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Recht aktuell
Sozialrecht: Off-label-Einsatz von Arzneimitteln
Das Problem: Krankenkassen lehnen vielfach die Verordnung von Medikamenten außerhalb der zugelassenen Indikationen (Off-label-use) ab bzw. verweigern die Kostenübernahme. Diese Vorgehensweise ist legal, da das SGB V eindeutig erklärt, dass die Erstattungspflicht der GKV sich eindeutig nur auf Medikamente bezieht, denen eine offizielle Zulassung erteilt wurde, das heißt, deren Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in klinischen Studien belegt wurde.
Das Bundessozialgericht hat am 28. März 2000 festgestellt, dass das Gesetz sogar bei schweren und vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankungen die Leistungspflicht der Krankenkassen grundsätzlich nicht zulässt, wenn Arzneimittel außerhalb der zugelassenen Indikationen eingesetzt werden. Gegner dieser Haltung betonen, dass mit einem derartigen Urteil der gesellschaftliche Nutzen der Gesunden über das Eigeninteresse des Kranken gesetzt wird, eine Sichtweise, die den Prinzipien des § 70 SGB V widersprechen würde.
Dieses Urteil hatte natürlich weitreichende Konsequenzen, bedenkt man, dass einer Datenbankrecherche entsprechend Off-label-Verordnungen 25% der gesamten Verschreibungen ausmachen. 31% davon werden stationär, 22% ambulant getätigt.
Häufigster Grund für die Off-label-Verordnung ist die Indikation, gefolgt von Alter und der Dosierung. Gerade beim Alter der Patienten wird ersichtlich, wie widersinnig das Verbot des Einsatzes außerhalb der offiziellen Zulassung ist, da die wenigsten Arzneimittel überhaupt in der Pädiatrie zugelassen sind. Wie sollen Studien durchgeführt werden, für die es schlichtweg kein ausreichendes Patientengut gibt?
Es wäre moralisch verwerflich, aufgrund der gesetzlichen Datenlage auf den Einsatz etablierter Arzneimittel in der Pädiatrie zu verzichten, nur weil das betreffende Alter von der Zulassung nicht gedeckt ist. 80% der in der Pädiatrie eingesetzten Medikamente haben dafür keine Zulassung. Der Missstand der fehlenden Zulassung im Kindesalter bedingt unter anderem, dass Kinder teilweise vom medizinischen Fortschritt abgekoppelt sind und weiterhin einem etwa dreifach höheren Nebenwirkungsrisiko ausgesetzt sind als bei Verordnungen, die der Zulassung entsprechen. In der Onkologie wird von einer Off-label-Rate von etwa 60% ausgegangen.
Die Therapiefreiheitbedeutet auch volle Verantwortung
Der Arzt ist natürlich im Rahmen der Therapiefreiheit berechtigt, ein Arzneimittel abweichend von der Zulassung auch bei pädiatrischen oder geriatrischen Patienten oder bei nicht zugelassenen Indikationen einzusetzen. Dabei muss er aber alleine die medizinische, standes- und strafrechtliche Verantwortung für den Einsatz und seine Folgen tragen.
Der Arzt ist verpflichtet, den Patienten über die fehlende Zulassung aufzuklären und die Risiken darzulegen. Die Berufshaftpflichtversicherung tritt in der Regel nicht für einen Schaden ein, den ein Patient durch ein für die betreffende Indikation nicht zugelassenes Medikament erleidet. Eine Erstattungspflicht der GKV besteht wie erwähnt nicht.
Off-label-use: neue Indikationen ohne klinische Studien?
Die Kassen beharren natürlich auf der Ablehnung der Erstattung von Medikamenten, die in nicht zugelassenen Indikationen eingesetzt werden, da sonst auch die Gefahr bestehen könnte, dass die Pharmaindustrie auf diesem Wege neue Therapiefelder, neue Indikationen erschließt, ohne die teuren klinischen Studien durchführen zu müssen.
