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Arzneimittel und Therapie
Chronopharmakologie: Medikamente morgens oder abends einnehmen?
Schon 1814 beschrieb der Franzose Julien-Joseph Virey in seiner Doktorarbeit Tagesrhythmus-Phänomene bei gesunden und kranken Menschen. Er beobachtete, dass Opium unterschiedlich stark wirkt, je nachdem zu welcher Tageszeit es verabreicht wird. Aus diesen Phänomenen schloss er, dass es eine lebende Uhr geben müsse, die die Tagesrhythmen erzeugt.
Uhren-Gene und äußere Zeitgeber
Virey hatte Recht: Heute – fast zwei Jahrhunderte später – kennt man die Gene der "inneren Uhr". Clock-Gene wurden unter anderem bei Fruchtfliege, Schleimpilz, Maus, Ratte und Mensch identifiziert. Die Uhren-Gene werden in allen Körperzellen rhythmisch exprimiert. Sie sind für wesentliche Lebensfunktionen verantwortlich. Der Rhythmus der inneren Uhr weicht mit einer 25,2-stündigen Periode vom 24-Stunden-Tag ab. Erst äußere Zeitgeber, vor allem der Wechsel von Licht und Dunkelheit, sorgen für unseren 24-Stunden-Rhythmus.
Physiologische Rhythmen
Körpertemperatur, Puls, Blutdruck und Lungenfunktion unterliegen einer signifikanten Tagesrhythmik, auch Serum- und Urinbestandteile schwanken in ihrer Konzentration erheblich – um bis zu 400%. Die Nieren arbeiten extrem rhythmisch, wobei in der Mitte der Aktivitätsperiode die höchste Ausscheidung erfolgt. Diese biologischen Rhythmen bleiben jahrzehntelang stabil, wie eine Untersuchung an US-amerikanischen Soldaten zeigte.
Pathophysiologische Rhythmen
Nicht nur der gesunde Mensch ist extrem in der Tageszeit synchronisiert, auch Erkrankungen weisen eine Tagesrhythmik auf.
- Asthmaanfälle treten besonders häufig nachts auf. Die Messung mit dem Peakflow-Meter zeigt bereits bei Gesunden einen nächtlichen Abfall der Lungenfunktion. Bei Asthmatikern ist dieser Abfall viel ausgeprägter. Die Tag-Nacht-Amplitude der Peakflow-Werte gilt als wichtiges Diagnosekriterium für den Schweregrad des Asthma bronchiale (je größer die Amplitude desto schwerer das Asthma) und beeinflusst so die Therapie.
- Die Magensäuresekretion steigt zu Beginn der Nacht an. Ulkuspatienten, bei denen die Magensäuresekretion ohnehin verstärkt ist, weisen diese Rhythmik ebenfalls auf.
- Die 24-Stunden-Blutdruckmessung zeigt, dass systolischer und diastolischer Blutdruck bei Gesunden nachts sinken. Die meisten Patienten mit essenzieller Hypertonie, der häufigsten Form des Bluthochdrucks, haben zwar erhöhte Blutdruckwerte, aber ein normales Profil mit nächtlichem Blutdruckabfall.
Sie werden deshalb als Dipper bezeichnet (to dip = fallen). Es gibt jedoch auch Hypertonieformen, bei denen die 24-Stunden-Rhythmik gestört ist (aufgehoben oder invers). Man nennt diese Patienten Non-Dipper, weil ihr Blutdruck nachts nicht fällt. Hierzu gehören Patienten mit renaler Hypertonie, Diabetiker und Frauen mit Schwangerschaftshypertonie. Bei Patienten, deren Blutdruck in der Ruheperiode nicht ausreichend sinkt, drohen vermehrt Endorganschäden an Gehirn, Herz, Nieren und Gefäßen.
- Frühmorgens steigen übrigens außer dem Blutdruck auch Puls, Catecholamin-Plasmakonzentration und peripherer Gefäßwiderstand. Parallel dazu kommt es zu dieser Tageszeit besonders häufig zu pektanginösen Beschwerden und zu Herzinfarkten.
