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Report
S. ZwillingApotheke auf hoher See – Reedereien
Ein Unfall – kein Problem
Falko Fischer hat ein Loch im Kopf. Dem Schiffsingenieur ist im Maschinenraum des Containerschiffes "Botany" ein Werkzeug auf den Kopf gefallen. Zwischen dem Unfallort und einem Krankenhaus ist meilenweit nur Meer. Statt Rettungswagen und Krankenhaus versorgen deshalb der Kapitän und die Schiffsoffiziere die Kopfwunde ihres Maschinisten. Wenn nötig, könnten sie sie nähen. Die nötigen Instrumente sind an Bord, und die medizinische Ausbildung dazu haben die Seeleute auf der Seefahrtschule erhalten.
Fischer wird in den Behandlungsraum gebracht. Der zuständige Schiffsoffizier schließt den Apothekenschrank auf und schaut im blauen Ringordner "Anleitung zur Gesundheitspflege" [2] nach, wie er seinem Kollegen helfen kann. Er säubert und desinfiziert die Kopfwunde und wickelt dem Ingenieur einen "Turban" aus Mull. Gegen die Schmerzen verabreicht er ihm Paracetamol mit Codein, das heißt, er gibt ihm das mit der Nummer 23 gekennzeichnete Präparat.
Die "Botany" fährt für eine deutsche Reederei und ist nach der "Verordnung über die Krankenfürsorge auf Kauffahrteischiffen" ausgestattet [10]. Der Ausdruck Kauffahrteischiff bezeichnet Handelsschiffe im weitesten Sinne. Er gilt für den Container-Riesen, der die Weltmeere befährt, ebenso wie für das Tankschiff, das sich den Rhein hinaufschiebt.
Mit Arzneikisten fing es an
Bis Ende des 19. Jahrhunderts dienten so genannte "Chirurgen" als Schiffsärzte. Ihre Arzneimittel verwahrten sie in einfachen Holzkisten. Der erste Hinweis auf eine solche Arzneikiste stammt aus dem Jahr 1432, und von Magellans erster Weltumseglung 1519 bis 1521 ist sogar der Inhalt der Arzneikiste bekannt [3 – 5]. Die spanischen Kriegsschiffe mussten seit 1633 einen Chirurgen und eine Arzneikiste an Bord haben, das hatte der spanische König so angeordnet. In anderen Ländern war es ähnlich. In Karlskrona in Schweden hatten um 1665 einige Apotheker das Monopol, Arzneikisten an die schwedische Flotte zu liefern. Allerdings gab es keine verbindlichen Medikamentenlisten.
Die ersten detaillierten Verzeichnisse, welche Arzneimitteln in welchen Mengen die Arzneikisten enthalten mussten, entstanden um 1760 in der französischen Kriegsmarine. Bei kleineren Besatzungen ohne Chirurg war der Kapitän für die Kranken an Bord seines Schiffes verantwortlich. Als Hilfe bekam er zusammen mit der Arzneikiste eine Gebrauchsanleitung. Aus dem Jahre 1816 ist eine Anleitung für Kapitäne erhalten, die auf nur fünf Seiten die verschiedensten Krankheiten und ihre Behandlung beschreibt.
Um 1888/1890 entstanden die ersten Verordnungen über die Krankenfürsorge auf Kauffahrteischiffen [9]. Entsprechend war die Medizinkiste der deutschen Schonerbark "Margaretha" ausgestattet [6, 7]. Die hölzerne Deckeltruhe war in England angefertigt und ausgestattet worden, ihr Inhalt war jedoch 1891 in Hamburg und Westrhauderfehn, Ostfriesland, auf den Stand der neuen deutschen Vorschrift gebracht worden. Das Bild links zeigt eine Arzneikiste der Lübecker St. Jakobs-Apotheke, um 1890. Sie wird im Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven ausgestellt.