Gegner des Off-label-use betonen, dass der Einsatz außerhalb der zugelassenen Indikationen nichts anderes sei als klinische Forschung für neue Indikationen. Die Krankenkassen sagen dann natürlich zu Recht, dass sie nicht verpflichtet sind, die Kosten zu tragen. Gegner betonen auch, dass der Off-label-use eine Gefährdung der Patienten darstellen würde, da die betreffenden Mittel hinsichtlich der betreffenden Indikation nicht ausreichend in klinischen Studien getestet wurden und die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht ausreichend geprüft wurde.
Verzicht auf Off-label-use moralisch unvertretbar?
Befürworter des Off-label-Gebrauchs betonen den schon erwähnten Widerspruch, dass die betreffenden Arzneimittel offiziell, zum Beispiel in der Pädiatrie, nicht zugelassen sind, der Verzicht auf diese aber moralisch nicht vertretbar wäre und bei strenger Auslegung der Gesetze eine ausreichende Arzneimittelversorgung in der Pädiatrie oder auch der Onkologie kaum möglich wäre.
Erschwerend kommt dazu, dass in Leitlinien der Fachgesellschaften in nicht unerheblichem Maß Arzneimittel zum Gebrauch außerhalb der Zulassung empfohlen werden. Gerade in der Onkologie wird deutlich, in welchem Ausmaß Medikamente schon als "Therapiestandard" gelten, lange bevor die offizielle Zulassung für die betreffende Indikation erfolgt. Wie abwegig die generelle Ablehnung der Kostenübernahme ist, zeigt die Tatsache, dass ein GKV-Versicherter generell Anspruch auf Versorgung nach dem neuesten Stand der medizinischen Erkenntnis hat.
Der nationale Zulassungsstatus eines Medikaments kann jedoch (nicht zuletzt aufgrund der langen Bearbeitungszeit eingereichter Studienunterlagen) um Jahre den in der Praxis gemachten Erkenntnissen und Erfahrungen hinterherhinken. Nicht zuletzt aus diesem Grund erlaubt die Gesetzgebung nach § 73.3 AMG den Import von im Ausland zugelassenen Arzneimitteln, die damit auch erstattungsfähig werden.
Breiter Einsatz als Standard?
Sicher wissen nur die wenigsten Ärzte genau, welche Indikationen im Zulassungstext genannt sind. Selbst in Zeiten, in denen Beipackzettel und Fachinformationen gesammelt auf CD-ROM erhältlich sind, wird das Wissen der Ärzteschaft um detaillierte Indikationen lückenhaft bleiben. Ein weiteres Problem ist die bekannte Indikationslyrik bei Präparaten mit Altzulassung, deren Zahl sich nach wie vor bei etwa 7000 befindet.
Aber gerade hier setzt die Kritik der Krankenkassen an: In Einzelfällen ist es sicher so, dass die Pharmaindustrie über das Sponsoring von Studien und Anwendungsbeobachtungen und die Unterstützung zahlreicher Publikationen das Wissen über den Einsatz der Arzneimittel bei noch nicht zugelassenen Indikationen fördert und so den Druck auf die Therapeuten erhöht, die natürlich immer nach den neuesten Erkenntnissen therapieren wollen. Letztendlich könnte es aus Kostengründen für ein Pharmaunternehmen günstiger sein, derartige Marketingaktivitäten zu entwickeln als in eine offizielle Zulassung, in klinische Studien zu investieren. Für die Pharmaindustrie ist es einfacher, wenn Arzneimittel trotz fehlender Zulassung breit eingesetzt werden, da der Einsatz schon als "Standard" gilt.
Hierzu gibt es Forderungen, dass das Arzneimittelgesetz so geändert wird, dass der pharmazeutische Hersteller verpflichtet wird, die Kosten zu tragen, die in der Zeit zwischen den klinischen Studien und der Erteilung der Zulassung entstehen. Nicht zuletzt werden auch klinische Prüfungen als individuelle Heilversuche getarnt und dafür Kostenerstattungsanträge bei Krankenkassen gestellt. In der amtlichen Begründung zum Gesundheitsreformgesetz 1989 wird wiederholt erwähnt, dass es nicht Aufgabe der Krankenkassen sei, die medizinische Forschung zu finanzieren.
