- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 21/2001
- Diabetes mellitus: Gefahr...
Arzneimittel und Therapie
Diabetes mellitus: Gefahr durch postprandiale Blutzuckerspitzen
Der Typ-2-Diabetes ist eine Volkskrankheit mit hoher Morbidität und Mortalität. Zu Komplikationen des Typ-2-Diabetes kommt es insbesondere durch Schädigungen der kleinen Arterien (Mikroangiopathie) und der mittleren und großen Arterien (Makroangiopathie bzw. Arteriosklerose). Mikroangiopathische Organkomplikationen betreffen insbesondere die Augen (Retinopathie) bis zur Erblindung und die Nieren (Nephropathie) bis zum Nierenversagen.
Makroangiopathische Komplikationen sind insbesondere Herzinfarkt, Schlaganfall und Durchblutungsstörungen der Beinarterien. Häufig sind mit dem Typ-2-Diabetes verschiedene andere Risikofaktoren wie Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen verbunden, die das hohe Risiko für Gefäßkomplikationen weiter steigern und zusätzlich zur hohen kardiovaskulären Mortalität dieser Patientengruppe beitragen.
Lehren aus der UKPDS
Die United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) an neu entdeckten Typ-2-Diabetikern hat eindeutig gezeigt, dass die diabetesspezifischen Organkomplikationen durch eine verbesserte Blutzuckereinstellung signifikant reduziert werden können. Dabei sind eine diabetesgerechte Ernährung und körperliche Bewegung die Basis der Therapie. Der Großteil der Patienten benötigt jedoch orale Antidiabetika und/oder Insulin, um die vorgegebenen Stoffwechselziele zu erreichen. Ähnlich wie in der Hochdrucktherapie genügt dafür ein einziges Medikament oft nicht: In der UKPDS benötigten nach Diagnosestellung eines Typ-2-Diabetes innerhalb von 3 Jahren 55%, 6 Jahren 70 % und 9 Jahren 85 % der Patienten eine Kombination von Antidiabetika.
Postprandiale Hyperglykämie erfordert neue Behandlungsstrategie
Der postprandiale Blutzucker ist bisher in wissenschaftlichen Studien nur ungenügend berücksichtigt worden. Dies hat überwiegend methodische Gründe, da es bei Langzeitstudien im Rahmen verschiedener Essgewohnheiten (Menge, Zusammensetzung und Dauer der Mahlzeit) kaum möglich ist, diesen Wert einheitlich und standardisiert zu erfassen und zwischen verschiedenen Individuen zu vergleichen.
Anders ist es jedoch mit dem Zuckerbelastungstest. Im Rahmen einer großen Meta-Analyse (DECODE-Studie) von 13 prospektiven europäischen Kohortenstudien wurde bei insgesamt über 18000 Männern und über 7000 Frauen das Mortalitätsrisiko in Abhängigkeit von einem erhöhten Nüchternblutzucker oder einem erhöhten 2-Stunden-Wert nach Zuckerbelastung verglichen. Dabei konnte eindeutig gezeigt werden, dass mit dem erhöhten Nüchternblutzucker alleine das Mortalitätsrisiko nicht angezeigt wird. Dagegen gibt der Blutzuckeranstieg nach oraler Glucosebelastung eine zuverlässige Information über das Mortalitätsrisiko.
Pathophysiologie des Typ 2-Diabetes
Beim Gesunden führt die Aufnahme glucosehaltiger Nahrungsmittel binnen Minuten zu einem hohen Ausstoß von Insulin, der 20 bis 30 Minuten dauert (frühe oder erste Phase), gefolgt von einer flacheren, langanhaltenden Sekretion von 30 bis 180 Minuten, je nach Nahrungszusammensetzung. Die frühe Phase der Insulinsekretion bestimmt den Verlauf des Blutzuckerspiegels, der Blutfettwerte und der Bildung von freien Radikalen nach einem üppigen Mahl. Bereits in der noch nicht klinisch manifesten Phase des Diabetes ist die frühe Insulinsekretion gestört oder fehlt. Der Typ-2-Diabetes beginnt mit einer gestörten postprandialen Glucoseverwertung. In der deutschen Bevölkerung über 40 Jahre lässt sich in Screeninguntersuchungen bei über 20 % eine gestörte Glucosetoleranz nachweisen.
Die klinische Relevanz der postprandialen Glucosespitzen
Bereits in diesem Frühstadium des Diabetes ist die Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen erhöht. Schon bei einem Anstieg der postprandialen Blutglucose über 7,8 mmol/l zwei Stunden nach einer 75-g-Glucosebelastung ist die Intima-Media-Dicke der Carotis signifikant erhöht, und mit der Duplex-Sonografie lassen sich vermehrt arteriosklerotische Plaques nachweisen. Inzwischen liegen zahlreiche konsistente Daten prospektiver Studien vor, die die postprandiale Hyperglykämie bereits im prädiabetischen Bereich und bei neu diagnostizierten Typ-2-Diabetikern als schweren unabhängigen Risikofaktor für Herzinfarkt und Gesamtmortalität bestätigen. Die postprandiale Hyperglykämie war in der "Risk Factors in IGT for Atherosclerosis and Diabetes" (RIAD) Studie auch mit der Albuminurie eng korreliert und muss als Risikofaktor für die diabetische Nephropathie angesehen werden.
