Rindenextrakt, der in diesem Fall jedoch in Bambusröhren abgefüllt wird. Diesen Typ von Gift bezeichnet man daher als Tubocurare oder Menispermaceen-Curare.
In einer großflächigen Zone, in der die Verwendungsgebiete der Basispflanzen S. toxifera und C. tomentosum überlappen (westliches Amazonien), wird Curare meistens in irdenen Töpfen gehandelt und dann als Topfcurare bezeichnet. In der Vergangenheit gab die Art der Lagerung immer zuverlässig Auskunft über die Region der Herstellung. Heute allerdings trifft dies nicht mehr unbedingt zu, da in alle drei Aufbewahrungsgefäße schon mal der eine wie der andere Curare-Typ abgefüllt wird.
Die Aufklärung der chemischen Struktur der Curare-Wirkstoffe bedurfte großer Anstrengungen, da zum einen das in den Handel kommende Curare von unterschiedlichen Pflanzen abstammte, zum anderen die aktiven Verbindungen schwierig zu analysierende quartäre Alkaloide sind [3]. Hinzu kommt die Komplexität der Alkaloidgemische.
C. tomentosum enthält monomere und dimere Benzyltetrahydroisochinolinalkaloide. Nur die dimeren Verbindungen mit mindestens einem quartären Stickstoffatom zeigen die typische pharmakologische Wirkung. Das vorherrschende Bisbenzyltetrahydroisochinolinalkaloid in C. tomentosum ist Tubocurarin, das 1935 erstmals von Henry King isoliert wurde. Es enthält ein quartäres und ein unter physiologischen Bedingungen protoniertes tertiäres Stickstoffatom. C. tomentosum ist bis heute die einzige natürliche Quelle von Tubocurarin.
Curare-Wirkstoffe sind Antagonisten des Acetylcholins an den nicotinischen Cholinozeptoren der motorischen Endplatte und hemmen die neuromuskuläre Erregungsübertragung. Die hohe Dosis der Pfeilgifte verursacht durch Besetzung aller Rezeptoren mit Alkaloiden eine vollständige Bewegungsunfähigkeit. Die Lähmung der Atemmuskulatur führt zum Tod. Da die Alkaloide bei peroraler Aufnahme schlecht resorbiert und rasch eliminiert werden, kommt ihre Wirkung nur auf parenteralem Weg zustande. Daher kann das Fleisch von erlegtem Wild bedenkenlos verzehrt werden.
Peripher angreifende Muskelrelaxanzien werden bei größeren operativen Eingriffen vor allem im Bauch- und Thoraxbereich eingesetzt [3, 10]. Bei Gabe eines Muskelrelaxans kann das Narkosemittel niedriger dosiert werden, und das Narkoserisiko sinkt. Da auch die Atemmuskulatur erschlafft, muss die Möglichkeit zur Intubation und zur künstlichen Beatmung gegeben sein.
Tubocurarin ist der Prototyp der peripher stabilisierenden Muskelrelaxanzien und fand als einziges natürliches Curare-Alkaloid Eingang in die Medizin. Im Jahre 1942 führten es die kanadischen Mediziner Harold R. Griffith und G. Enid Johnson als Mittel zur Herabsetzung des Tonus der Skelettmuskulatur in die Anästhesie ein. Es wurde jedoch wegen seiner durch Histaminfreisetzung bedingten Nebenwirkungen, z.B. Bronchokonstriktion, mehr und mehr durch andere Arzneistoffe ersetzt.
Zu diesen zählt das Alcuronium, bei dessen Entwicklung ein Inhaltsstoff von S. toxifera, der Stammpflanze des Calebassen-Curare, als Vorbild diente. S. toxifera enthält monomere und dimere iridoide Tryptophan-Alkaloide. Das wichtigste ist das C-Toxiferin I (C = Calebassen-Curare), ein bisquartäres Bisindolalkaloid. Seine lange Wirkungsdauer und Instabilität in Lösung sind deutlich herabgesetzt, wenn die beiden N-Methylgruppen durch N-Allylfunktionen ersetzt sind. Das resultierende Alcuronium wird in der Anästhesie als kurzwirksames Muskelrelaxans verwendet. Curare ist ein weiteres beeindruckendes Beispiel dafür, wie von tödlichen Jagdgiften unverzichtbare Arzneimittel abgeleitet wurden.
