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Abschiedssymposium für Otto Sticher: Von der Ethnopharmazie zur molekularen Pharmakognosie

An der ETH Zürich geht eine Ära zu Ende: Prof. Dr. Otto Sticher, Ordinarius für Pharmakognosie und Phytochemie, wurde mit Ablauf des Wintersemesters emeritiert. Aus diesem Anlass veranstalteten seine Kollegen und zahlreichen Schüler ihm zu Ehren am 25. März im Auditorium maximum der ETH ein internationales Abschiedssymposium. Es stand unter dem Motto "Von der Ethnopharmazie zur molekularen Pharmakognosie".

Beliebter Lehrer und Doktorvater

Als Vorsteherin des Departements Angewandte Biowissenschaften, zu dem die Pharmazie an der ETH gehört, begrüßte Prof. Dr. Heidi Wunderli-Allenspach die gut 200 Teilnehmer des Symposiums. Sie erinnerte daran, dass Sticher nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehre Großartiges geleistet habe. Pro Semester habe er etwa 60 Apotheker ausgebildet, und die Studenten haben ihm einmal den Unterrichtspreis für die beste Lehre zuerkannt.

Als Vertreter des Arbeitskreises von Professor Sticher würdigte Dr. Jörg Heilmann dessen Lebenswerk. Sticher hat über 50 Doktoranden zur Promotion geführt, die mit Namen auf den Ginkgo-artigen Blättern eines Doktorandenbaums Stichera ottensis (Dissertaceae) verzeichnet waren.

Ferner erhielt Sticher von seinen Ehemaligen einen mit Insignien seiner Forschung geschmückten "Doktorvaterhut". Daran hing auch eine Miniaturnachbildung des Lehrbuches "Pharmakognosie – Phytopharmakognosie" von Steinegger und Hänsel, dessen neueste Auflage von Sticher mitherausgegeben wurde.

In rebus scientiae pharmacognosiae

Die Veranstaltung gliederte sich in einen persönlichen und einen wissenschaftlichen Teil mit den Sprachen Deutsch bzw. Englisch. Dennoch war das Symposium dreisprachig, denn Prof. Dr. Götz Harnischfeger, Salzgitter, ließ es sich nicht nehmen, seine Laudatio in klassischem Latein zu halten. Als Mitglied der Expertengruppe 13B der Europäischen Arzneibuch-Kommission in Straßburg hob er hervor, dass Sticher dort seit 1987 "in rebus scientiae pharmacognosiae" fruchtbar mitgearbeitet habe.

Ein kleiner GA-Gipfel

Prof. Dr. Rudolf Bauer, Graz, sprach in seiner Eigenschaft als Präsident der Gesellschaft für Arzneipflanzenforschung (GA), jener internationalen Gesellschaft, in der Sticher seine wissenschaftliche Heimat gefunden hat und deren Präsident er sechs Jahre lang gewesen ist (s. Kasten). Mitglieder der GA aus aller Welt waren zahlreich zum Festakt erschienen gaben ihm dadurch den Charakter eines kleinen GA-Gipfels.

Bauer zeigte mehrere Verknüpfungspunkte in Stichers Vita und der Geschichte der GA auf: Als die GA 1963 ihren ersten Kongress außerhalb Deutschlands veranstaltete, nämlich in Zürich, wurde Sticher Mitglied. 1977 war er es, der den zweiten GA-Kongress in Zürich organisierte und dabei eine wichtige Neuerung auf dem Weg zur weiteren Internationalisierung einführte: Alle Referenten mussten ihre Zusammenfassungen ("abstracts") auf Englisch einreichen. Sticher wurde damals zum Präsidenten gewählt und setzte auch in diesem Amt neue Zeichen, indem er z. B. die Zusammenarbeit mit den Schwestergesellschaften in Frankreich und den USA verstärkte. Im Jahr 2000 schließlich führte Sticher den "Millennium Congress" der GA in Zürich durch, der mit 650 Teilnehmern aus 55 Ländern ein Höhepunkt in der Geschichte der GA war.

Auch als Organisator von Workshops und als langjähriger Mitherausgeber der Zeitschrift Planta Medica hat Sticher sich um die internationale Arzneipflanzenforschung verdient gemacht. Der GA-Vorstand hat deshalb beschlossen, Sticher während des kommenden Kongresses in Barcelona die Ehrenmitgliedschaft zu verleihen.