Postprandiale Hyperglykämie
Zwei Interventionsstudien belegen die zentrale Bedeutung der postprandialen Hyperglykämie für die Komplikationen des Diabetes: die Diabetesinterventionsstudie (DIS) (M. Hanefeld et al., Diabetologia 1996) und eine Studie zur Diabeteskontrolle bei schwangeren Frauen (de Veciana et al., N. Engl. J. Med. 1995). In der DIS-Studie war eine gute postprandiale Glucosekontrolle mit 36 % weniger Sterbefällen im 11-Jahresverlauf assoziiert als die Kategorie "schlecht eingestellt". Die Odds ratio für kardiovaskuläre Mortalität betrug 2,24.
In der Gestationsdiabetikerstudie hatten Patientinnen, die ihre Insulindosis nach den postprandialen Glucosewerten berechneten, im Vergleich zu den Frauen mit präprandialem Monitoring nicht nur deutlich bessere HbA1C-Werte, sondern auch weniger geburtshilfliche Komplikationen. Die Kinder dieser Frauen hatten auch weniger Missbildungen.
Neben der begründeten Annahme, dass ein rascher und hoher postprandialer Blutzuckeranstieg direkt den Intima-Media-Komplex, besonders das Endothel, schädigt, gibt es eine Vielzahl pathophysiologischer Befunde, die ausweisen, dass die postprandiale Hyperglykämie in komplexer Weise den postprandialen Lipoproteintransport und -abbau, die Redoxbalance und das Gerinnungssystem beeinflusst.
Postprandiale Blutzuckerspitzen induzieren eine langanhaltende Aktivierung der Proteinkinase C, der Aldosereduktase, eine Hyperperfusion von Nieren und Retina und eine verminderte NO-Freisetzung des Endothels. Die postprandiale Hyperglykämie initiiert so einen Circulus vitiosus, der zum einen die B-Zellen des Pankreas schädigt (Glucosetoxizitätstheorie), die Insulinresistenz erhöht und zum anderen die Atherogenese fördert.
Konsequenzen für die Diagnostik und Therapie
Als Konsequenzen ergeben sich Forderungen für Diagnostik und Therapie:
- Postprandiale Blutzucker- und Triglyceridmessungen sollten einen breiten Platz in der Diagnostik einnehmen.
- Die Therapie muss aggressiver sein und normnahe Werte anstreben.
Für das Diabetesmonitoring bedeutet das, ein- bis zweimal pro Woche den Blutzucker zwei Stunden nach den Hauptmahlzeiten zu messen. Die beste Beziehung zum HbA1C besitzt der Blutzuckerwert zwei Stunden nach dem Mittagessen. Der Patient lernt dadurch, die Beziehung zwischen Nahrungsaufnahme und Glykämie besser zu erkennen.
Extrem kurze Halbwertszeit
Jetzt ist ein Aminosäurenderivat, ein Abkömmling des Phenylalanins, als Therapeutikum verfügbar. Das D-Phenylalanin-Analogon Nateglinid setzt an einer anderen Stelle des Sulfonylharnstoffrezeptors an als Sulfonylharnstoffe oder das Benzoesäurederivat Repaglinid. Im Gegensatz zu Repaglinid oder zum Sulfonylharnstoff Glibenclamid, bei denen die Halbwertzeit dieser Bindung etwa 3 Minuten beträgt, liegt diese Halbwertzeit bei Nateglinid bei etwa 2 Sekunden.
Wie an prädiabetischen Affen gezeigt wurde, setzt bei Nateglinid die Insulinfreisetzung rascher ein und klingt rascher ab als bei anderen insulinotropen Substanzen. Gleiches ließ sich auch an Probanden demonstrieren: Der Blutzucker stieg mit Nateglinid nach einer Mahlzeit weniger stark an, und die Absenkung dauerte nicht so lange. Bereits wenige Minuten nach dem postprandialen Glucoseanstieg kommt es zu einer Insulinfreisetzung, die nach 20 bis 30 Minuten ihr Maximum erreicht und nach etwa 3 Stunden auf den Ausgangswert zurückkehrt. Auch an Typ-2-Diabetikern lässt sich mit Nateglinid im Vergleich zu Glibenclamid eine rascher einsetzende Insulinsekretion hervorrufen, die kürzer anhält. Dadurch besteht ein geringeres Risiko einer postprandialen oder auch nächtlichen Hypoglykämie.