Pflanzliche Jagdgifte Südostasiens
Strychnin ist ein Inhaltsstoff von Strychnos-Arten, die in Südostasien verbreitet und dort die klassischen Basispflanzen der Jagdgifte sind [3]. Annähernd 200 Strychnos-Arten sind bekannt, die jeweils in einer von drei geographisch getrennten Regionen vorkommen: Mittel- und Südamerika, Südostasien und Australien sowie Afrika.
Während die amerikanischen Strychnos-Arten muskellähmende bisquartäre Bisindolalkaloide enthalten, sind die asiatischen Arten reich an muskelerregenden und krampfauslösenden tertiären Indolalkaloiden. Unter den letzteren sind S. nux-vomica und S. ignatii die wichtigsten Pfeilgiftquellen. Ihre Samen enthalten als Hauptalkaloide Strychnin und Brucin. In Afrika gibt es nur eine Art, S. icaja, die Strychnin und seine Derivate akkumuliert [8].
Der Wirkungsmechanismus von Strychnin ist bekannt, es ist ein typisches Krampfgift. Es blockiert den Glycin-Rezeptor, einen Chloridionenkanal. Dies erhöht die Reflexerregbarkeit des Rückenmarks und führt zu Muskelkrämpfen und Konvulsionen. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein. Durch Dimerisierung von Strychnin via Wieland-Gumlich-Aldehyd und eine anschließende Quaternisierung mit Allylbromid gewinnt man das oben erwähnte Alcuronium, das strukturell ein Derivat des C-Toxiferin I ist.
Pfeilgifte aus Käferpuppen
Das Pfeilgift der Kalahari-Buschmänner wird aus Puppen von Käfern gewonnen. Es ist das einzige rein tierische Jagdgift, das in Afrika eine Rolle spielt. Und das auch nur lokal, da meistens pflanzliche Auszüge beigemischt werden [2, 11].
Die am häufigsten verwendete Pfeilgift-Puppe stammt von Diamphidia nigro-ornata (Chrysomelidae), einem pflanzenfressenden Blattkäfer und Verwandten des Kartoffelkäfers (Abb. 6). Die Larven von D. nigro-ornata verpuppen sich in einer Erdtiefe von 40 bis 100 cm unter ihren strauchartigen Wirtspflanzen der Gattung Commiphora (Burseraceae). Dabei umgeben sie sich mit einem Kokon aus verklebten Sandkörnern.
Die Buschmänner graben die Kokons aus, lösen die Puppen heraus und zerquetschen sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Der austretende Puppensaft wird auf die Pfeilspitzen aufgetropft. Wahlweise wird der Puppeninhalt mit klebrigem Pflanzensaft oder Speichel zu einer Paste gemischt und dann auf die Pfeilspitzen aufgebracht.
Die Käferpuppen enthalten die stark kardiotoxischen Proteine Diamphotoxin und Diamphodiatoxin. Ihr genauer Wirkmechanismus ist noch unbekannt, wahrscheinlich stören sie die Integrität von Membranen.
Südamerikanische Pfeilgiftfrösche
Die Pfeilgiftfrösche (Dendrobatidae), die auch als Färber-, Blattsteiger- oder Baumsteigerfrösche bezeichnet werden, gehören mit ihrer Körperlänge von 1,5 bis 5 cm zu den kleinsten tagaktiven Froschlurchen [12, 13]. Ihr Verbreitungsgebiet ist der tropische Regenwald Mittel- und Südamerikas. Man kennt heute mehr als 130 Arten in 7 Gattungen. Besonders die Frösche der Gattungen Dendrobates, Phobobates und Phyllobates zeichnen sich durch eine leuchtend bunte Färbung mit attraktiven Zeichnungsmustern aus (Abb. 7).
Grelle Farben signalisieren potenziellen Fressfeinden Giftigkeit und schützen so die Frösche vor dem Gefressenwerden. Die gelb-schwarze Streifung zum Beispiel ist ein sehr auffälliges Signal und auch als Warntracht der Wespen, Hornissen und des Feuersalamanders bekannt (Abb. 8). Innerhalb einer Art kann es bei den Dendrobatiden eine hohe Farb- und Zeichnungsvariabilität geben, die den Taxonomen großes Kopfzerbrechen bereitet.