Chronopharmakologie
Aufgrund der physiologischen und pathophysiologischen Tagesrhythmen ist es wichtig, den Zeitpunkt einer Arzneimitteleinnahme sorgfältig auszuwählen. Bekanntestes Beispiel ist die Anpassung einer Glucocorticoid-Therapie an die tageszeitlichen Schwankungen der endogenen Cortisol-Plasmakonzentration.
Für viele Arzneistoffe liegen mittlerweile Studien zur Chronopharmakokinetik und Chronopharmakodynamik vor. Dabei handelt es sich meist um Cross-over-Studien, in denen morgendliche und abendliche Einnahme (oder mehrere Einnahmezeitpunkte) verglichen werden.
Antiasthmatika müssen nachts wirken
Asthmatiker mit nächtlichen Asthmaanfällen sollten retardiertes Theophyllin überwiegend abends erhalten. Pharmakokinetische Gesichtspunkte ("the flatter the better") sprechen zwar für eine Verteilung auf eine morgendliche und eine abendliche Gabe, doch der nächtliche Abfall der Lungenfunktion kann nur verhindert werden, wenn abends die ganze Dosis oder ein Großteil davon gegeben wird (z. B. Bronchoretard® Tag 200/Nacht 350). Auch bei oralen Beta2-Sympathomimetika kann eine ungleichmäßige Gabe, wie morgens 5 mg und abends 10 mg Terbutalin, besser vor nächtlichen Anfällen schützen.
Ranitidin abends, aber Omeprazol morgens
H2-Antihistaminika sollten wegen der verstärkten nächtlichen Säuresekretion abends eingenommen werden. Protonenpumpenhemmer, wie Omeprazol, werden dagegen morgens eingenommen. Die Wirkung dieser Prodrugs tritt erst verzögert ein. Pharmakokinetische Untersuchungen zeigten, dass bei morgendlicher Gabe der maximale Blutspiegel höher ist und schneller erreicht wird als bei abendlicher Gabe.
Antihypertensiva
Ziel einer antihypertensiven Behandlung ist es, den Blutdruck zu senken und ein normales 24-Stunden-Blutdruckprofil zu erreichen. Betablocker sollten morgens eingenommen werden. Sie senken den Blutdruck praktisch nur tagsüber. Nachts haben sie fast keinen Effekt. Für diese Tageszeitabhängigkeit der Betablocker-Wirkung ist vermutlich der nachts ohnehin schon niedrige Sympathikotonus verantwortlich, der sich nicht weiter verringern lässt. Die tageszeitlich abhängige Pharmakokinetik (wie bei vielen Arzneistoffen ist bei Einnahme am Morgen cmax größer und tmax kleiner als bei Einnahme am Abend) hat hier keine Bedeutung.
Patienten mit essenzieller Hypertonie sollten ACE-Hemmer morgens nehmen. Bei abendlicher Gabe kann aus einem Dipping ein Supperdipping, also eine zu starke nächtliche Blutdrucksenkung, werden. In den frühen Morgenstunden besteht dann aufgrund der zerebralen Mangeldurchblutung erhöhte Schlaganfallgefahr. Bei lang wirksamen Calciumantagonisten scheint es egal zu sein, ob Patienten mit essenzieller Hypertonie (Dipper) sie morgens oder abends einnehmen. Ein Superdipping droht nicht.
Für Non-Dipper gibt es bislang wenig Daten: Die Calciumantagonisten Isradipin und Amlodipin konnten, abends gegeben, das Blutdruckprofil normalisieren, also das Non-Dipping in ein Dipping überführen. Bei Non-Dippern könnte es also sinnvoll sein, Antihypertensiva (ausgenommen Betablocker) abends zu geben.
Jahresrhythmen
Außer den zirkadianen (etwa 24 Stunden dauernden) Rhythmen gibt es auch Jahresrhythmen. Beispielsweise ist der Blutdruck in den Wintermonaten höher als in den Sommermonaten. Diese Rhythmik bleibt unter antihypertensiver Behandlung erhalten.
Quelle
Prof. Dr. Dr. Björn Lemmer, Mannheim (Universität Heidelberg), Vortrag "Wirksamkeit in Abhängigkeit vom Einnahmezeitpunkt", 18. Juni 2002, veranstaltet von der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, Regionalgruppe Westfalen-Lippe, in Münster.
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