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Was haben Hormone mit Contergan zu tun? (Außenansicht)
Man fragt sich, warum erst jetzt? Und man wundert sich über die Sprache. Da spricht Herr Müller-Oerlinghausen von einem "nationalen und internationalen Unglück", dass es "um Tod und Leben von Patientinnen" gehe und zieht den geradezu absurden Vergleich mit der Schlafmittel-Tragödie Contergan.
Um diese Äußerungen richtig einschätzen zu können, muss man wissen, dass Müller-Oerlinghausen nicht Journalist einer Boulevardzeitung, sondern der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft ist.
Versachlichung der Diskussion ist dringend nötig, hier ein Beitrag zur Risikokommunikation: Die Hauptrisiken des Lebens werden nicht durch Mutmaßungen, sondern durch das Analysieren von Fakten erkannt.
Bei potenziell gesundheitsgefährdenden Stoffen, wie Arzneimitteln, dienen die Ergebnisse epidemiologischer Studien meist als Basis der Risikoabschätzung. Bei diesen werden bekanntlich jeweils zwei Personengruppen miteinander verglichen, die entweder Umgang mit einem bestimmten Stoff (Arzneimittel) hatten oder überhaupt nicht damit in Berührung gekommen sind.
Obwohl epidemiologische Ergebnisse nichts über die Kausalität, sondern nur etwas über die Unterschiede von zwei Personengruppen aussagen, werden sie in der öffentlichen Diskussion doch wie Kausalnachweise verwendet.
Dass ihre Ergebnisse nicht immer problemlos zu interpretieren sind, hängt damit zusammen, dass häufig nicht genau bekannt ist, wie stark die einzelnen Personen der gefährlichen Einwirkung ausgesetzt waren und ob die unbelastete Kontrollgruppe auch wirklich in allen übrigen Eigenschaften gleich ist.
In der Epidemiologie ist es wie in der Analytik: Das Messen einer Substanz (Schadstoffe im Rhein) oder die Entdeckung eines Häufigkeitsunterschieds (Brustkrebs bei HET) ist eine Sache, die Bewertung, also die Einordnung des Gefundenen in schon bekannte Tatsachen eines Fragenkomplexes aber eine ganz andere.
Nun kann man aus ein und denselben Zahlen ganz unterschiedliche Erkenntnisse gewinnen, Schlussfolgerungen ziehen und Entscheidungen treffen, je nachdem, ob man an das individuelle oder das kollektive Risiko denkt, ob man mit absoluten oder relativen Zahlen arbeitet.
Die absolute Häufigkeit erregt die Medien, das relative Auftreten beschäftigt die Statistiker. Ein und derselbe Tatbestand kann also sehr unterschiedlich dargestellt werden, je nachdem, welche Absichten verfolgt oder welche Wirkungen ausgelöst werden sollen.
Bei Entscheidungen über Risiken sollte vermehrt auf Inzidenzziffern, also auf relative Verhältniszahlen abgestellt werden. Das ist bei emotionalen, insbesondere die Gesundheit betreffenden Fragen allerdings oft sehr schwierig.
Das Problem, über einen Arzneimittelzwischenfall oder ein neues Studienergebnis mit der Öffentlichkeit vernünftig zu kommunizieren, liegt vor allem darin, dass sich niemand auf eine gesicherte und einheitliche Meinung der Experten stützen kann.
Es wird dadurch noch erschwert, dass die Meinungen der Experten unterschiedliche Interpretationen erfahren, je nachdem, welchen Werturteilen, Meinungen oder Absichten sie dienen sollen. Während die eine Seite die Chancen einer Entwicklung betont, sieht die andere deren Risiken im Vordergrund.
Bei der Einschätzung gesundheitsbedrohender Risiken geht es also nicht nur um die unterschiedliche Beurteilung von Nutzen und Schaden, sondern auch um die Verfolgung wirtschaftlicher, politischer und anderer Interessen.
Genauso wie man vom Journalisten erwartet, dass er in seiner Berichterstattung zwischen Nachricht und Kommentar unterscheidet, genauso muss man von den Experten, den Kontrollbeamten oder anderen Verantwortlichen verlangen, dass sie bei Äußerungen in der Öffentlichkeit wissenschaftliche Tatsachen von persönlichen Meinungen oder Intentionen trennen.
Niemand kennt bezüglich des Nutzens und Schadens der HET derzeit die volle Wahrheit. Einig sind sich die Experten nur darin, dass die bisherigen Studien Schwachstellen haben, Tendenzen in die eine oder andere Richtung zeigen und dass weitere Studien sinnvoll wären.
Wenn man in einer Situation, in der man zwar nichts Genaues weiß, in der aber dennoch ein Risikoverdacht besteht, warnen will, soll (muss) man es tun, aber bitte mit den richtigen, sprich mit abgewogenen Worten.
Wir alle wissen, dass die Thalidomid-Tragödie die größte Arzneimittelkatastrophe gewesen ist, die es je gegeben hat. Nicht nur wegen der hohen Zahl der Opfer, sondern auch wegen der schrecklichen Art des lebensbegleitenden Schadens.
Das Wort Contergan ist für viele Frauen zum Synonym für Missbildung geworden. Nun besteht die Gefahr, dass Hormon und Contergan Synonyma werden. Müller-Oerlinghausen hat recht, wenn er den "naiven und sorglosen Umgang" mit Hormonen kritisiert. Mit seinem völlig absurden Contergan-Vergleich muss er sich aber auch naiven und sorglosen Umgang mit den Fakten und der Sprache vorwerfen lassen.
Klaus Heilmann
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