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- DAZ 29/2005
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Die Seite 3
Hinter der Fichte
Turbulente Zeiten, geprägt von Unsicherheiten. Im Getümmel der Tagespolitik, gerade vor Wahlen, passiert leicht, dass viele vor lauter Bäumen den Wald übersehen, indem uns ausgebuffte Politiker (in der Formulierung von Sigmar Gabriel) "hinter die Fichte" (also in die Irre) führen. Hinter den Einzelfragen des politischen Alltags werden oft Grundsatzfragen versteckt. Grundsatzfragen, denen die Politik in (Vor-?)Wahlkampfzeiten allzu gern ausweicht.
Solche Fragen stellen sich zum Beispiel beim Vergleich der beiden Konzepte "Bürgerversicherung" und "Gesundheitsprämie", mit denen der bedrohlichen Einnahmeerosion in der Gesetzlichen Krankenversicherung begegnet werden soll.
SPD, Grüne und PDS/WASG wollen eine einheitliche "Versicherung für alle", in der in Zukunft auch die Gruppen einbezogen werden, die sich bisher privat versichern durften oder mussten (Beamte, Selbstständige, gut verdienende Angestellte, Politiker). Nicht nur Arbeitseinkommen soll Grundlage der Beitragsbemessung sein; hier soll, soweit es einen Arbeitgeber gibt, dieser weiter – "paritätisch" – die Hälfte der Beiträge übernehmen. Zusätzlich soll ein zweiter, gegebenenfalls voller Beitrag (mit eigener oder auch ganz ohne Bemessungsobergrenze) auf Einkünfte aus anderen Quellen (Vermögen, Ersparnisse, Immobilien, Fonds, Aktien etc.) erhoben werden. Bei gleichen Leistungsansprüchen tragen "starke Schultern" also noch einmal wesentlich mehr zur Finanzierung bei als bislang. Die Bürgerversicherung sei deshalb sozial und gerecht – argumentieren ihre Befürworter.
Dies gelte nicht für die "Gesundheitsprämie" der CDU/CSU oder für das FDP-Modell einer Grundsicherung, die jeder (wo auch immer) abschließen muss, mit eingefrorenen Arbeitgeberbeiträgen, die ausgezahlt und versteuert werden, sowie mit steuerfinanzierten "Bürgergeld"-Zuschüssen für Kinder und Bürger mit geringerem Einkommen. Nach dem CDU/CSU-Modell erhalten die Kassen einen kostendeckenden Beitrag für jeden Erwachsenen. Er besteht aus einem Arbeitgeberanteil, der festgeschrieben und damit von der Entwicklung der Krankheitskosten abgekoppelt werden soll, und einer Einheitsprämie, die bei niedrigeren Einkommen (anteilig) und für die Versicherung von Kindern (ganz) aus Steuermitteln (also besonders von denen, die viele Steuern zahlen) finanziert wird.
Was (un)sozial oder (un)gerecht an diesen Modellen ist, ist keinesfalls trivial. In der Rentenversicherung erhält der mehr Rente, der im Laufe seines Lebens mehr einbezahlt hat. Ist das – weil doch jeder im Alter das gleiche Auskommen haben sollte (?) – unsozial und ungerecht? Mit Blick auf die Krankenversicherung müssten wir dies bejahen. Bei schon traditionell stark unterschiedlichen Beiträgen erhalten alle die gleiche Leistung in der GKV.
Dann unter den Bedingungen der Bürgerversicherung: Welche Ungleichbehandlung bei der Heranziehung zur Beitragszahlung hält das System aus, wenn die Leistungszusagen gleich bleiben sollen? Ist der doppelte, fünffache, zehn- oder 20fache Krankenversicherungsbeitrag für gleiche Leistungsanrechte noch gerecht (wenngleich vielleicht allemal sozial)? Welche Ausweichreaktionen mit welchen sozialen Folgen werden dabei provoziert?
Ist zumutbar (oder doch eher "unsozial"?), wenn unter dem CDU/CSU-Modell nicht mehr sozial verbrämt, sondern erkennbar wird, dass Bürger mit geringerem Gesamteinkommen (und Kinder ohnehin) von denen, die kräftig Steuern zahlen, subventioniert werden? Die Frage stellt sich für das FDP-Modell ebenso. Zusätzlich: Eine verpflichtende und gleiche Grundsicherung für die wichtigen Risiken erlaubt Bürgern mit hohem Einkommen, sich zusätzlich zu versichern oder Zusatzleistungen vielleicht sogar aus eigener Tasche zu bezahlen. Ist das unsozial und ungerecht? Wenn ja: Ist es dann nicht auch unsozial und ungerecht, dass einige größere (und sicherere) Autos fahren als andere? Dass sich einige besser ernähren wollen oder können als andere? Dass sie sich erholsameren Urlaub leisten?
All dies sind komplexe Fragen. Im Musical "Kiss me Kate" heißt die Empfehlung: "Schlag nach bei Shakespeare". Besser wäre hier aber Rousseau, Hobbes, Marx, Popper oder Hayek. Wieviel Gleichheit darf in einer Gesellschaft von – der Natur nach – Ungleichen erzwungen werden, ohne die Leistungsbereitschaft zu ersticken? Wieviel Freiheit und damit Ungleichheit sollte hingenommen werden, um Dynamik und Leistungswillen anzufachen – zum Nutzen der Einzelnen wie des Ganzen?
Ähnliche Fragen lassen sich auch durchdeklinieren, wenn man über Sinn und Unsinn von Selbstbeteiligungsregelungen im Gesundheitswesen nachdenkt. Unabhängig von allen Finanzierungseffekten schafft Selbstbeteiligung Zutrauen, dass Leistungen nicht schamlos und über die Maßen ausgenutzt werden. Es sichert die Bereitschaft der jungen und/oder gesunden, aktiven Beitragszahler, ihre Beiträge zu zahlen, obwohl sie davon zunächst kaum profitieren.
Klaus G. Brauer
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