Arzneimittel und Therapie

Harnstoffzyklusdefekte: Wenn Ammoniak den Körper vergiftet

Der Harnstoffzyklus ist ein äußerst sensibles System. Wird dieser Kreislauf gestört, beispielsweise durch einen genetischen Defekt, so wird jede einzelne Zelle des Körpers mit hochgiftigem Ammoniak überschwemmt. Dabei entstehen vor allem im Gehirn irreparable Schäden, die je nach Ausprägung des Defektes - und dem Zeitraum, der zwischen den ersten Symptomen und Therapiebeginn liegt - von einer leichten Entwicklungsstörung bis zum Tod reichen können.

Die kleine Veronika M. quengelt nie an der Supermarktkasse. Und ihre Eltern wären sicher manchmal froh, wenn sie um einen dicken Burger oder den neuesten Schokoriegel betteln würde. Doch Veronika ist fast immer "pappsatt". Das 6-jährige Mädchen leidet nämlich am OTC-Defekt, der am häufigsten vorkommenden Form der Harnstoffzyklusdefekte.

Genetisch bedingte Störung des Stoffwechsels

Eine Volkskrankheit ist der OTC-Defekt (Ornithintranscarbamylase-Mangel) damit aber noch lange nicht. Die Harnstoffzyklusdefekte gehören nämlich zu den "Orphan"-Erkrankungen: Krankheiten, die extrem selten vorkommen, sodass sich dieser "Waisenkinder der Medizin" kein großer Pharmakonzern annimmt.

Die Erforschung und Vermarktung entsprechender Medikamente ist aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen unwirtschaftlich. Von den Harnstoffzyklusdefekten ist beispielsweise "nur" etwa 1 von 10000 Kindern betroffen. Die Erkrankung zeigt sich häufig bereits beim Neugeborenen, da ihr - wie den meisten Orphan-Krankheiten - eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung zugrunde liegt. Da die Erkrankung so selten auftritt, ist sie vielen Medizinern gar nicht bekannt. Es kann vorkommen, dass Ärzte - in Praxis wie in Klinik - während ihres ganzen Berufslebens nie mit diesem Leiden konfrontiert werden.

Der lange Weg zu Diagnose und Therapie

Auch bei Veronika dauerte es über 6 Monate, bis ihre schwere Erkrankung richtig diagnostiziert und behandelt wurde. Die ersten Symptome machten sich im Alter von 9 Monaten bemerkbar. Nachdem Veronika nicht mehr gestillt - und damit eiweißreicher ernährt wurde - erkrankte sie wiederholt an Mittelohrentzündungen und anderen fiebrigen Infekten. Sie hatte schwere Schlafstörungen und erbrach nachts. Der mehrmals wöchentlich aufgesuchte Kinderarzt sowie die von diesem verabreichten Antibiotika konnten Veronika nicht helfen. Das Kleinkind musste sich einer stationären Antibiotikakur unterziehen, ohne dass ihr Gesundheitszustand sich besserte.

Am Nikolaustag 1995 erlitt Veronika dann ihre erste schwere Stoffwechselentgleisung. Sie war apathisch, kurzzeitig sogar bewusstlos. Die verzweifelten Eltern wurden an diesem Mittwochnachmittag von zwei Krankenhäusern, die keine Kinder behandeln, abgewiesen. Niemand konnte Familie M. Hinweise geben, an wen sie sich mit ihrem schwer kranken Kind wenden können.

Letztendlich fuhren sie in eine Kinderklinik, wo mithilfe einer einfachen Blutuntersuchung die Diagnose OTC-Defekt gestellt und mit der Therapie begonnen wurde. Der Ammoniakgehalt im Blut der kleinen Veronika betrug damals 500 mmol/Liter. (Bei gesunden Kindern liegt der Wert zwischen 26 und 47 mmol/Liter.) Insgesamt vergingen von der Entgleisung bis zur angemessenen Therapie 5 Tage. Im folgenden Jahr war der Zustand des kleinen Mädchens noch sehr labil, sodass schon geringste Infekte einen Krankenhausaufenthalt zur Folge hatten.

Ein normales Kinderleben?

Alltag gibt es bei Familie B. nicht. Jeden Tag muss die Familie Veronika ununterbrochen auf Trab halten, sie motivieren, damit sie sich nicht in sich zurückzieht und die Krankheit die Oberhand gewinnt. Um Veronika zum Essen und zur Einnahme der zahlreichen Medikamente zu bewegen, müssen ständig Anreize geschaffen werden. Zu 95% wird das Mädchen, das nie Hunger verspürt, gefüttert. Der Verzicht auf eine Mahlzeit führt in den meisten Fällen schon am nächsten Tag zur Krise.