Es begann in einer Mühle

Einen umfassenden Rückblick auf das Leben und das Lebenswerk Stichers hielt Prof. Dr. Adolf Nahrstedt, Münster. Sticher wurde am 8. Oktober 1936 in Hochdorf im Kanton Luzern als Sohn eines Müllers und Landwirts geboren. Seine höhere Schulbildung erhielt er im Internat des Benediktinerklosters Maria Einsiedeln. Nach dem Studium der Pharmazie an der ETH und anschließender Approbation (1962) fertigte er bei dem Pharmakognosten Prof. Dr. Hans Flück eine Dissertation über die Variabilität ätherischer Öle in Mentha-Arten an, in deren Rahmen er bereits gaschromatographische Methoden anwandte (1965 Promotion).

Danach arbeitete Sticher bis 1967 in einer Öffentlichen Apotheke in Winterthur. Diesem Zwischenspiel in seiner wissenschaftlichen Karriere maß er für sein berufliches Selbstverständnis als Hochschullehrer der Pharmazie eine große Bedeutung bei.

An die Hochschule zurückgekehrt, habilitierte Sticher sich 1970 mit einer Arbeit über die Iridoidglucoside in Asperula odorata (Waldmeister), Galeopsis tetrahit (Hanfnessel) und Thevetia peruviana an der ETH. 1972 wurde er dort zum Extraordinarius, 1979 zum Ordinarius ernannt.

Mekka der Phytochemie

Wie Nahrstedt darlegte, verstand Sticher es, Zürich zu einem "Mekka der Phytochemie" zu machen. Er knüpfte Verbindungen in alle Welt, zog Doktoranden aus Nah und Fern an, schickte sie teilweise zur Feldforschung nach Übersee und führte selbst Forschungsreisen nach Mexiko, Venezuela und Papua-Neuguinea durch. Andererseits begeisterte er seine ausländischen Studenten bei seinen alljährlichen botanischen Exkursionen in die Schweizer Alpen.

Den Schwerpunkt seiner Forschung legte Sticher anfangs auf die Analytik der Inhaltsstoffe von Arzneidrogen bzw. -pflanzen, für die er auch neue präparative DC-Methode entwickelte. Seine Favoriten unter den Standarddrogen, deren phytochemische Charakterisierung er weiter vorantrieb, waren Weidenrinde, Weißdorn, Ginkgo und Ginseng. Neben diesen Klassikern stehen viele exotische Pflanzen, die er erstmals einer gründlichen Analytik unterzogen hat.

Da bis etwa 1990 die Strukturaufklärung der Pflanzeninhaltsstoffe eine routinemäßige Angelegenheit geworden war, verlegte Sticher seinen Forschungsschwerpunkt seither auf die Testung ihrer biologischen Aktivität. Mit ihrem Screening nach pharmakologisch interessanten Substanzen aus der Natur befinden sich die Pharmazeutischen Biologen nunmehr in einem Wettstreit mit den Chemikern, die den Pharmakologen neue Synthetika zur Testung anbieten. Nahrstedt kommentiert die gegenwärtige Situation, die auch für die Zukunft optimistisch stimme, so: Die Natur sei immer noch fantasievoller als der Chemiker in seinem Labor.

Ethnobotanik und -pharmazie

Das wissenschaftliche Symposium gestalteten sechs ehemalige Doktoranden bzw. Postdocs von Professor Sticher mit ihren Referaten. Prof. Dr. Michael Heinrich, London, umriss die Aufgaben der Ethnopharmazie, die als Zweig aus der Ethnobotanik hervorgegangen ist und sich in den letzten zehn Jahren profiliert hat. Der Feldforscher muss zunächst einmal die relevanten Pflanzen identifizieren, was allein schon einen längeren Aufenthalt erforderlich macht, er muss ihren arzneilichen Gebrauch in quantitativer und qualitativer Hinsicht erfassen und denselben sowohl von dem indigenen medizinischen System her verstehen als auch nach einer Plausibilität im Sinne unserer westlichen Wissenschaft suchen.

Es zeigt sich immer wieder, dass der Arzneipflanzengebrauch sehr stark von der Geschichte geprägt ist. So gibt es erwiesenermaßen "alte" und "junge" Arzneipflanzen und natürlich auch solche Pflanzen, die von unmittelbar benachbarten Stämmen entweder als Arzneipflanzen angesehen werden oder aber nicht.

Die Ethnopharmazie sieht ihre Aufgabe u. a. darin, im Sinne der Rio-Konvention zur Erhaltung der Natur und ihrer nachhaltigen Nutzung beizutragen. Durch ihre eigenen Forschungen, die ja immer in Kontakt mit einheimischen Gewährsleuten vonstatten gehen, bewirken westliche Wissenschaftler, dass auch die Einheimischen ihre traditionellen Arzneipflanzen wieder höher schätzen und für ihren Erhalt sorgen. Zudem können Ethnopharmazeuten dazu beitragen, die Zubereitung der traditionellen Drogen zu optimieren und damit ihre Wirksamkeit zu steigern.

