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Medizinnobelpreis 2002: Caenorhabditis elegans – ein Wurm macht Karriere
Sternstunde der biologischen Forschung
Überspitzt formuliert, könnte man dem Nematoden Caenorhabditis elegans zum Gewinn des diesjährigen Medizinnobelpreises gratulieren. Denn ohne ihn wären die fundamentalen Entdeckungen auf dem Gebiet der Organentwicklung nicht möglich gewesen. Es war eine Sternstunde der biologischen Forschung, als sich der Brite Sydney Brenner für den kleinen Wurm als Forschungsobjekt entschied.
Brenner, der als einer der Väter der Molekularbiologie gilt und unter anderem mit Francis Crick (geb. 1916; Medizinnobelpreis 1962) zusammengearbeitet hatte, war Anfang der Sechzigerjahre auf der Suche nach einem geeigneten Modellorganismus, um die Entwicklung des Nervensystems zu erforschen. Einige Kollegen rieten ihm von dem Wurm ab, da der zu "biologisch" sei für molekularbiologische Fragen.
Doch Brenner schrieb am 5. Juni 1963 an den österreichischen Chemiker Max Perutz (1914 – 2002; Nobelpreis für Chemie 1962), den Leiter seines Instituts für Molekularbiologie in Cambridge: "Es ist nun vielen klar geworden, dass nahezu alle 'klassischen' Fragen der Molekularbiologie entweder gelöst sind oder in der nächsten Dekade beantwortet werden. ... Ich fühle deshalb schon lange, dass die Zukunft der Molekularbiologie in der Ausweitung der Forschung auf andere Felder liegt, vor allem die der Entwicklung und die der Nervensysteme. ... Es scheint mir, dass in diesen beiden Bereichen eines der wichtigsten Probleme unsere Unfähigkeit darstellt, einzelne Schritte eines Prozesses zu definieren." Vier Monate später definierte Brenner das neue Hauptproblem der Molekularbiologie: die Kontrollmechanismen der zellulären Entwicklung. Als Modellorganismus für die entsprechenden Forschungen wählte er Caenorhabditis elegans, weil bei diesem Fadenwurm genetische und biochemische Analysen schnell durchführbar sind.
Ein pflegeleichter Modellorganismus
C. elegans gehört zu einer weitverbreiteten Tierklasse, die etwa 20 000 Arten umfasst. Er ist gut 1 mm lang und kommt in den gemäßigten Zonen der Erde vor. Er lebt im Erdreich und ernährt sich nichtparasitär von Mikroorganismen. Der anspruchslose Wurm braucht eine feuchte Umgebung, mäßige Temperaturen, Sauerstoff und Bakterien als Nahrungsquelle. C. elegans war der erste multizelluläre Organismus, dessen Genom 1998 vollständig sequenziert war. Gentechnologisch erzeugte Mutanten der Würmer helfen mit, biologische Vorgänge zu enträtseln.
Da mindestens 37% der 19 000 von C. elegans exprimierten Proteine Äquivalente im Menschen besitzen, kann der Nematode, trotz der großen evolutionären Distanz, auch zur Klärung molekularbiologischer Fragen des Menschen dienen. Man nutzt ihn aber z. B. auch zur Identifizierung von Virulenzfaktoren von Bakterien oder zum pharmakologischen Screening als Vorstufe zum Mausmodell, was aus tierschutzrechtlichen wie aus Kostengründen von Vorteil ist.
Außergewöhnliche Sexualität – einfaches Nervensystem
C. elegans hat bemerkenswerte Eigenschaften. Es gibt keine Weibchen, sondern Zwitter (XX), die sich selbst befruchten, und Männchen (X0), die sich mit den XX paaren und dabei deren Spermien verdrängen. Die Zwitter bestehen genau aus 959, die männlichen Würmer aus 1031 somatischen Zellen; hinzu kommt eine nicht genau festgelegte Zahl von Keimzellen.
Während die Taufliege Drosophila melanogaster mit 100 000 Neuronen ein schon recht kompliziertes Nervensystem besitzt, hat C. elegans nur 302 (Typ X0) bzw. 381 Nervenzellen (Typ XX), die die Umweltreize weiterleiten und verarbeiten (Tab. 1). Unter den 302 Neuronen gibt es keinen Klon. Das heißt, sie sind in genetischer Hinsicht alle verschiedenartig. Fällt eine Zelle aus, kann deren Aufgabe nicht von einer Nachbarzelle übernommen werden.
Der Zell-"Stammbaum" von C. elegans ist stereotyp. In jedem Stadium der Zelldifferenzierung lässt sich jede Zelle eindeutig identifizieren und die Entwicklung der Tochterzellen voraussagen.
Pünktlicher Lebenszyklus
Die vollständig aufgeklärte Entwicklung von C. elegans unterteilt sich in eine prä- und eine postembryonale Phase (Abb. 1). Die als Embryogenese bezeichnete präembryonale Entwicklung reicht von der Befruchtung bis zum Schlüpfen der Larve. Die postembryonale Entwicklung erstreckt sich über vier Larvenstadien, bis bei der letzten Häutung der adulte Wurm entsteht.
