Arzneimittel und Therapie

Phytopharmaka: Johanniskraut bei schwerer Depression?

Johanniskraut ist wieder in die Diskussion geraten. Schuld daran ist diesmal die fehlende Überlegenheit eines Johanniskraut-Extrakts gegenüber Plazebo in einer amerikanischen Doppelblindstudie. An der Studie nahmen 340 Patienten mit schwerer Depression teil. Überraschenderweise schnitt aber auch Sertralin (Zoloft®) bei den primären Wirksamkeitskriterien nicht besser ab als Plazebo.

Mit Extrakten aus Johanniskraut (Hypericum perforatum) werden Depressionen unterschiedlichen Schweregrads behandelt. Eine Metaanalyse im Jahr 1996 ergab, dass Johanniskraut in der Therapie leichter bis mäßiger Depressionen gegenüber Plazebo überlegen ist. Unklar war bislang die Wirksamkeit von Johanniskraut-Extrakten bei schwerer Depression ("Major Depression" laut DSM IV = Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen).

Ein gut charakterisierter Johanniskraut-Extrakt (LI-160 der Firma Lichtwer Pharma) wurde in einer US-amerikanischen Studie auf Wirksamkeit und Sicherheit bei Patienten mit schwerer Depression untersucht. Der Extrakt war auf 0,12 bis 0,28% Hypericin standardisiert. Die entscheidende Frage war, ob der Extrakt in einer achtwöchigen Behandlung besser abschneidet als Plazebo.

Ambulante Patienten mit schwerer Depression

Die randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudie erfasste ambulante erwachsene Patienten an zwölf psychiatrischen Zentren. Alle hatten eine schwere Depression mit einem Punktwert von mindestens 20 auf der Hamilton-Depressionsskala. In einer einwöchigen Run-in-Phase bekamen die Patienten einfachblind Plazebo.

Nur Patienten, deren Hamilton-Depressions-Wert in der Run-in-Phase um höchstens 25% gesunken war, konnten an der eigentlichen Studie teilnehmen (n = 340). Sie bekamen randomisiert den Johanniskraut-Extrakt (n = 113), den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Sertralin (n = 111) oder ein Plazebo (n = 116).

Die Patienten nahmen ihr Medikament dreimal täglich ein. Die Tagesdosis betrug zu Beginn 900 mg Johanniskraut-Extrakt beziehungsweise 50 mg Sertralin. Bei unzureichender Wirksamkeit durfte die Tagesdosis im Verlauf der achtwöchigen Behandlung auf 1500 mg Johanniskraut-Extrakt beziehungsweise 100 mg Sertralin erhöht werden. Die erste Dosiserhöhung fand frühestens nach drei Wochen statt. Traten Nebenwirkungen auf, durfte die Dosis reduziert oder das Medikament abgesetzt werden.

Nach der achtwöchigen "Akutphase" konnten Patienten mit vollständiger oder partieller Remission (Definition siehe Kasten) die Einnahme bis zu 18 Wochen lang fortsetzen. In der Fortsetzungsphase betrug die Tageshöchstdosis 1800 mg Johanniskraut-Extrakt beziehungsweise 150 mg Sertralin. Primäre Wirksamkeitskriterien waren die Änderung des Hamilton-Depressions-Werts und der Anteil der Patienten mit vollständiger Remission nach acht Wochen (bei Therapieabbruch früher). Sekundäre Endpunkte waren Veränderungen auf einzelnen Depressionsskalen.

Sertralin als Positivkontrolle

In erster Linie wurde Johanniskraut-Extrakt mit Plazebo verglichen. Sertralin fungierte als Positivkontrolle, um die Empfindlichkeit der Studie zu überprüfen. Die Patienten waren im Mittel 42 Jahre alt. Zwei Drittel waren Frauen. Zu Beginn betrug der Hamilton-Depressions-Wert durchschnittlich 23 (18 bis 33). Bei etwa einem Drittel der Patienten dauerte die depressive Episode bereits länger als zwei Jahre, bei einem weiteren Drittel zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren und beim letzten Drittel weniger als ein halbes Jahr.

Kein Unterschied in den primären Wirksamkeitskriterien

245 Patienten (72%) führten die Behandlung acht Wochen lang durch. Die Abbruchrate war in den drei Gruppen vergleichbar. Weder Johanniskraut-Extrakt noch Sertralin unterschieden sich in den primären Zielkriterien signifikant von Plazebo:

  • Der Hamilton-Depressions-Punktwert veränderte sich gemäß einem Regressionsmodell während der acht Behandlungswochen mit Johanniskraut um – 8,68, mit Plazebo um – 9,20 und mit Sertralin um – 10,53. Eine größere Abnahme bedeutet eine stärkere Verbesserung.
  • Nach acht Wochen hatten 23,9% der Johanniskraut-Patienten, 31,9% der Plazebo-Patienten und 24,8% der Sertralin-Patienten eine vollständige Remission.
  • Johanniskraut zeigte auch bei den sekundären Wirksamkeitskriterien der achtwöchigen Behandlung keine signifikanten Unterschiede gegenüber Plazebo. Sertralin schnitt auf der Clinical Global Impression Scale for Improvement nach acht Wochen signifikant besser ab als Plazebo.

