DAZ Feuilleton

Ausstellung: Pflanzenheilkunde im Mittelalter

In einem nördlichen Zipfel des Rheinlands an der niederländischen Grenze gelegen, zeigt das Wasserschloss Moyland bis zum 1. November 2004 eine Ausstellung zur Heilkunde des späten Mittelalters. Im Mittelpunkt steht ein handgeschriebenes, reich illustriertes Kräuterbuch aus der Zeit um 1470, das aus der Fürstlich Salm-Salm'schen Bibliothek in der benachbarten Wasserburg Anholt stammt. Weitere Exponate stellen den kostbaren Codex in den medizin- und pharmaziegeschichtlichen Kontext des späten Mittelalters.

Mit der Hand geschrieben und gemalt

Um 1470 war zwar schon der Buchdruck erfunden worden, aber er hatte das alte Verfahren, Bücher individuell durch Abschreiben zu vervielfältigen, noch nicht vollständig ersetzt. Insbesondere bei großzügig illustrierten Büchern bedeutete der Druck einer normalen Auflage ein großes geschäftliches Risiko, und so waren die traditionellen Skriptoren und Illustratoren einstweilen noch unentbehrlich und erhielten weiterhin ihre Aufträge. Die Maße des ausgestellten "Kräuterbuches" – zutreffender wäre die Bezeichnung "Lexikon der Materia medica" – entsprechen etwa denen eines heutigen Lehrbuches von größerem Format: 28 Zentimeter hoch und 20 Zentimeter breit. Die 283 Blätter bestehen aus Papier, das damals bereits das Pergament in der Buchproduktion verdrängt hatte. Fast alle linken Seiten zeigen eine ganzseitige Abbildung, während rechts gegenüber die dazugehörigen Texte stehen.

Verfasser: ein Leibarzt

Der Codex ist in deutscher Sprache geschrieben. Sein Verfasser war jedoch ein vielseitig gebildeter Mann: Johannes Hartlieb (ca. 1410 – 1468), der in Padua Medizin studiert und den Doktorgrad erworben hatte und von 1440 bis zu seinem Tode den Herzögen in Bayern-München als Leibarzt diente. Hartlieb hatte sich auch durch Schriften über die Chiromantie (Handlesekunst) und über "verbotene Künste" – gemeint waren Zauberei und Hexerei – einen Namen gemacht. Sein "Kräuterbuch" dürfte er um 1450 geschrieben haben.

Außer dem Exemplar in Anholt-Moyland haben sich weitere Abschriften von Hartliebs "Kräuterbuch" in Berlin, Wolfenbüttel, Nürnberg, Linz (hier nur ein Fragment) und Wien erhalten, die teilweise ebenfalls ausgestellt sind und folglich direkt miteinander verglichen werden können. Inhaltlich ist das Werk den Überlieferungen der Antike und des Mittelalters verpflichtet und kann als repräsentativ für den medizinisch-pharmakognostischen Wissensstand seiner Entstehungszeit gelten; hinsichtlich seiner großzügigen Illustration übertrifft es jedoch alle anderen zeitgenössischen Werke.

Heiß und trocken …

Im "Kräuterbuch" sind vier Mineralien, 155 Pflanzen und 13 Tiere, die arzneilich verwendet wurden, abgehandelt. Nach heutigen Maßstäben sind diese 172 Drogenmonographien äußerst knapp. Dies dürfte allerdings seinerzeit nicht als Mangel empfunden worden sein, denn die Kürze erklärt sich aus dem damals herrschenden System der Medizin: der Humoralpathologie oder Viersäftelehre. Die humoralpathologische Einordnung einer Droge, das heißt ihre Charakterisierung als mehr oder weniger heiß oder kalt bzw. feucht oder trocken, war so wesentlich, dass sich eine ausführliche Beschreibung der pharmakologischen Eigenschaften erübrigte.

Etwas umfangreicher, aber immer noch ziemlich kurz sind die Hinweise zur praktischen Anwendung der Drogen: Jede Monographie nennt einige gängige Zubereitungen wie Pflaster, Sirup, Aufguss oder gebranntes Wasser und für diese Zubereitungen wieder beispielhaft einige Indikationen. Einige dieser Anwendungen sind uns auch heute noch vertraut, wie Thymian bei Atemwegserkrankungen oder Fenchel als Karminativum.