Medikamentöse Ausrüstung nach Vorschrift
Statt einer Holzkiste steht im Behandlungsraum der "Botany" ein grauer Stahlschrank, ein Standardschrank nach den Vorgaben der See-Berufsgenossenschaft. Statt Kalomel-Pulver als Laxans und Copaiva-Balsam gegen Tripper, die zur Zeit der "Margaretha" üblich waren, ist der Apothekenschrank mit synthetischen Fertigarzneimitteln vom Antibiotikum bis zum Benzodiazepin gefüllt.
Welche Arzneimittel, Medizinprodukte und Hilfsmittel in welchen Mengen mitgeführt werden müssen, steht in der Verordnung über die Krankenfürsorge auf Kauffahrteischiffen [10]. Die Ausstattung richtet sich nach dem Fahrtgebiet und der Mannschaftsstärke. Ein Fischerboot in der Ostsee z. B. muss keine Malariamittel mitnehmen. Dagegen braucht man in (sub-)tropischen Gewässern größere Mengen davon. Passagierschiffe unterliegen besonderen Bestimmungen. Für Kreuzfahrtschiffe mit mehr als 75 Personen ist sogar ein Schiffsarzt vorgeschrieben.
Fast jede Seefahrernation hat ihre eigenen Vorschriften, und entsprechend vielfältig sind die Listen. Staaten, die keine eigene Verordnung haben wie beispielsweise die so genannten Billigflaggenländer Antigua und Liberia, richten sich nach dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellten "International Medical Guide for Ships". Diese Empfehlungen, die zuletzt 1988 aktualisiert wurden, stellen jedoch nur eine minimale Standardausrüstung dar.
Alle Arznei- und Pflegemittel sind nummeriert
Apotheken, die sich auf Schiffsapotheken spezialisiert haben, liefern die gesamte Ausrüstung vom Pflaster über die Blasenpunktionskanüle bis zum Heißluftsterilisator. Jedes Teil ist mit einer Nummer versehen. So wird in der "Anleitung zur Gesundheitspflege" [2] für Schiffe ohne Arzt bei einer Gerstenkornbehandlung kein namentlich genanntes Fertigarzneimittel empfohlen, sondern die Nummer 84. Es ist ein Präparat mit Bibrocathol (z. B. Noviform®) oder einem ähnlichen Wirkstoff.
In schwierigen Fällen kann der zuständige Schiffsoffizier auch über Funk von einem Arzt, der mit der Verordnung vertraut ist, einen Rat einholen. Wenn z. B. Zahnschmerztabletten keine Besserung bringen, könnte der Arzt die Tabletten Nr. 38 empfehlen; dahinter verbirgt sich ein Antibiotikum mit breitem Wirkspektrum, das kein Penicillin ist. Bei der Vielzahl der Spezialitäten auf dem Arzneimittelmarkt werden durch die Nummerierung Verwechslungen vermieden.
Regelmäßige Inspektionen
Nach deutschem Recht müssen die Bestände der Bordapotheke alle zwölf Monate inspiziert und ergänzt oder ausgetauscht werden. Erst mit einer Bescheinigung des hafenärztlichen Dienstes, dass Räume und Ausrüstung in Ordnung sind, dürfen die Schiffe wieder in See stechen. Hat der Reeder die Frist übersehen, wird sein Schiff "an die Kette gelegt", also festgehalten, bis er das Zertifikat vorlegt.
So kann es beispielsweise der Hafen-Apotheke in Hamburg an einem Sonntagmorgen passieren, dass eine Reederei anruft. Eins ihrer Schiffe braucht noch das Attest der Behörde, bevor die Reise losgehen kann. Schnellst möglich müssen dann sowohl die Schiffsapotheke wie auch die Sanitätskästen der Rettungsboote überprüft werden, denn schließlich ist Zeit auch im Hafen Geld. Solche spontanen "Überfälle" sind zwar die Ausnahme, aber auch darauf muss die Apotheke vorbereitet sein.
