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Volksmedizin: Das Sachranger Rezeptbuch
Ein Müller mit Apotheke Peter Huber (1778–1843), genannt der Müllner Peter, war Bauer und Besitzer einer Mühle in Sachrang bei Aschau im Chiemgau; der Ortsteil liegt am oberen Ende des Prientals vor der gewaltigen Kulisse des Kai–sergebirges an der Grenze zu Tirol. Nebenberuflich wirkte der Müllner Peter in seiner Gemeinde u.a. als Organist, als Bürgermeister und auch als Laienmediziner. In einer Kammer über der Mühle hatte er sich eine Art Apotheke eingerichtet. Zudem besaß er eine kleine medizinisch-pharmazeutische Fachbibliothek, darunter die Österreichische Provinzialpharmakopöe von 1795, "Der medizinische Landpfarrer" von Joseph Krause, ebenfalls von 1795, die "Grundsätze der Arzneywissenschaft" des Schotten Francis Home von 1772 und auch ein handschriftliches Rezeptbuch, das um 1800 entstanden sein dürfte, dessen genaue Herkunft aber unbekannt ist.
Zweisprachige Edition Dieses "Sachranger Rezeptbuch" mit 291 beschriebenen Blättern ist nun gedruckt worden, und zwar "zweisprachig": Einer linken Seite mit der wörtlichen Abschrift (Transkription) in oberbayerischer (oder tirolerischer ?) Mundart steht jeweils eine rechte Seite mit der Übertragung (Transposition) des Textes ins Hochdeutsche gegenüber. Begriffe, die nicht ohne weiteres verständlich sind, werden in Fußnoten auf linken und rechten Seiten erklärt. So ergibt sich optisch eine Dreigliederung der Edition.
Ein Lexikon volkstümlicher Arzneimittel Um Wiederholungen zu vermeiden, verweisen die Fußnoten häufig auf ein alphabetisches Kompendium der Arzneidrogen und Erkrankungen, das diese Edition in einem 2., noch etwas umfangreicheren Band ergänzt. Die pflanzlichen Drogen erscheinen dort, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unter dem wissenschaftlichen Namen der jeweiligen Stammpflanze, die mineralischen und tierischen Drogen meistens unter ihrer damals üblichen lateinischen Bezeichnung. Die "Erkrankungen" sind – aus heutiger Sicht – in der Regel Symptome, also keine Krankheiten im klinischen Sinne; auch ein scheinbar eindeutiger Terminus wie "Aussatz" ist nicht einfach mit Lepra gleichzusetzen, sondern kann sich auf verschiedene Erkrankungen mit chronischer Symptomatik der Haut beziehen.
Das Kompendium referiert aufgrund des heutigen Kenntnisstandes die Wirksamkeit der Arzneidrogen und bewertet ihren therapeutischen Nutzen bei den infrage kommenden Indikationen. So stellt es zugleich ein naturwissenschaftlich fundiertes Lexikon (ehemals) volkstümlicher Arzneimittel dar.
71 Heilwässer Das Rezeptbuch des Müllner –Peter ist in 41 Abschnitte von sehr unterschiedlicher Länge untergliedert, wobei in den Abschnitten teils gleichartige Arzneiformen, meistens aber verschiedenartige Medikamente für gleiche Indikationen zusammengefasst sind. So sind im Abschnitt "Wässer" 71 Zubereitungen mit ihren jeweiligen Anwendungen genannt. Die Zubereitungsart wird dagegen nicht erläutert, weil sie anscheinend bekannt war oder weil es dem Ermessen des Heilers anheim gestellt wurde, wie er das Wasser zubereitete. Meistens dürfte es sich um Destillate gehandelt haben, doch kommen auch Dekokte in Frage. Ein anderer Abschnitt enthält jahrhundertealte Wunderdrogentraktate, z.B. über die Eichenmistel und das (alchemistisch zubereitete) Hirschhorn.
