Fortbildung

Sucht und Suchttherapie

Die Sucht ist ein komplexes Phänomen. Eine allgemein akzeptierte Definition, was Sucht ist, existiert nicht. Die meisten Süchtigen verhalten sich zwanghaft und frönen ihrer Sucht trotz Einsicht in die negativen Konsequenzen. Dabei ist die psychische Abhängigkeit oft größer als die körperliche.

Neurobiologie: Ohne Belohnungssystem keine Sucht

Suchtmittel wirken über verschiedene Angriffspunkte an den Neuronen, beispielsweise hemmt Cocain den Dopamintransporter, Nicotin greift am N-Acetylcholinrezeptor a4-b2 an, Morphin am m-Opiatrezeptor und Alkohol, Benzodiazepine und Barbiturate am GABA-A-Rezeptor und am NMDA-Rezeptor. Als Folge bewirken die meisten Suchtmittel eine Glutamat-Überaktivität am NMDA-Rezeptor. Entsprechend können Glutamatantagonisten das Verlangen nach Suchtmitteln (Craving) dämpfen, wie das zur Alkoholentwöhnung eingesetzte Acamprostat.

Glutamat ist der bedeutendste Transmitter im Belohnungssystem, das bei allen höheren Tieren die Nahrungsaufnahme, das Sexual- und Sozialverhalten steuert. Das Belohnungssystem ist zur Erhaltung des Individuums und der Art unverzichtbar und bildet zugleich den Angriffspunkt für Suchtmittel. Natürliche Belohner zeigen bei unerwartetem Eintreten die größte Wirkung und büßen durch Wiederholung an Wirkung ein. Suchtmittel (in entsprechender Dosis) wirken dagegen stets wie natürliche Belohner bei ihrem ersten Eintreten.

Eine Sucht ist weder allein durch die Erfahrung zu erklären, dass das Suchtmittel eine "Belohnung" gibt, noch durch die Gewöhnung, denn im Unterschied zur Sucht sind Gewohnheiten nicht zwanghaft. Offenbar gehört auch die Sensitivierung zur Sucht, denn ein Suchtmittel, das hinreichend oft zugeführt wurde, verursacht ein langes – vielleicht sogar lebenslang unauslöschliches – Suchtgedächtnis. Versuche mit alten Ratten, denen nur in ihrer Jugend Suchtmittel verabreicht wurden, stützen diese These. Dafür spricht auch die Erfahrung, dass Süchtige in einigen Wochen entgiftet werden können, aber noch nach vielen Jahren rückfällig werden können.

Manche Substanzen mit Suchtpotenzial sind ambivalent, sie haben auch positive Aspekte. So könnte die Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit und des Antriebs im Alter mit geeigneten Substanzen angesichts der zunehmenden Lebenserwartung künftig gesellschaftlich ebenso akzeptiert sein wie die Substitution von Hormonen. Auch beim Einsatz von Methylphenidat gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) zeichnet sich eine Neubewertung ab, weil die erfolgreiche Behandlung vermutlich eine Prädisposition von ADHS-Patienten für spätere Suchterkrankungen vermindert.

Therapie muss zumutbar sein

Jährlich sterben in Deutschland etwa 117.000 Menschen an den Folgen des Nicotins, etwa 42.000 an Alkoholmissbrauch, etwa 8000 bis 9000 an Arzneimittelmissbrauch und etwa 1500 an Heroin. Unter den illegalen Drogen ist Cannabis, das in der Pubertät wahrscheinlich irreversible Hirnschäden auslöst, am meisten verbreitet. Der Cocainkonsum breitet sich zurzeit besonders stark aus; der Heroinkonsum geht eher zurück, doch nimmt der problematische Mischkonsum mehrerer Suchtmittel zu.

Da die Abschreckung wenig bewirkt, ist die möglichst frühe Intervention umso wichtiger. Doch auch bei einer lange bestehenden Sucht ist die Behandlung nicht aussichtslos. Dass sich nur verhältnismäßig wenige Süchtige behandeln lassen, ist durch die Stigmatisierung und die mögliche Machtausübung in Therapieeinrichtungen zu erklären.