Die Dauer der Entwicklung ist temperaturabhängig und variiert zwischen drei Tagen bei 25 °C und sechs Tagen bei 15 °C. Die Abbildung zeigt die Verhältnisse bei 25 °C. Bei einer Temperatur von 20 °C dauert die Embryogenese ebenfalls 14 h; die vier Häutungen finden jedoch 29 h, 38 h, 47 h und 59 h post fertilisationem statt. Der Organismus, nach dem man fast die Uhr stellen kann, ist also nahezu optimal auf einen Laboralltag eingestellt.
Drei Forscher-Generationen
Die drei Nobelpreisträger Brenner, Horvitz und Sulston repräsentieren drei Generationen der Forschung an C. elegans. Sydney Brenner, geboren am 13. Januar 1927 in Südafrika, wurde vor allem für die Auswahl des Modellorganismus ausgezeichnet. Dadurch sei, so das Nobelpreiskomitee, die Möglichkeit geschaffen worden, genetische Analysen mit Zellteilung, Zellreife und Organentwicklung zu kombinieren und direkt unter dem Mikroskop zu beobachten. 1974 gelangen Brenner die ersten spezifischen Genmutationen an C. elegans mittels EMS (Ethylmethylsulfonat). Verschiedene Mutationen, die zu erkennbaren Defekten der Organentwicklung führten, konnte er bestimmten Genen zuordnen.
Der Brite John Sulston, geboren am 27. Mai 1942, tätig am Sanger Institute des Wellcome Trust, stellte den so genannten Zellstammbaum auf, anhand dessen sich jede Zellteilung und Zellreife während der Entwicklung eines Gewebes verfolgen lässt. 1976 beschrieb er eine an der Bildung des Nervensystems von C. elegans beteiligte Zelllinie. Er erkannte auch, dass die Zelllinie invariant ist, das heißt, dass jedes Individuum dieser Spezies exakt demselben Programm der Zellteilung und -differenzierung unterliegt.
Darauf aufbauend, konnte Sulston nachweisen, dass bestimmte Zellen programmiertes Zellsterben (Apoptose) als Teil der normalen Entwicklung durchmachen. Er beschrieb die sichtbaren Stufen des zellulären Absterbprozesses und fand die ersten Mutationen von beteiligten Genen wie dem nuc1-Gen, dessen Protein für den DNA-Abbau einer toten Zelle notwendig ist. Diese Erkenntnisse lassen sich an der embryonalen Entwicklung des Menschen direkt nachvollziehen. Beispielsweise wachsen die Finger während der embryonalen Entwicklung nicht aus dem Gewebe heraus. Es bildet sich eine Art Paddel, an dem bestimmte Zellen absterben, sodass der Rest des Gewebes die Finger bilden kann. Gewissermaßen fallen die "Schwimmhäute" zwischen den Fingergliedern nachträglich weg.
Der Amerikaner Robert Horvitz, geboren am 8. Mai 1947, führte die Arbeiten seiner Kollegen fort. Er wollte wissen, ob ein genetisches Programm den Zelltod steuert, färbte dazu die embryonalen Zellen und konnte so unter dem Mikroskop ihre Entwicklung verfolgen. Und in der Tat beschrieb er in einer wegweisenden Arbeit 1986 die ersten beiden "Todesgene" ced3 und ced4, die die Apoptose bei C. elegans steuern. Er wies nach, wie diese Gene im Absterbprozess einander zuarbeiten und wie das später identifizierte ced9-Gen vor Apoptose schützt. Darüber hinaus gelang es ihm, Gene beim Menschen zu identifizieren, die dem ced3 entsprechen.
Die drei Forscher erhalten den Preis zu gleichen Teilen. Sie werden vollkommen zu Recht geehrt, obwohl der Deutsche Rudolf Jaenisch (geb. 1942), der die ersten Klonmäuse entwickelte, vielen als Favorit galt. Vor allem Brenner wird als brillanter und humorvoller Kopf beschrieben. 1986 veröffentlichte er die Beschreibung des Nervensystems von C. elegans unter dem Titel "The mind of a worm".
Kastentext: Neurogenetische Modelle
Neurogenetische Modelle müssen einfach genetisch manipulierbar sein und ein für solche Fragen entsprechend ausgebildetes Nervensystem und Verhaltensrepertoire besitzen. Die wichtigsten Modellorganismen sind
- Caenorhabditis elegans: Fadenwurm
- Drosophila melanogaster: Taufliege
- Brachydanio rerio: Zebrafisch
- Mus musculus: Maus
- Rattus rattus: Ratte
Kastentext: Nervenwirrwarr
Das Gehirn eines Erwachsenen besteht aus 200 Milliarden Neuronen (Tab. 1) und zusätzlich einer Trillion unterstützender Zellen. Deren Axonen und Dendriten sind zusammengenommen zwischen einer halben und einer Million Kilometer lang. Jedes Neuron bildet etwa 10 000 Synapsen aus. Während der Embryonalentwicklung entstehen in jeder Minute 250 000 Nervenzellen, die sinnvoll miteinander verknüpft werden müssen.
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