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Arzneimittelforschung: Dynamisch kombinatorische Chemie

Die Entdeckung und Entwicklung neuer Leitstrukturen für Medikamente ist ein mühsamer und teurer Prozess und eine große Herausforderung für die industrielle Pharmaforschung. Üblicherweise müssen Tausende von potenziellen Verbindungen auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden. Mit einer neuen Methode, der dynamisch kombinatorischen Chemie, könnten zukünftig gezielt und schnell Leitstrukturen entdeckt und damit auch die Suche nach neuen Medikamenten wesentlich effektiver gestaltet werden. Die Idee ist, dass sich der Bindungsort für ein Biomolekül (Schloss) sich die dazu passende und therapeutisch nutzbare Verbindung (Schlüssel) selbst synthetisiert.

Schon vor hundert Jahren lehrte der deutsche Chemiker Emil Fischer seinen Studenten an der Straßburger Universität wie verschiedene chemische Verbindungen aufgebaut sein müssen, damit sie miteinander reagieren können: Die Strukturen müssen wie ein Schlüssel zu einem Schloss passen. Diese Vorstellung scheint auch heute noch etwas Faszinierendes zu haben.

Vor etwa zwei Jahren trafen sich fünf hochkarätige international führende Wissenschaftler, unter ihnen der Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn, Professor für Chemie an der Universität Straßburg, zu einem wissenschaftlichen Brain Storming. Dabei wurde die Idee geboren, die dynamisch kombinatorische Chemie zum Auffinden neuer Medikamente zu nutzen. "Wir haben Emil Fischers Schlüssel-Schloss-Prinzip weiterentwickelt. Während man früher untersuchte, ob ein Molekül zu einem bestimmten Protein passt, bringen wir heute eine große Mischung von verschiedenen Molekülen mit einer Zielstruktur zusammen", wie Jean-Marie Lehn erklärte.

Mittels "High-Throughput-Screening" zu einer Vielzahl neuer Verbindungen

Früher war die Entdeckung neuer Leitstrukturen ein oft mühsamer und langwieriger Prozess. Heutzutage geht dies wesentlich schneller, denn die Entwicklung neuer Verfahren der synthetischen Chemie wie der kombinatorischen Chemie hat eine große Anzahl neuartiger Substanzen verfügbar gemacht. Mithilfe rechnergesteuerter Roboteranlagen, des High-Throughput-Screening, können in wenigen Wochen weit mehr als hunderttausend chemische Verbindungen auf ihre biologische Wirkung experimentell geprüft werden. Aus einfachen Ausgangsstoffen lassen sich mehr oder weniger umfangreiche so genannte Bibliotheken an Substanzen herstellen. Diese Bibliotheken werden nach interessanten und aktiven Verbindungen durchsucht, um potenzielle Medikamente zu identifizieren.

Eigenständige Bildung von Molekülen ohne genaue Kenntnis über Zielstruktur

Die zwei erforderlichen Schritte, die Synthese und das Aussuchen von Verbindungen, werden oft als getrennte Aufgaben betrachtet. Die Synthese beinhaltet die Entwicklung neuer chemischer Reaktionen, um die Moleküle herzustellen, während das Aussuchen als Ziel die Identifizierung der biologischen Wirkung dieser Moleküle hat. Das Hauptmerkmal der dynamisch kombinatorischen Chemie ist nun die Vereinigung von Synthese und Aussuchen in einem einzigen Prozess. Der Grundgedanke dabei ist, dass ein Zielmolekül eine bestimmte, aber zunächst unbekannte Information besitzt. Diese Information will man benutzen, um gezielt Schlüssel zum Schloss zu produzieren.