Einige Pfeilgiftfrösche enthalten so hohe Konzentrationen an Hauttoxinen, dass sie selbst dem Menschen gefährlich sein können [13 - 15]. Die Gifte entstammen exokrinen Drüsen, deren Ausführungsgänge verstreut zwischen denen der Schleimdrüsen münden. Die Giftdrüsen führen ein breites Spektrum an Peptiden, z.B. Bradykinin, und biogenen Aminen wie z.B. Serotonin, Histamin und Tyramin. Darüber hinaus enthält die Haut der kolumbianischen Phyllobates-Arten die Steroidalkaloide Batrachotoxin und Homobatrachotoxin (Abb. 9).
Diese Verbindungen sind die stärksten tierischen Toxine, die man kennt. Sie wirken an spannungsabhängigen Natriumkanälen von Nerven- und Muskelzellen und verhindern, dass sich diese nach einer Depolarisation wieder schließen. Die resultierende Dauererregung führt zu Lähmung und Herzstillstand. Andere Froschgattungen enthalten die weit weniger giftigen Pumiliotoxine und Histrionicotoxine.
Den Fröschen dienen die Sekrete zur Abwehr von Feinden sowie zum Schutz ihrer stets feuchten Oberfläche vor Mikroben- und Protozoenbefall. Wird ein Frosch, z.B. durch den Fang, gereizt, so sezerniert er sein Gift aus den als granulär bezeichneten Hautdrüsen. Ein einziger erwachsener Frosch der Art Phyllobates terribilis (Abb. 10) kann bis zu 1 mg Batrachotoxin ausscheiden. Genug, um 20 000 Mäuse oder 10 Menschen zu töten. Schon gefährlich sein könnte es, ihn nur in die Hand zu nehmen. Sein Artname "der Schreckliche" ist daher nicht verwunderlich.
Die Indianer nutzen die hoch wirksamen Hautgifte der Frösche für ihre Jagd mit Blasrohrpfeilen. Die Pfeilspitzen werden mehrmals auf der Haut von P. terribilis entlanggestrichen und dabei mit dem austretenden Giftsekret eingerieben. Weniger schonend verfährt man mit den minder toxischen Fröschen. Sie werden aufgespießt und über dem Feuer zur Abgabe ihres Sekrets gereizt. Captain Charles Stuart Cochrane hat 1823 zum ersten Mal darüber berichtet.
Lange Zeit war die Frage nach der Biosynthese der Giftstoffe in der Haut der Frösche offen. Schließlich wurde sie durch die folgenden Beobachtungen in eine völlig neue Richtung gelenkt [14]. Bei Fröschen, die in Gefangenschaft leben, nimmt die Giftmenge in der Haut kontinuierlich ab. In Nachzuchttieren aus Laborhaltung kann man überhaupt keine Batrachotoxine nachweisen. Daraus wurde geschlossen, dass die Frösche die Alkaloide nicht selbst synthetisieren, sondern mit der Nahrung aufnehmen und in ihren Hautdrüsen akkumulieren.
Die natürliche Nahrung der Frösche besteht aus kleinen Arthropoden, z.B. Ameisen, Käfern, Tausendfüßlern, Milben, Fliegen und Springschwänzen. Trotz größter Anstrengungen konnten diese bisher nur vereinzelt identifiziert und untersucht werden. Die wenigen verfügbaren Beispiele zeigen aber, dass die Frösche die Alkaloide unverändert von den Arthropoden übernehmen. Interessanterweise hat sich bei den Phyllobates-Arten ein modifizierter Natriumkanal entwickelt, der nicht mehr auf Batrachotoxine anspricht. Daher können die Frösche unbeschadet die hoch toxischen, batrachotoxinhaltigen Arthropoden fressen.