Den bisweilen in der Öffentlichkeit geäußerten Vorwurf, dass Ethnopharmazeuten durch ihr "Bioprospecting" zur Ausbeutung der dritten Welt beitragen, wies Heinrich zurück. Im Gegenteil: Nur das Interesse der internationalen Wissenschaft und des internationalen Marktes berechtige zu der Hoffnung, dass uns und auch den Einheimischen die noch ungehobenen tropischen Arzneischätze erhalten bleiben.

Agnus castus – rationale Phytotherapie bei PMS

Über ein Lehrstück guter Zusammenarbeit zwischen Universität und pharmazeutischer Industrie berichtete Prof. Dr. Beat Meier, Basel, am Beispiel von Arzneimitteln gegen das prämenstruelle Syndrom (PMS), die aus Extrakten der Früchte des Keuschlamms (Vitex agnus-castus) hergestellt werden.

Vom PMS sind etwa 30 Prozent der Frauen im Alter von 16 bis 40 Jahren betroffen. Trotz dieser hohen Inzidenz ist es erst seit etwa 1990 systematisch erforscht worden. Zur Bekämpfung der Symptome nehmen viele Frauen Analgetika ein; auch Vitamin B6, Hormone und psychotrope Wirkstoffe werden verordnet.

Die Fa. Zeller in Romanshorn entwickelte zur Therapie des PMS ein Präparat auf der Basis von Agnus castus, dessen phytochemische und pharmakologisch-klinische Untersuchung Gegenstand von drei Dissertationen und zwei Diplomarbeiten der Universität Basel und der ETH Zürich war. In plazebokontrollierten Studien wurde seine Wirksamkeit bewiesen. Eine Zusammenfassung erschien letztes Jahr im renommierten British Medical Journal.

Charakteristische Inhaltsstoffe des Extraktes sind Linolensäure, das lipophile Flavonoid Casticin, Flavonoid- und Iridoidglykoside sowie Diterpene, denen vermutlich der Hauptanteil an der pharmakologischen Wirkung zukommt. Der Wirkungsmechanismus beruht auf der Bindung an Dopamin-Rezeptoren (Subtypen D2 und D3) und Opioid-Rezeptoren.

Arzneipflanzen der Türkei

Die etwas traditionellere Arbeitsweise der Pharmakognosie präsentierte Prof. Dr. Ihsan Calis, Istanbul, am Beispiel seiner phytochemischen Erforschung türkischer Arzneipflanzen. Von den etwa 10 000 heimischen Spezies – darunter 2700 Endemiten – seiner Heimat stellte er insbesondere solche Pflanzen vor, die Iridoide, Secoiridoide sowie Phenylethanoide oder -propanoide enthalten. Calis hat u. a. 40 (Seco-)Iridoidglykoside neue entdeckt, darunter einige mit außergewöhnlichen Strukturen wie das chlorhaltige Glutinosid aus Verbascum-Arten. Auch die 27 neu entdeckten Phenylethanoide liegen in Form von Glykosiden vor, wobei die Anzahl der Zucker von eins bis drei schwankt.

Die pharmakologische Testung der Substanzen zeigte insbesondere antiinflammatorische Effekte, die auf die Hemmung von Enzymen wie 5-Lipoxygenase, cAMP-Phosphodiesterase, Aldosereductase und Proteinkinase C zurückzuführen sind.

Hoffnung auf neue pflanzliche Krebsmittel

Prof. Dr. Douglas Kinghorn, Chicago, berichtete über die aktuelle Lage der Phytotherapie und ihrer Grundlagenforschung in den USA. Nachdem der amerikanische Kongress 1994 durch die Verabschiedung des Dietary Supplement Health and Education Act die Markteinführung von pflanzlichen Präparaten erleichtert hatte, gab es einen Boom von Phytopharmaka – mit den Spitzenreitern Ginkgo, Echinacea, Hypericum, Ginseng und Knoblauch.

Während die Wirtschaft sich darüber freute, hatten kritische Wissenschaftler die Entwicklung wegen mangelhafter Qualitätskontrolle mit gemischten Gefühlen gesehen. Nachdem das Wachstum inzwischen zum Stillstand gekommen ist, hat sowohl bei der Regierung als auch bei der Wirtschaft ein Umdenken eingesetzt. An vier Universitäten wurden mit staatlicher Unterstützung Botanical Dietary Supplement Research Centers eingerichtet, die nun zur Verbesserung der Produkte dieses Marktsegments beitragen sollen.

Auch das Screening nach neuen pflanzlichen Wirkstoffen wird in den USA stärker gefördert, seitdem die "herbal remedies" populär geworden sind. So hat das National Cancer Institute ein Forschungsprojekt über Plant-Derived Anticancer Agents ins Leben gerufen und Kinghorn zu dessen Leiter ernannt. Auch der Erfolg des aus der Kalifornischen Eibe isolierten Krebsmittels Paclitaxel hat die neue Forschungspolitik beeinflusst.