Normalerweise kündigt die Reederei der Hafen-Apotheke die einlaufenden Schiffe an und informiert darüber, nach welchem Verzeichnis sie ausgerüstet sind. Da der Apotheker erst an Bord den Bedarf ermittelt, nimmt er vorsichtshalber immer eine komplette Ausrüstung zum Liegeplatz mit. Jede Packung muss letztlich in die Hand genommen und kontrolliert werden, verfallene Medikamente werden aussortiert und fehlende ergänzt. Das schließt unter anderem auch die Überprüfung der Sauerstoffflaschen oder der schwimmfähigen Krankentrage ein. Interessant ist die Begehung von ausländischen Schiffen. Medikamente, deren Verpackungen in chinesischer oder hebräischer Schrift bedruckt sind, haben zum Glück oft eine englische Übersetzung oder können aufgrund der Nummerierung identifiziert werden.
Lieferung auch nach Übersee
Zu solchen Einsätzen fährt das Personal der Hafen-Apotheke nicht nur in den Hamburger Hafen, der vor der Tür liegt, denn die Tanker, Containerschiffe oder Fähren ihrer Kunden machen auch Elbe abwärts in Stade, Brunsbüttel oder Cuxhaven fest. Einige Apotheken arbeiten mit Reedereien zusammen, deren Schiffe zwar den deutschen Stempel brauchen, aber nur in Rotterdam, Amsterdam oder Antwerpen ihre Ladung löschen können. Dann wird auch dorthin geliefert.
Selbst die Verschiffung einer kompletten Schiffsapotheke nach Korea ist keine Seltenheit. In koreanischen Werften läuft fast jede Woche ein neues Schiff vom Stapel, so auch einst die "Botany". Bevor sie dort zu ihrer Jungfernfahrt aufbrach, war die Schiffsapotheke komplett aus Deutschland geliefert worden. Auf den Einlegeböden des Apothekenschranks standen die bunten Medikamente fertig einsortiert, und in den Schubladen lagen schon Verbandstoffe und Hilfsmittel. So brauchte die Schiffsapotheke nur noch in den Stahlschrank eingesetzt zu werden.
Mit Service gegen Konkurrenz bestehen
Solchen Service wissen die Reeder zu schätzen. Und dennoch schauen sie auf die Kosten. Schon 1891 bestellte die Schiffswerft Henry Koch bei Apotheker Bernhard Stolle in Lübeck Medizinkisten und fragte an, "zu welchem billigsten Preise" sie mit Inhalt geliefert werden könnten [8].
Derzeit macht sich für die deutschen Schiffsapotheken-Ausrüster die holländische Konkurrenz bemerkbar. Schiffe, die in den großen Häfen Hollands ihre Ladung löschen, können sich dort etwas günstiger als in Bremen oder Hamburg neu versorgen. Doch ein guter Schiffsapotheken-Ausrüster gibt sich nicht mit der Belieferung von möglichst billigen Medikamenten zufrieden. Er steht Reedern und Kapitänen unter anderem auch bei Fragen zur Trinkwasserdesinfektion beratend zur Seite. Durch die Satellitenkommunikation ist es sogar von Bord aus möglich, die Apotheke nach der geeigneten Malariaprophylaxe zu fragen, wenn der Fahrplan kurzfristig geändert wird und in tropische Gebiete führt. Hat ein Reeder gute Erfahrungen mit einer Apotheke gemacht, gibt er ihr gelegentlich sogar den Auftrag, seine Privat-Yacht mit einer Hausapotheke auszurüsten.
Das bekannteste Arzneimittel auf See
Was Seeleute am häufigsten aus der Schiffsapotheke brauchen, sind Mittel gegen Erkältung, Kopfschmerzen, Prellungen und Quetschungen. Das bekannteste Arzneimittel zwischen Hamburg, Yokohama und San Francisco ist Wick VapoRub, kurz "Vicks". Darauf greifen vor allem die zurück, die nichts Besseres gegen Erkältung an Bord haben. Nicht alle Seeleute werden so gut versorgt wie die Mannschaft der "Botany".
Der Kapitän eines Schiffes muss nicht nur seemännisches Können besitzen, er ist auch für das Wohlergehen der Mannschaft und der Passagiere verantwortlich. Dazu gehört nicht zuletzt die Gesundheitspflege. So übernehmen der Kapitän und seine Offiziere in Notfällen an Bord die Aufgaben von Ärzten und Apothekern.
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