Die Arthropoden, die den Fröschen als Nahrung dienen, enthalten wahrscheinlich eine Reihe weiterer Alkaloide. Sicher wäre diese wertvolle Naturstoffquelle noch nicht entdeckt worden, wenn nicht die Frösche die Arthropoden-Alkaloide zu ihrer eigenen Abwehr in ihren Hautdrüsen speichern würden. Für die Zukunft wird es eine große Herausforderung sein, die primären Alkaloidquellen, soweit sie noch nicht bekannt sind, zu identifizieren und zu analysieren.
Pfeilgiftfrösche haben außergewöhnliche Fortpflanzungsstrategien entwickelt [12, 13]. Sie nutzen nicht mehr das Wasser als Laichplatz, sondern geschützte, feuchte Stellen an Land (Abb. 11). Folglich ist die Anzahl der Eier gering, verglichen mit dem Gelege von Fröschen, die im Wasser laichen. Da die Larven für ihre Entwicklung nach wie vor Wasseransammlungen benötigen, kehren die Frösche etwa zwei Wochen nach der Laichablage zu ihrem Gelege zurück, versammeln die Kaulquappen auf ihrem Rücken und transportieren sie huckepack zu einer naheliegenden Wasserstelle (Abb. 12). Diese kann z.B. ein kleineres Fließgewässer oder ein Miniaturtümpel in einer Bromelie sein.
Epibatidin
Aufsehen hat in den letzten Jahren der Pfeilgiftfrosch Epipedobates tricolor erregt (Abb. 13). John W. Daly und seine Mitarbeiter beobachteten 1977, dass die aus dem Hautdrüsensekret dieses Frosches gewonnene Alkaloidfraktion bei Mäusen das Straubsche Schwanzphänomen auslöst, eine für Opioid-Agonisten typische, aber nicht selektive Reaktion [16]. Die Vorbehandlung mit dem Opioid-Antagonisten Naloxon unterdrückte diesen Effekt nicht, sodass ein Opioid als Wirkstoff ausschied. Die aktive Verbindung entpuppte sich schließlich als ein Spurenalkaloid, das in einer Konzentration von weniger als 1 Mikrogramm pro Frosch vorkommt. Das war der Grund, warum seine Struktur erst 1992 publiziert wurde.
Das in Anlehnung an den Gattungsnamen Epibatidin genannte Alkaloid hat eine für Naturstoffe außergewöhnliche Struktur: Ein 7-Azabicycloheptan-Grundgerüst ist in Position 2 mit einem 6-Chlorpyridylrest verknüpft. Zahlreiche Arbeiten zur chemischen Synthese von Epibatidin mit seinen drei Chiralitätszentren wurden durchgeführt; schließlich war die enantioselektive Darstellung erfolgreich.
Epibatidin erregte weltweit großes Aufsehen, weil seine analgetische Wirkung die des Morphins etwa 200-mal übertrifft [16, 17]. Darüber hinaus erweckte die nicht opioidvermittelte Wirkung die große Hoffnung, ein neuartiges, stark wirksames Analgetikum ohne die suchterzeugenden Nebenwirkungen der Opioide gefunden zu haben. Folglich wurden detaillierte Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus durchgeführt.
Das Alkaloid zeigt eine hohe Affinität zu nicotinischen Acetylcholinrezeptoren; es ist 120-mal stärker wirksam als Nicotin. Die Strukturähnlichkeit der beiden Verbindungen lässt einen analogen Wirkungsmechanismus bereits vermuten. Aber im Gegensatz zu Nicotin zeigt Epibatidin keine Toleranzentwicklung.
Nicotinische Acetylcholinrezeptoren sind Ionenkanäle durch die Zellmembran, die sich bei Bindung von Acetylcholin oder einem anderen Agonisten öffnen und einen Einstrom von Natriumionen in die Zelle ermöglichen. Sie gliedern sich in zwei Haupttypen, die an Muskelzellen bzw. an Nervenzellen vorkommen.
Zum muskulären Rezeptor, an dem bevorzugt die Curare-Alkaloide angreifen, zeigt Epibatidin nur geringe Affinität. Es bindet bevorzugt an die neuronalen Rezeptoren, die in über zwölf Hirnregionen sowie im Rückenmark lokalisiert sind. Die analgetische Wirkung ist durch Mecamylamin antagonisierbar. Sehr geringe bzw. keine Affinität hat Epibatidin zu anderen neuronalen Rezeptoren wie z.B. Opioid-, Muscarin-, Adreno-, Serotonin- und GABA-Rezeptoren.