Der Vorteil der durch Glucose gesteuerten Wirkung
Ein weiteres Charakteristikum von Nateglinid ist, dass die insulinfreisetzende Wirkung von der Glucosekonzentration abhängig ist. An isolierten Inselzellen wurde gezeigt, dass bei einer Konzentration von 50 mg/dl Glucose durch Nateglinid kein Insulin freigesetzt wird. Wenn die Konzentration auf 150 mg/dl Glucose ansteigt, stimuliert Nateglinid dagegen die Insulinfreisetzung. Bei Typ-2-Diabetikern ließ sich ein vergleichbarer Effekt demonstrieren: Ohne gleichzeitige Mahlzeit wurde kaum Insulin ausgeschüttet, während durch Nateglinid, zusammen mit dem Essen gegeben, eine deutliche Freisetzung ausgelöst wurde.
Eine Vergleichsstudie von Nateglinid mit Glibenclamid ergab unter Nateglinid deutlich geringere Blutzuckeranstiege nach dem Essen. In einer anderen Vergleichsstudie mit Metformin stieg die postprandiale Glucosekonzentration nach Nateglinid ebenfalls weniger an. Bezüglich der Nebenwirkungen findet man folgerichtig mit Nateglinid wesentlich weniger symptomatische oder schwere Hypoglykämien als mit Glibenclamid.
Einnahme kurz vor dem Essen
Aus diesen Tatsachen ergibt sich ein sehr einfaches Einnahmeschema für das neue Präparat: Kurz vor jedem Hauptessen wird eine Filmtablette eingenommen - fällt die geplante Mahlzeit aus, bringt das keine Nachteile für den Patienten. In der Regel ist auch keine Dosistitration erforderlich.
Untersuchungen an Typ-2-Diabetikern ergaben eine deutliche HbA1C-Absenkung für Nateglinid sowohl in der Monotheraphie als auch in der Kombinationstherapie mit Metformin. Auch zusammen mit Insulinsensitizern wirkt Nateglinid günstig: Die vorliegenden Studienergebnisse wurden mit dem jetzt nicht mehr eingesetzten Troglitazon erzielt, es ist aber davon auszugehen, dass mit den Glitazonen der zweiten Generation wie Rosiglitazon und Pioglitazon ähnlich gute Effekte erzielbar sind.
Kastentext: Der Typ-2-Diabetiker - ein Hochrisikopatient
Die meisten Patienten mit Diabetes sterben an arteriell-thrombotischen Komplikationen atherosklerotisch veränderter Gefäße, d. h. meistens am Herzinfarkt. Diabetes ist ein unabhängiger Risikofaktor für diese klinischen Komplikationen. Meistens sind weitere Risikofaktoren wie Dyslipoproteinämie, Hypertonie und Übergewicht ("metabolisches Syndrom") bereits in der prädiabetischen Phase vorhanden. Dieses Stadium wird zwar häufig nicht wahrgenommen, aber die Gefäße sind schon hier atherosklerotisch verändert. Wenn jetzt der Metabolismus nach einer Mahlzeit entgleist und es zu einer verlängerten Hyperglykämie und Hyperlipidämie kommt, kann dies zu einer Aktivierung des Gerinnungssystems führen. Erst im weiteren Verlauf kommt es zu einer Erschöpfung des sekretorischen Betazell-Apparates, dem Sekundärversagen.
Kastentext: Diabeteskontrolle
Zu einer modernen Diabeteskontrolle gehört heute die Trias Nüchternblutzucker, postprandiale Blutglucose und HbA1C. Dafür gelten folgende Zielwerte: Nüchternblutzucker < 6,1 mmol/l, postprandiale Blutglucose < 8 - 9 mmol/l und HbAIC < 6,8%.
Quelle: Prof. Dr. med. Werner Scherbaum, Deutsches Diabetes-Forschungsinstitut an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Professor Dr. med. Helmut Schatz, Medizinische Klinik und Poliklinik der Ruhr-Universität Bochum; Professor Dr. med. Markolf Hanefeld, Zentrum für Klinische Studien, Forschungsbereich Endokrinologie und Stoffwechsel der TU Dresden; Professor Dr. med. Diethelm Tschöpe, Deutsches Diabetesforschungsinstitut an der Heinrich Heine-Universität, Deutsche Diabetes Klinik, Düsseldorf; Einführungs-Pressekonferenz "Starlix (Nateglinid) - reagible Therapie bei Typ-2-Diabetes, Frankfurt/M., 17. Mai 2001, veranstaltet von Novartis Pharma GmbH, Nürnberg und Merck KgaA, Darmstadt.
Für Patienten mit Typ-2-Diabetes werden als ein Risikofaktor der kardiovaskulären Mortalität postprandiale Blutzuckerwellen verantwortlich gemacht. Das neue orale Antidiabetikum Nateglinid (Starlix), das seit Anfang Mai auf dem Markt ist, verhindert den Anstieg des Blutzuckerspiegels nach den Mahlzeiten. Es setzt an einer anderen Stelle des Sulfonylharnstoffrezeptors an als Sulfonylharnstoffe oder Repaglinid und bindet wesentlich kürzer an den Rezeptor als diese Substanzen.
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.