Off-label-Diskussion seit letztem Jahr verstärkt
Im vergangenen Jahr rückte die Thematik des Off-label-Einsatzes von Arzneimitteln und deren Erstattungsfähigkeit nach Jahren der Ruhe schlagartig in den Mittelpunkt, da verschiedene Krankenkassen (als wäre es abgesprochen) aufgrund von Off-label-Verordnungen Regressanträge (wegen "Sonstigen Schadens") in bis zu siebenstelliger Höhe gestellt hatten. Begründet werden kann eine solche Vorgehensweise der Krankenkassen natürlich auch jederzeit mit der Pflicht zum Schutze des Verbrauchers, mit der Arzneimittelsicherheit - eine Begründung, die wenig Widerspruch erlaubt.
Kritiker der Vorgehensweise der Krankenkassen bemängeln einerseits, dass vornehmlich der Off-label-Einsatz hochpreisiger Medikamente wie Onkologika und HIV-Präparate im Fokus der Kassen stehen, und weiterhin, dass die Aktivitäten hauptsächlich gegen niedergelassene Ärzte gerichtet seien. Die gleiche Vorgehensweise in den Krankenhäusern würde nicht in diesem Ausmaß bemängelt, so als gelte der Verbraucherschutz, der Schutz des Patienten nur außerhalb der Krankenhäuser.
Urteil des Bundessozialgerichts: Streitigkeiten vorprogrammiert
Mit einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zum Off-label-Einsatz von Immunglobulinen (hier: Sandoglobulin) bei Multipler Sklerose vom 19. 3. 2002 stellt sich aktuell eine völlig neue Situation dar: Ein Off-label-Einsatz eines für diese Indikation nicht zugelassenen Arzneimittels muss laut BSG unter bestimmten Voraussetzungen (entgegen der bisherigen Praxis und Rechtsprechung) von den gesetzlichen Kassen vergütet werden:
1. Es muss sich um eine schwerwiegende (d. h. lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung handeln. 2. Es ist keine andere Therapie verfügbar. 3. Es besteht aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen ist.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Im konkreten Fall (Einsatz von Immunglobulinen bei der primär chronisch progredienten Verlaufsform der Multiplen Sklerose) hat das BSG die Erstattungspflicht der Krankenkasse verneint, da einerseits ein hinreichender Wirksamkeitsnachweis nicht erbracht werden konnte und weiterhin zugelassene alternative Behandlungsformen gegeben sind.
Neu war, dass aber oben genannte Ausnahmen im Einzelfall formuliert wurden, die zu einer Erstattungsfähigkeit führen können. Also: Die Erstattungspflicht der Krankenkassen bei einem Off-label-use ist somit weder absolut ausgeschlossen noch in jedem Fall zulässig. Streitigkeiten um die Auslegung genannter Forderungen und deren Umsetzung sind demnach vorprogrammiert.
Dringendes Bedürfnis für Off-label-use
Wichtig am aktuellen Urteil des BSG ist die Tatsache, dass das BSG offiziell festgestellt hat, dass im medizinischen Alltag offenkundig ein dringendes Bedürfnis nach einem zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln besteht, der deshalb auch unter bestimmten Voraussetzungen zulasten der Krankenkassen möglich sein müsse.
uch wenn diese Abkehr von der strikten Ablehnung der Vergütung als positiv zu bewerten ist, so dürfte der indikationsfremde Einsatz von Arzneimitteln aufgrund dieser vom BSG genannten strikten Ausnahmetatbestände eher die Ausnahme bleiben. Denn: In den meisten Fällen wird es andere verfügbare Therapiealternativen geben, und im Rahmen von Auseinandersetzungen um eine Kostenerstattung dürfte es nicht schwer fallen, die gegebene Datenlage als mangelhaft zu bezeichnen. Ab wann gilt eine Datenlage als evident? Ist eine Anzahl von qualitativ guten Artikeln in anerkannten medizinischen Zeitschriften erforderlich oder reichen Expertenmeinungen und Einzelfallbeschreibungen?
Das BSG geht diesbezüglich davon aus, dass eine ausreichende Datenlage dann gegeben ist, wenn entweder die Zulassung bereits beantragt ist und demnach die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Studie der Phase III bereits veröffentlicht ist oder aber außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse bereits veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht.