Trainingsplan für Medikamenteneinnahme

Gerade bei Harnstoffzyklusdefekten muss eine optimale Energieversorgung gewährleistet sein, um einer erneuten Stoffwechselentgleisung vorzubeugen. Jede Gewichtsabnahme und jeder Infekt kann eine lebensbedrohliche Krise zur Folge haben. Das heißt, dass der Speiseplan der kranken Kinder kaum Eiweiß, aber viel Fett, Kohlenhydrate und Flüssigkeit enthalten muss. So gehören beispielsweise 70 g Sahne zu Veronikas Standardfrühstück, 30 bis 40 g Maltodextrin erhält sie zu jedem Mittagessen. Damit ihre Tochter durch die Einnahme der Medikamente nicht den Geschmackssinn verliert, verpacken die Eltern die verschiedenen Arzneien in Kapseln. Hierfür haben sie sich eine Maschine anfertigen lassen, mit deren Hilfe sie eine besonders große Menge der Substanzen in die einzelnen Kapseln füllen können. Insgesamt schluckt Veronika über den Tag verteilt 44 der Riesenkapseln, manchmal bis zu 15 auf einmal. Pro Woche benötigt sie damit allein 10 Stunden zur Medikamentenaufnahme; und das, nachdem die Eltern ihr mit viel Liebe und Geduld die Medikamenteneinnahme nach einem regelrechten Trainingsplan - von der kleinsten Tablette bis zur extra großen Kapsel - beigebracht haben.

Die richtige, genau auf die jeweilige Ausprägung der Krankheit abgestimmte, medikamentöse Therapie - allem voran mit Natriumphenylbutyrat (Ammonaps) - ist bei Harnstoffzyklusdefekten lebenswichtig. Mit dieser Substanz kann Ammoniak ganz gezielt "eingefangen" und anschließend mit dem Urin ausgeschieden werden.

Symptome in den ersten Lebenstagen

Bei Jonas zeigten sich die ersten Symptome des OTC-Defektes schon eine Woche nach der Geburt. Der Junge wollte keine Nahrung zu sich nehmen, erbrach häufig, war permanent schläfrig und zeigte ein ungewöhnliches Stöhnen. Verschiedene Therapieversuche schlugen fehl. Erst nach drei Wochen wurde in einer Kinderklinik der stark erhöhte Ammoniakgehalt in Jonas' Blut festgestellt. Eine Stoffwechselexpertin aus einer Universitätsklinik gab telefonisch die Behandlungsstrategie durch. Ein Taxi holte die entsprechenden Medikamente in der Klinikapotheke ab, sodass der Ammoniakwert in den folgenden Tagen auf das normale Niveau sank. Nach zwei Wochen konnte Jonas das Krankenhaus verlassen.

Um auch zu Hause die hochkalorische Diät sowie die Einnahme der Medikamente zu gewährleisten, erhielt der kleine Jonas bereits im Alter von 4 Monaten eine Magensonde, bis er im Alter von 5 Jahren freiwillig auf schlecht schmeckende Spezialnahrung umstieg und die zahlreichen, oft bitter schmeckenden Medikamente schluckte. In den ersten fünf Lebensjahren musste er trotzdem etwa 3-mal jährlich wegen heftiger Stoffwechselentgleisungen stationär behandelt werden. Durch diese kritischen Stoffwechselsituationen und die damit verbundenen Ammoniakvergiftungen entspricht Jonas Entwicklung in etwa der von drei Jahre jüngeren Kindern. Seine Fein- und Grobmotorik sowie das Konzentrationsvermögen sind beeinträchtigt, sodass der fröhliche Junge die Förderschule besucht.

Belastung für die ganze Familie

Jonas und Veronika gehören sicher zu den Kindern mit Harnstoffzyklusdefekten, die Glück gehabt haben. Doch auch wenn Jonas mit seinem Vater draußen rumtollt oder Veronika mit ihren Freundinnen spielt, kann dies nicht über die enormen Belastungen hinwegtäuschen, die der Harnstoffzyklusdefekt für die ganze Familie mit sich bringt. Denn wenn Jonas und Veronika toben, können sie das nie unbeaufsichtigt tun. Schließlich muss ständig Flüssigkeit und Nahrung bereitgehalten werden, um die beim Spielen verbrauchte Energie sofort wieder zu ersetzen. Dazu kommt der Druck, den die Eltern immer wieder auf ihre Kinder ausüben müssen, damit die Kleinen die richtige Nahrung wie auch die Medikamente zu sich nehmen. Manchmal hilft nur noch Erpressung oder die Warnung vor dem Tod - eine unermessliche Belastung für die Eltern-Kind-Beziehung.