129 Patienten setzten die Behandlung über die acht Wochen hinaus fort: 38 mit Johanniskraut, 42 mit Plazebo und 49 mit Sertralin. 24, 27 und 28 führten die Behandlung vollständig durch. Bei allen bis auf einen Patienten (mit Johanniskraut) blieb die Depression gebessert.

Nebenwirkungen unterscheiden sich

Johanniskraut und Sertralin unterschieden sich in Bezug auf die Nebenwirkungen von Plazebo:

  • Unter Johanniskraut oder Sertralin kam es häufiger zu Anorgasmie (Ausbleiben des Orgasmus beim Geschlechtsverkehr): bei 25% bzw. 32% gegenüber 14% der Patienten.
  • Unter Johanniskraut trat häufiges Wasserlassen vermehrt auf: bei 27% gegenüber 11% der Patienten. Außerdem klagten mehr Patienten über Schwellungen: 19% gegenüber 8%.
  • Unter Sertralin wurden vermehrt Durchfälle, Übelkeit und Schwitzen beobachtet: bei 38% gegenüber 19%, 37% gegenüber 21% und bei 29% gegenüber 12% der Patienten.

Die Studie konnte die Wirksamkeit des verwendeten Johanniskraut-Extrakts bei schwerer Depression nicht bestätigen. Dass sich auch Sertralin in den primären Wirksamkeitskriterien nicht von Plazebo unterschied, lässt Zweifel an der Empfindlichkeit der Studie aufkommen.

Als mögliche Gründe für das Ergebnis diskutieren die Autoren die hohe (aber nicht ungewöhnlich hohe) Ansprechrate auf Plazebo, die Begrenzung der Sertralin-Tagesdosis auf maximal 100 mg in der Akutphase und die zu geringe Behandlungsdauer. Sie gestehen ein, dass Johanniskraut-Extrakte bei weniger schweren Depressionen am wirksamsten sein dürften.

Fragliches Studiendesign

Die Studie ist eine der ersten, die vom National Center for Complementary and Alternative Medicines (einem Teil der US-amerikanischen National Institutes of Health) zur Bewertung von Phytopharmaka durchgeführt wurde. Sie wurde mit vier Millionen Dollar öffentlichen Geldern durchgeführt.

Das Studiendesign und die Patientenauswahl müssen infrage gestellt werden. Die Patienten litten an schweren, häufig auch chronischen Depressionen. Das eigentliche Indikationsgebiet für Johanniskraut-Extrakte sind jedoch leichte bis mittelschwere Depressionen. Die Studie war nicht empfindlich genug, um einen Unterschied zwischen dem Extrakt und Plazebo aufdecken zu können, denn auch Sertralin als Positivkontrolle unterschied sich in den primären Wirksamkeitskriterien nicht von Plazebo.

Die Autoren halten es für "bemerkenswert", dass es für Johanniskraut im Unterschied zu Sertralin auch bei den sekundären Kriterien keinen Hinweis auf eine Wirksamkeit gibt. Es ist jedoch bedenklich, dass die Autoren nur anhand der sekundären Kriterien versuchen, für Sertralin noch eine Wirksamkeit zu belegen. Zu Schlagzeilen (z. B. Spiegel online, 10. April 2002: Wirkt Johanniskraut doch nicht?) gibt diese Studie eigentlich keinen Anlass. Sie hat für die in Deutschland übliche Anwendung von Johanniskraut-Präparaten bei leichten bis mittelschweren Depressionen keinerlei Bedeutung.

Kastentext: Vollständige oder teilweise Remission

Als vollständige Remission galt ein Punktwert auf der Clinical Global Impression Scale for Improvement (CGI-I) von 1 oder 2 (sehr stark oder stark verbessert) und ein Hamilton-Depressions-Punktwert von höchstens 8. Eine partielle Remission war definiert als CGI-I-Wert von 1 oder 2, eine Abnahme des Hamilton-Depressions-Werts um mindestens die Hälfte und einen Hamilton-Depressions-Wert von 9 bis 12.

Literatur

Hypericum Depression Trial Study Group: Effect of Hypericum perforatum (St John's Wort) in major depressive disorder. J. Am. Med. Ass. 287, 1807 – 1814 (2002). Herbal trial in depression inconclusive. Scrip No 2739, 26 (2002).

Johanniskraut ist wieder in die Diskussion geraten. Schuld daran ist diesmal die fehlende Überlegenheit eines Johanniskraut-Extrakts gegenüber Plazebo in einer amerikanischen Doppelblindstudie. An der Studie nahmen 340 Patienten mit schwerer Depression teil. Überraschenderweise schnitt aber auch Sertralin (Zoloft) bei den primären Wirksamkeitskriterien nicht besser ab als Plazebo, sodass Studiendesign und die Patientenauswahl in Frage gestellt werden müssen.

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