Bei den Salben taucht auch die Waffensalbe auf, ein sympathetisches Mittel, das nicht auf der Wunde, sondern auf der Waffe oder dem Gegenstand, der die jeweilige Wunde verursacht hat, appliziert wurde. Ein Bestandteil dieser Rezeptur ist "cansolida maiora, welches in der appodeckhen zu bekhomen ist"; der Herausgeber identifiziert diese Droge mit der (einheimischen) Beinwellwurzel, was wegen des Verweises auf die Apotheke nicht ganz befriedigen, zumal dies eine der wenigen Stellen im Rezeptbuch ist, wo ausdrücklich die Apotheke als Bezugsquelle genannt wird.
Lob der einheimischen Heilpflanzen Selbstverständlich war die Volksmedizin immer bestrebt, die Kosten möglichst gering zu halten. Insofern waren die Rezepturen im Vergleich zu denen der Schulmedizin einfacher und wurde mancher teure Ingredienz durch ein preiswertes Surrogat ersetzt. So empfiehlt das Sachranger Rezeptbuch Holunderschösslinge als vollwertigen Ersatz für Sennesblätter. Darauf folgt der Kommentar: "Ich rede und schreibe an dieser Stelle aus Erfahrung, dass in unseren Landen viel herrlichere Erdengewächse mit Füßen getreten werden."
Andererseits überliefert das –Rezeptbuch auch einen "Pest- und Reinigungsbranntwein", zu dessen Ingredienzien viele exotische Gewürze wie Ingwer, Muskatnuss, Nelken und Pomeranzenschale zählen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Müllner Peter diese Rezeptur jemals angefertigt hat.
Die Obrigkeit drückte ein Auge zu Wie stand nun der Staat zu der Tatsache, dass ein Müller für seine ländlichen Mitbewohner den Arzt und Apotheker spielte? Theoretisch musste er dies verurteilen, denn im Jahr 1808 war in Bayern ein Edikt über das Medizinalwesen in Kraft getreten, das allen, die keine re–guläre medizinische Ausbildung absolviert hatten, jegliche heilkundliche Tätigkeit untersagte. Staatlich angestellte Landgerichtsärzte sollten die einfache Bevölkerung medizinisch betreuen; die professionellen, aber nicht akademisch gebildeten Heilpersonen mussten Schulen besuchen und sich danach einer Prüfung unterziehen, wenn sie weiterhin praktizieren wollten.
Zur Verbesserung der Arzneiversorgung auf dem Lande förderte der Staat die Gründung von Apotheken. Bis um 1800 war die Apotheke nahezu ausschließlich eine städtische Institution gewesen – in Bayern hatten daneben noch einige Klosterapotheken ein Rolle gespielt, die aber um 1800 wegen der Säkularisierung aufgehoben oder privatisiert worden waren. Nun schrieb der Staat zur flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung in ländlichen Gebieten neue Apothekenkonzessionen aus, und weil er ein Interesse daran hatte, dass die niedergelassenen Apotheker dort auch existieren konnten, drängte er die Volksheilkunde zurück.
Dieser tief greifende Strukturwandel in der Gesundheitsversorgung vollzog sich jedoch nicht von heute auf morgen, sondern im Laufe mehrerer Jahrzehnte. Die Landgerichtsärzte duldeten die Laienheiler, wenn ihre Tätigkeit sich überwiegend als nützlich erwies, was wohl mehrheitlich der Fall war. Zudem gab es damals noch keine Krankenversicherungen, geschweige denn ein staatlich beaufsichtigtes Sozialversicherungssystem. Die Behandlung von Krankheiten bezahlte der Patient in der Regel selbst, weshalb er auch selbst entschied, wem er sich zur Behandlung anvertraute.
Der Staat verfolgte das Ziel, die Volksgesundheit zu heben, und ging bei der Ablösung der Volksmedizin durch die Schulmedizin möglichst pragmatisch vor. So hat auch das Sachranger Rezeptbuch noch eine Weile seinen Dienst getan, bis es irgendwann nicht mehr gebraucht wurde. Ein Glücksfall, dass es danach nicht als Altpapier wiederverwertet wurde!
Müllner Peter Museum, Schulstr. 3, 83229 Sachrang Tel. 08057 – 378 oder 904767 www.muellner-peter-museum.de Geöffnet am 2.12. bis 17.12. sams–tags und sonntags sowie vom 26.12. bis 6.1. täglich 14.00–17.00 Uhr, sonst nach Vereinbarung
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