Obsolet sind dagegen fast alle Indikationen, die auf den Analogieschlüssen der Signaturenlehre beruhten, etwa in dem Sinne: Besonderheiten der äußeren Erscheinung weisen auf innewohnende Kräfte hin. So sollten zum Beispiel Pflanzen mit herzförmigen Blättern heilsam auf das Herz wirken, die nierenförmige Bohne entsprechend auf die Nieren. Auch die Ansicht, dass die Asche eines verbrannten Igels den Haarwuchs fördert, dürfte auf die Interpretation zurückzuführen sein, dass der Igel mit seinen Stacheln die besonders robuste Variante eines Haarkleides trägt.

Formelbilder

Die Pflanzenabbildungen im "Kräuterbuch" sind alles andere als naturgetreu und boten deshalb sicherlich keine Hilfe bei der Bestimmung der Kräuter. Andererseits zeigen sie oft etwas Eigentümliches der Pflanze, das man sich einprägt, wenn man das Bild zum ersten Mal sieht. Man spricht deshalb auch von Formelbildern. So wächst die Hauswurz auf dem roten Ziegeldach eines Hauses, der Hopfen windet sich um eine Stange, und die unverwechselbaren Früchte des Schlafmohns sind überdimensional groß. Vermutlich dienten die Abbildungen vor allem der schnellen Orientierung im Buch.

Mythologisches

Im Fall der Alraune ist das Pflanzenporträt mythologisch geprägt: In der Antike erzählte man, dass ihre Wurzel nicht nur eine Menschengestalt, sondern auch eine menschliche Stimme hat, oder vielmehr: eine übermenschliche Stimme. Will nun ein Kräutersammler eine Alraune ausgraben, schreit sie in ihrer Todesnot so entsetzlich, dass sie ihn damit tötet. Also behalf der Kräutersammler sich, indem er einen Hund die todbringende Aufgabe erledigen ließ. Es ist nicht anzunehmen, dass jemand im 15. Jahrhundert dieses Verfahren praktiziert hätte, aber die Erzählung war damals so bekannt, dass ein an eine Wurzel angebundener Hund nur auf eine Alraune hinweisen konnte.

Andere Pflanzenporträts offenbaren schlicht Unwissenheit. Bei einer so exotischen Arzneipflanze wie dem Campherbaum ist dies nicht verwunderlich, hingegen ist es sehr erstaunlich, dass der Illustrator nicht einmal die Früchte des Ölbaums – neben Weizen und Wein immerhin die wichtigste Kulturpflanze der Mittelmeerländer – kannte. So lässt er das Baumöl, wie man früher das Olivenöl nannte, durch ein Rohr aus dem Baumstamm rinnen. Oder sollte es sich hier um eine gewollt humoristische Darstellung handeln?

Vorbesitzer: ein jüdischer Arzt

Der Codex dürfte bald nach 1500 in den Besitz der Herren von Anholt und Moyland gelangt sein. Doch stammt er nicht vom Niederrhein, sondern vom Oberrhein. Zwar sind bei den handgeschrieben Codices – anders als bei gedruckten Büchern – Jahr und Ort der Entstehung nicht vermerkt, aber aufgrund sprachlicher Eigenheiten vermutet man, dass der Schreiber in der Gegend von Karlsruhe zuhause gewesen ist. Um 1500 oder kurz danach wurden dann 40 Drogenmonographien durch deutsche Texte in hebräischer Schrift ergänzt, ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Codex für eine kurze Zeit im Besitz eines jüdischen Arztes gewesen war. Insofern stellt er ein einzigartiges Dokument des im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit gar nicht so seltenen Wirkens jüdischer Ärzte in Deutschland dar.

Nachdem die Kirche den Klerikern im 13. Jahrhundert die Ausübung der Heilkunde weitgehend untersagt hatte und bevor Universitäten mit medizinischen Fakultäten gegründet wurden und professionelle Mediziner in ausreichender Zahl ausbildeten, spielten Juden in der Heilkunde eine recht bedeutende Rolle. So wirkte von 1540 bis 1545 in Soest der Jude Benedikt als angestellter Arzt, der in seinem Haus auf ausdrücklichen Wunsch des Stadtrats auch eine Apotheke unterhielt. Andernorts war den Juden zu jener Zeit schon die medizinische Praxis untersagt. Die Stadt Soest sprach ein solches Verbot erst mit der Medizinalordnung von 1613 aus.

Wolfgang Caesar

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