Epibatidin ist ein potentes Analgetikum, jedoch für die Anwendung am Menschen zu toxisch. Neben neurotoxischen Reaktionen treten Nebenwirkungen auf, z.B. Reduktion der Körpertemperatur und Hemmung der lokomotorischen Aktivität.
Inzwischen wurden mehr als 500 Derivate des Epibatidins synthetisiert und getestet. Unter ihnen ist das ABT-594 die meistversprechende Verbindung. Es vereint Strukturmerkmale des Epibatidins sowie des Nicotins. ABT-594 wirkt ähnlich stark schmerzhemmend wie das Epibatidin, besitzt aber ein günstigeres Nebenwirkungsprofil. Zudem ist es oral verfügbar. Andere Epibatidin-Analoge wie SIB-1508Y und SIB-1553A sind vielversprechende Kandidaten für die Behandlung der Parkinson- bzw. der Alzheimer-Krankeit.
Weitere Forschungsarbeiten und klinische Studien werden zeigen, ob sich die Hoffnungen, die man in die Epibatidin-Analoge setzt, erfüllen. ABT-594 könnte einen völlig neuen Weg in der Schmerzbehandlung eröffnen. Wiederum hätte dann ein Pfeilgift-Bestandteil auf faszinierende Weise die Entwicklung neuer Therapeutika inspiriert.
Kastentext: Zusammenfassung
- Zur Herstellung von Pfeilgiften werden in den Tropen bestimmte Pflanzen und Tiere mit stark wirksamen Inhaltsstoffen verwendet. Die Gifte führen, wenn sie in die Blutbahn des Opfers gelangen, schnell dessen Tod herbei. Ihre Wirkprinzipien sind unterschiedlich.
- Bei entsprechender Dosierung können die aus den Pfeilgiften isolierten Inhaltsstoffe therapeutische Wirkungen haben. Der erste große Erfolg war die intravenöse Strophanthintherapie von Albert Fraenkel (1906).
- Die Analyse von Pfeilgiften und die Derivatisierung bestimmter Inhaltsstoffe dürften auch in Zukunft zur Entwicklung neuer Arzneistoffe führen.
Literatur: [1] E. McEwen, R.L. Miller, C.A. Bergman: Die Geschichte von Pfeil und Bogen. Spektrum der Wissenschaft (1991) Heft 8, 118 - 125. [2] H. D. Neuwinger: Afrikanische Arzneipflanzen und Jagdgifte - Chemie, Pharmakologie, Toxikologie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1998. [3] N. G. Bisset: Curare. In: S.W. Pelletier (Ed.): Alkaloids: Chemical and biological perspectives, Vol. 8. Springer-Verlag, New York 1992, 1 - 150 [4] N. G. Bisset: Arrow and dart poisons. J. Ethnopharmacol. 25 (1989) 1 - 41 [5] H. D. Neuwinger: Jagdgifte in Afrika. Naturwiss. Rundschau 47 (1994) 89 - 99. [6] E. Patzelt: Letzte Hoffnung Regenwald. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1996. [7] K. Blumberger: Die Entwicklung der Strophanthintherapie durch Albert Fraenkel und Ernst Edens. Die Medizinische 14 (1956) 487 - 490. [8] H. D. Neuwinger: Gift-Gottesurteile in Afrika. Dtsch. Apoth. Ztg. 138 (1998) 1471 - 1484. [9] N. G. Bisset: War and hunting poisons of the New World. Part 1
Im tropischen Regenwaldgürtel kombinieren viele Volksstämme die verwundende Kraft eines Pfeils mit der schädigenden Wirkung eines Giftes. Die bekanntesten Pfeilgifte wie Strophanthin, Curare und Strychnin entstammen dem Pflanzenreich. Sie wirken vornehmlich auf das Herz bzw. die Atemmuskulatur. Seit hundert Jahren werden Pfeilgifte oder ihre Derivate auch therapeutisch eingesetzt. Ganz neu ist die Entdeckung der analgetischen Potenz von Hautsekreten südamerikanischer Pfeilgiftfrösche.
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