Süchtige sind eine sehr heterogene Patientengruppe, viele haben zusätzliche – insbesondere psychische – Erkrankungen, die ebenfalls behandelt werden müssen, was nicht an einer Abstinenzideologie scheitern darf. Die Therapie muss für den Patienten zumutbar und inhaltlich überzeugend sein, seine Identität fördern und sein Umfeld einbeziehen. Es sollen stets erreichbare Ziele für die nahe Zukunft angestrebt und klare Regeln konsequent durchgesetzt werden. Es darf keine Schuldzuweisungen geben. Der Patient muss alternatives Verhalten erlernen und Traumata aufarbeiten. Die Substitutionstherapie mit gut kontrollierbaren Substanzen kann Entzugskrisen abwenden und den Betroffenen ermöglichen, ihre sozialen Belange zu ordnen.

Sucht im Alter

Da nur wenige alte Menschen Suchthilfeeinrichtungen kontaktieren, hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen die "Sucht im Alter" zum Schwerpunktthema dieses Jahres erklärt. Zwar sind alte Menschen nicht überproportional häufig süchtig, aber eine Sucht "stirbt" auch nicht mit dem Alter, und Süchtige erreichen ein zunehmend höheres Lebensalter. Relativ verbreitet ist bei alten Menschen die Sucht nach Nicotin oder Psychopharmaka; etwa zwei bis drei Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen sind alkoholsüchtig, dagegen ist die Sucht nach illegalen Stoffen im Alter selten.

Oft fällt die Sucht erst im Zusammenhang mit der Behandlung wegen einer anderen Erkrankung oder eines Unfalls auf. Die Sucht kann zu einer Demenz führen, deren Abgrenzung von einer beginnenden Alzheimer-Krankheit schwierig ist.

Benzodiazepine nicht zur Dauertherapie!

Starke Belastungen wie Krankheit, Partnerverlust und Einschränkungen der Selbstständigkeit, unter denen alte Menschen oft leiden, können eine Sucht begünstigen. Von Arzneimitteln werden alte Menschen oft abhängig, weil sie besonders häufig mit Psychopharmaka behandelt werden, und zwar oft ohne Indikation. Dagegen wird ihnen die an sich indizierte Psychotherapie häufig vorenthalten.

Benzodiazepine sollten maximal vier bis sechs Wochen lang und bei Patienten mit früherer Suchtproblematik nur sehr vorsichtig eingesetzt werden. Für eine Dauertherapie sind sie ungeeignet, zumal sie von alten Menschen schlechter vertragen werden. Spätestens nach einer viermonatigen Medikation ist zu befürchten, dass die Patienten beim Absetzen Entzugssymptome zeigen.

Alte Patienten, die jahrelang Benzodiazepine einnehmen, können für einen Entzug motiviert werden, wenn ihnen aufgezeigt wird, dass ihre sonstigen gesundheitlichen Probleme zumindest teilweise auf die Benzodiazepine zurückzuführen sind. Die Apotheke sollte die Betroffenen ansprechen und ihnen Hilfe anbieten. Wichtig für den Erfolg sind das Werben um Vertrauen, die Motivation und die Information. Der fraktionierte Entzug über einen Zeitraum von etwa vier Wochen ist bei alten Patienten erfolgreicher als der "kalte" Entzug.

Benzodiazepin-"Nachfolger" wie Zolpidem und Zopiclon können zumindest bei prädisponierten Personen ebenfalls zur Sucht führen.

Nicht jeder Süchtige ist krank

Der gesellschaftliche und psychologische Aspekt der Sucht darf nicht unterschätzt werden. Den meisten Konsumenten gelingt es aus eigener Kraft, die Sucht zu überwinden. Möglicherweise ist Sucht eher als Lebensproblem und weniger als Krankheit zu verstehen. Aus soziologischer Sicht wird sogar argumentiert, die neurobiologischen Veränderungen seien nicht die Ursache, sondern die Folge der Sucht. Auch dies ist ein Grund für eine möglichst frühe Intervention.

Bei der Entzugsbehandlung hat sich die Überzeugung der Betroffenen als aussagekräftigster Prädiktor für den Behandlungserfolg erwiesen. tmb

Das Wichtigste in Kürze

  • Neurobiologische Untersuchungen lassen ein langfristiges "Suchtgedächtnis" vermuten.
  • Eine frühe Intervention bei ersten Zeichen der Sucht ist wichtig, aber grundsätzlich ist eine Therapie immer sinnvoll.
  • Eine Sucht "stirbt" nicht mit dem Alter.
  • Benzodiazepine sind im Alter schlechter verträglich. Sie sollten maximal vier bis sechs Wochen lang eingesetzt werden.
  • Bei alten Menschen ist der fraktionierte Entzug von Benzodiazepinen aussichtsreicher als das plötzliche Absetzen.

Internet

Viele Informationen zum Thema Sucht bietet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.: www.dhs.de

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.