Signal an den Gesetzgeber
Das aktuelle Urteil des BSG kann als Signal an den Gesetzgeber gewertet werden, die arzneimittelrechtlichen Vorschriften so zu ändern, dass die Defizite des Arzneimittelrechts, welche den Off-label-use ermöglichen, beseitigt werden. Zumindest sollte Rechtssicherheit bestehen, wenn der Arzt ein etabliertes Arzneimittel in der Pädiatrie einsetzt oder in der Onkologie, wo der Wissensstand aufgrund von Studien und Kongressberichten eine Wirksamkeit und Unbedenklichkeit belegt, lange bevor ein offizieller Antrag auf Zulassung erfolgt.
Der Gesetzgeber trägt diesem Umstand nicht zuletzt mit dem so genannten Orphan-Drug-Status Rechnung, der ein beschleunigtes Zulassungsverfahren erlaubt und ein exklusives Vermarktungsrecht über einen längeren Zeitraum zusichert. Über den Orphan-Drug-Status wird der Anreiz für Pharmafirmen erhöht, Arzneimittel auch für vermeintlich unrentable Indikationen zu entwickeln, da das betreffende Patientengut zu klein ist.
Fraglich, ob verbindliche Richtlinien kommen
Das aktuelle Urteil des BSG zum Off-label-Einsatz von i.v.-Immunglobulinen bei Multipler Sklerose hat Bewegung in die Diskussion gebracht, beendet ist die Diskussion sowohl hinsichtlich der Rechtssicherheit als auch hinsichtlich der Erstattungspflicht der Therapiekosten aber noch lange nicht. Letztendlich unterteilt sich der Off-label-Einsatz von Medikamenten in sehr verschiedene Problemkreise, die nicht gemeinsam gelöst werden können:
a) Einsatz eines in Deutschland zugelassenen Arzneimittels in einer zugelassenen Indikation, aber bei Personengruppen, die unter der Rubrik Kontraindikationen genannt sind, wie ältere Menschen oder eben bei Kindern, obwohl keine pädiatrische Zulassung besteht; b) Einsatz eines in Deutschland zugelassenen Arzneimittels, aber in einer nicht zugelassenen Indikation (Beispiel: Onkologie); c) Einsatz eines im Ausland, aber nicht in Deutschland zugelassenen Arzneimittels; d) Einsatz eines weder im Ausland noch in Deutschland zugelassenen Arzneimittels; e) Einsatz eines Nicht-Arzneimittels in einer medizinischen Indikation.
Ob es jemals verbindliche Richtlinien zum Off-label-Einsatz von Arzneimitteln geben wird, bleibt weiterhin fraglich, da mehrere divergierende Rechtsgebiete wie das Arzneimittelrecht, das Sozialrecht, das Zivil- und Strafrecht kompatibel gemacht werden müssen. Ärzteverbände weisen angesichts der momentan ungeklärten Lage dringend darauf hin, vor jedem Off-label-Einsatz eines Medikaments eine schriftliche Kostenzusage der Krankenkasse einzuholen, vor allem dann, wenn es sich um ein sehr teures Präparat handele.
Dass jedoch Bewegung in die Diskussion gekommen ist, zeigt die Tatsache. dass das Bundesministerium für Gesundheit die Vorsitzenden und Präsidenten der Krankenkassenverbände und der Organisationen von Ärzten und Krankenhäusern Ende April dieses Jahres zu einem Gespräch zu dieser Problematik eingeladen hat. Einige Kassen fordern, dass der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen damit betraut wird, in Richtlinien entsprechende Regelungen vorzunehmen. Einzelstimmen fordern sogar, die Entscheidungskompetenz des Arztes dahingehend zu stärken, dass die individuelle Verordnungsentscheidung in die Hand des behandelnden Arztes gelegt wird.
In einer Bekanntmachung des Bundesgesundheitsministeriums vom 16. April 2002 wird ein Erlass verkündet, der die Errichtung eines Expertengremiums "Arzneimittel für Kinder und Jugendliche" am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vorsieht. Aufgabe des Expertengremiums ist unter anderem, Fragen zu beantworten, die sich aus dem Off-label-Einsatz (zugelassen, aber nicht für die betreffende Indikation) und dem unlicensed use (nicht zugelassene Arzneimittel) bei Kindern und Jugendlichen ergeben.
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