Kinghorn hat nun schon mehrere pflanzliche Substanzen als potenzielle Krebsmittel in der Pipeline, wie

  • Betulinsäure aus Ziziphus mauritiana,
  • Pervillein, ein Tropanalkaloid aus einer madegassischen Erythroxylon-Art, und
  • Aromatasehemmer aus Broussonetia papyrifera.

Die aus groß angelegten Studien gewonnene Erkenntnis, dass der häufige Genuss von Früchten und Gemüsen das Krebsrisiko mindert, lässt hoffen, dass es gelingt, in Pflanzen noch viele antitumoröse Substanzen zu finden.

Vom Werkzeug des Pharmazeutischen Biologen

Prof. Dr. Kurt Hostettmann, Lausanne, sah die zukünftigen Aufgaben der Pharmazeutischen Biologie gleichermaßen bei der Wirkstoffforschung wie bei der Qualitätskontrolle. Dabei werden die angewandten Methoden immer vielfältiger, zumal manche ältere Methode unverzichtbar bleibt.

Das Screening ist weitgehend automatisiert und mit Datenbanken vernetzt worden, sodass einerseits ein hoher Durchsatz gewährleistet und andererseits das "Wiederentdecken" längst bekannter Substanzen vermieden wird. Bereits bei fraktionierten Extrakten lassen sich mit Hilfe von Spektroskopie und Datenvergleich viele Inhaltsstoffe erkennen, ohne dass man sie als Reinsubstanzen isoliert hat. Die pharmakologisch-toxikologische Testung beschränkt sich nicht auf die Reinsubstanzen, sondern bezieht auch Strukturmodifikationen mit ein.

Auch im High-Tech-Zeitalter lassen sich viele Drogen immer noch am schnellsten mit dem Mikroskop identifizieren. Es sei bedauerlich, so Hostettmann, dass diese Methode immer mehr vernachlässigt wird. So lässt sich der offizinelle Sternanis (Illicium verum) mikroskopisch klar vom giftigen Japanischen Sternanis (I. anisatum) unterscheiden. Da dieses Fachwissen aber kaum noch vorhanden ist, ist in Frankreich der Verkauf von Sternanis nunmehr gesetzlich verboten, nachdem es auf einem Weihnachtsmarkt in Straßburg zu einer Verwechslung von echtem und falschem Sternanis gekommen war. Ein zukunftsträchtiges Aufgabengebiet der Pharmazeutischen Biologie erblickt Hostettmann in der Erforschung gentechnisch veränderter Pflanzen wie Soja, Kartoffel oder Mais.

Neue zytotoxische Substanzen

Dr. Jörg Heilmann, Zürich, referierte über natürliche zytotoxische Substanzen. Das moderne Screening versucht, den Wirkungsmechanismus neu entdeckter Substanzen auf molekularbiologischer Ebene nachzuweisen. Hier gilt es, die Wechselwirkungen mit Faktoren, die die Gen-Expression und -Transkription regulieren, nachzuweisen. Die Vervielfältigung der DNA mit Hilfe verschiedener PCR-Techniken gehört hier schon zur Routine. Die Innovation liegt vor allem bei der Etablierung neuer zellulärer Testsysteme.

Heilmann arbeitet mit einer Krebszelllinie (Jurkat T) und peripheren mononukleären Blutzellen (PMBC) gesunder Freiwilliger. So misst er in vitro die Veränderung spezifischer mRNA-Sequenzen, die zur Synthese von Zytokinen und Transkriptionsfaktoren führen, durch pflanzliche Wirkstoffe. Dabei hat er z. B. festgestellt, dass Catechin keinen Einfluss auf die Gentranskription hat, im Gegensatz zu Hypericin oder Capsaicin. Weitere Untersuchungen konzentrieren sich auf Sesquiterpenlactone des Guaianolid- und Pseudoguaianolidtyps und Lignane. Beim Screening von Pflanzen aus Papua-Neuguinea fand Heilmann im Rhizom der Zingiberacee Amomum aculeatum eine völlig neue Klasse sehr zytotoxischer Substanzen.

Nachdem sich noch einmal alle Doktoranden um Professor Sticher versammelt hatten, klang das zu seinen Ehren veranstaltete Symposium mit einem Stehempfang aus.

Kastentext: Prof. Otto Sticher und die GA

1963 Mitglied 1975 Mitglied im erweiterten Vorstand (bis 1996) 1977 Organisation der 25. Jahrestagung in Zürich 1978 Präsident (bis 1988) 1984 Vizepräsident (bis 1988) 2000 Organisation der 48. Jahrestagung in Zürich

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