Kastentext: Therapie oft erst viel zu spät

Das Mittel der Wahl zur Therapie von Harnstoffzyklusdefekten ist heute Natriumphenylbutyrat. Es besteht auch Hoffnung, dass langfristig noch wirksamere Behandlungen in Form der Enzymersatz- und Gentherapie zur Verfügung stehen.

Eine endgültige Heilung der Harnstoffzyklusdefekte ist im Moment - wie bei allen genetischen Defekten - noch nicht möglich. Ein Bewusstsein für diese seltenen Erkrankungen sowie die schnellstmögliche Diagnose und Therapie kann den Betroffenen und ihren Familien jedoch viel Leid ersparen.

Kastentext: Gefährliche Ammoniakvergiftung

Bei Harnstoffzyklusdefekten ist der Eiweißstoffwechsel gestört. Der Körper benötigt Eiweiß, um daraus Energie zu gewinnen oder andere wichtige Bausteine zu bilden. Dazu muss das Eiweiß jedoch erst mithilfe von Enzymen in kleinere Bausteine zerlegt werden. Dabei entsteht Ammoniak. Ammoniak ist jedoch giftig, sodass es schnell weiterverarbeitet werden muss. Die Ammoniak-Entgiftung findet in der Leber statt. Dort wird das Ammoniak in geruchlosen Harnstoff umgewandelt und über die Nieren ausgeschieden. Die Entgiftung des Ammoniaks läuft in mehreren Schritten in einer Art Kreisverkehr ab - daher die Bezeichnung "Harnstoffzyklus". Diese Abbauprozesse werden durch Enzyme geregelt. Wenn eine Störung des Harnstoffzyklus vorliegt, fehlt eines der Enzyme oder es funktioniert nicht richtig. Die Entgiftung des Ammoniaks in der Leber erfolgt also gar nicht oder nicht vollständig. Dies führt zu einer Überschwemmung von Gewebe und Blut durch das giftige Ammoniak.

Kastentext: Vielfältige Symptome

Die Symptome können in sehr unterschiedlicher und vielfältiger Form auftreten. Einige typische Anzeichen für Harnstoffzyklusdefekte sind:

  • Trinkschwäche (bei Säuglingen)
  • Stöhnen (bei Säuglingen)
  • wiederholtes Erbrechen
  • Phasen mangelnder Aufmerksamkeit
  • Bewusstseinsstörungen
  • unsichere Bewegungen (Ataxie)
  • Entwicklungsstörungen
  • Apathie
  • Lethargie
  • zentralnervöse Symptome bis zum Koma
  • Hirnblutungen
  • Leber- und Nierenversagen.

Besteht der Verdacht auf einen Harnstoffzyklusdefekt, so ist unverzüglich noch vor der Diagnose mit der medikamentösen Behandlung zu beginnen. Zeit ist der wichtigste Faktor, um Hirnschäden zu vermeiden. Oftmals verschlechtert sich der Zustand der Patienten in rasantem Tempo, sodass sie zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits im Koma sind.

Kastentext: Vorbildliches Neugeborenen-Screening in Bayern

Häufig wird der Harnstoffzyklusdefekt erst nach dem Tod eines Säuglings festgestellt. Harnstoffzyklusdefekte machen sich oft am 2. Lebenstag des Neugeborenen bemerkbar. Wenn dann nicht unverzüglich mit der Diagnose und der Behandlung begonnen wird, verstirbt das Kind. Dabei ermöglicht schon eine einfache Blutuntersuchung nach der Geburt die richtige Diagnose und Therapie. Vorbildcharakter hat hier Bayern, das als einziges Bundesland ein landesweites Screening für Neugeborene eingeführt hat.

Der Harnstoffzyklus ist ein äußerst sensibles System. Wird dieser Kreislauf gestört, beispielsweise durch einen genetischen Defekt, so wird jede einzelne Zelle des Körpers mit hochgiftigem Ammoniak überschwemmt. Dabei entstehen vor allem im Gehirn irreparable Schäden, die je nach Ausprägung des Defektes – und dem Zeitraum, der zwischen den ersten Symptomen und Therapiebeginn liegt – von einer leichten Entwicklungsstörung bis zum Tod reichen können.

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