Und so funktioniert das System: In einer Mischung aus verschiedenen Molekülen finden sich einzelne Bausteine zu immer neuen Molekülstrukturen zusammen. Bei der dynamisch kombinatorischen Chemie werden die Bibliotheken nicht als Gruppen individueller Verbindungen hergestellt, sondern sie entstehen als eine "One Pot"-Mischung von Komponenten. Eine wichtige Voraussetzung für diese dynamischen Bibliotheken besteht darin, dass die Komponenten der Mischung in einem dynamischen Gleichgewicht zueinander stehen. Die dynamische Mischung wird, wie jede kombinatorische Bibliothek, so zusammengestellt, dass einige der neu zusammengefügten Strukturen zur räumlichen Konfiguration eines bestimmten Ziel-Biomoleküls passen, das heißt eine hohe Affinität aufweisen. Diese hochaffinen Komponenten können beispielsweise starke Komplexe mit dem Ziel-Biomolekül formen. Wenn nun ein Ziel-Biomolekül der Reaktionsmischung beigefügt wird, werden die effektiven Komponenten durch eine solche Komplexbildung aus dem Gleichgewicht entfernt. Aus thermodynamischen Gründen ist das System bestrebt, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Dies geschieht dadurch, dass immer mehr von der entfernten Komponente nacherzeugt wird.

Anwendbarkeit bewiesen

Die allgemeine Idee der Gleichgewichtsverschiebung ist ein altbekanntes chemisches Prinzip, aber ihre kombinatorische Anwendbarkeit wurde erst vor wenigen Jahren bewiesen. So hat beispielsweise Lehn zusammen mit einem Mitarbeiter an der Straßburger Universität eine dynamische Bibliothek beschrieben, in der Hemmstoffe für das weit verbreitete Enzym Carboanhydrase erzeugt wurden. Die Komponenten dieser Bibliothek entstanden aus der reversiblen Reaktion zwischen Aminen und Aldehyden. In dem System befanden sich die Produkte dieser Reaktion sowohl untereinander als auch mit den Ausgangsverbindungen im dynamischen Gleichgewicht.

Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass nach Zugabe des Ziel-Biomoleküls Carboanhydrase zu der bereits entstandenen dynamischen Bibliothek ein bestimmtes Molekül bevorzugt gebildet wurde. Offensichtlich konnten die funktionellen Gruppen der Ausgangsmoleküle die Bindungsstellen auf dem Zielmolekül (Carboanhydrase) erkennen. Es zeigte sich darüber hinaus, dass dieses mit hoher Affinität bindende Molekül mit dem bekannten Inhibitor der Carboanhydrase praktisch identisch war.

Eines der wichtigen Merkmale der dynamisch kombinatorischen Chemie ist, dass für die Evolution der Bibliotheken keine detaillierten Kenntnisse über die Struktur des Ziel-Biomoleküls notwendig sind. Daher könnte dieses neue Verfahren nach Meinung von Experten besonders geeignet sein, neue Ziele zu verfolgen und die Entdeckung von Leit-Molekülen voranzutreiben. Vor allem will man mit dieser Methode neue Medikamente entdecken und entwickeln.

Quellen: Pressemitteilung der Therascope AG, Heidelberg, 19. 7. 2000. Huc, I., Lehn, J.-M.: Virtual combinatorial libraries: Dynamic generation of molecular and supramolecular diversity by self-assembly. Proc. Natl. Acad. Sci. 94, 2106–2110 (1997). Ramström, 0., Lehn, J.-M.: In-situ-generation and screening of a dynamic combinatorial Carbohydrate Library against concanavalin A. Chembiochem 1, 41–48 (2000). Nicolaou, K. C., et al.: Target-accelerated combinatorial synthesis and discovery of highly potent antibiotics effective against Vancomycin-resistant bacteria. Angew. Chem. 112, 3981–3986 (2000). Goral, V., et al.: Double-level "orthogonal" dynamic combinatorial libraries an transition metal template. Proc. Natl. Acad. Sci. 98 (4), 1347–1352 (2001). Eliseev, A. V., Lehn, J.-M.: Dynamic combinatorial chemistry: Evolutionary formation and screening of molecular libraries. In: Current topics in Microbiology and Immunology 234, 159–172. Springer-Verlag Berlin Heidelberg (1999).

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