Pharmakodynamik

C. Sinning, P. ImmingParacetamol oder Piece? –

Typisch für die Wirkung von Haschisch ist folgende Schilderung: "Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir zu dritt das Piece [den Joint] weggeraucht hatten, setzte bei mir allmählich ein Gefühl der Leichtigkeit ein, eine Erleichterung, ich fühlte mich frei und ungezwungen ... Dann schließlich bekam ich seltsamen Appetit ... Zur gleichen Zeit fühlte ich mich für den Rest des Abends gelöst, fröhlich, zufrieden, und alle meine Sorgen, die ich damals hatte, waren verschwunden." [1] Die Flucht ins künstliche Paradies [2] verläuft nicht immer so angenehm, sondern kann zu gedrückter Stimmung, Angst und Wahnerlebnissen führen. Nun haben Forscher überraschend entdeckt, dass das altbewährte OTC-Analgetikum Paracetamol seine Wirkung teilweise über dieselben Rezeptoren entfaltet wie Haschisch.

Jeder Apothekenmitarbeiter kennt Patienten, die kontinuierlich OTC-Analgetika einnehmen. Der Grund für den Analgetikakonsum ist in den meisten Fällen der bestehende Schmerzzustand.

Gewöhnt an kleine Analgetika Analgetika können aber auch einen Einfluss auf die Gemütslage nehmen. Während Paracetamol in dieser Hinsicht als unkritisch bzw. ineffizient eingeschätzt wird, scheint das strukturverwandte Phenacetin psychotropes Potenzial zu besitzen. In den 1970er Jahren nahmen Patienten, obwohl sie das Risiko der Nephropathie kannten, weiterhin Phenacetin ein, weil die Tabletten "meine Stimmung heben" oder "mich beruhigen". "Eine Askit (ehemalige Coffein-Phenacetin-Kombination in England) ist himmlisch, Herr Doktor", ist als Aussage eines Patienten überliefert [3, 4]. Hier stand nicht mehr die Schmerzlinderung, sondern der psychotrope Effekt im Vordergrund.

Bereits 1887 konstatierte Kobler, der in einer Wiener Klinik Phenacetin als Antipyretikum verabreichte, dass sich "bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten mit der Entfieberung eine ausgesprochene Euphorie einstellte. Die Kranken fühlten sich erleichtert, äußerten dies häufig spontan, wurden überhaupt gesprächig und munter, verlangten zu essen usw." [5].

Um hinsichtlich der psychotropen Wirkung (auto-)suggestive Einflüsse auszuschalten, wurden knapp hundert Jahre später Untersuchungen an Rhesusaffen durchgeführt [6]. Die Versuchstiere konnten sich Paracetamol, Phenacetin oder Codein selbst applizieren. Auf der "Beliebtheitsskala" rangierte Codein vor Phenacetin, dieses vor Paracetamol und Placebo.

Wirkungsmechanismen von Paracetamol Obwohl Paracetamol seit Jahrzehnten verwendet wird, ist sein Wirkungsmechanismus auf biochemischer Ebene noch nicht geklärt. Die 2002 als Target vorgeschlagene Cyclooxygenase-3 (COX-3) wurde stark in Frage gestellt [7, 8]. Eine aktuelle Arbeit hält den zentralen antinozizeptiven Angriffs–punkt des Paracetamols für einen Hinweis auf die Existenz einer COX-3 [9].

Erwiesen ist, dass Paracetamol als Reduktions–äquivalent für eine Peroxidase dienen kann. Diese Peroxidase ist mit COX-1 und COX-2 vergesellschaftet und sorgt bei Bedarf dafür, dass ein Tyrosinrest in den Cyclooxygenasen als Radikal vorliegt. Nur in dieser aktivierten Form können die Cyclooxygenasen aus Arachidonsäure das Prostaglandin G2 bilden. Reduziert Paracetamol die Peroxidase, genauer gesagt das Eisen eines Häms in der Peroxidase von Fe4+ zu Fe3+, so ist die Radikal–bildung des Tyrosins nicht mehr möglich und der Enzymkomplex somit durch Paracetamol inhibiert [8]. Nach dieser Theorie greift Paracetamol also nicht wie andere (saure) nichtsteroidale Antiphlogistika im aktiven Zentrum der Cyclooxygenasen an.

Eine französische Arbeitsgruppe favorisiert eine Beeinflussung des zentralen serotoninergen Systems als Wirkungsmechanismus von Paracetamol. Bei kombinierter Applikation von 5-HT3-Antagonisten und Paracetamol wurde die analgetische Wirkung im Menschen aufgehoben. Aufgrund von weiteren Experimenten mit Antisense-Desoxy–oligonucleotiden schlagen die Forscher als Target von Paracetamol so genannte non-5-HT3-Rezeptoren vor [10]. Demnach greift Paracetamol nicht an 5-HT3-Rezeptoren an, sondern ist in der Lage, vermehrt Serotonin im ZNS freizusetzen und den "Turn–over" von Serotonin zu beeinflussen [11, 12].

Ganz aktuell schließlich führt eine italienische Arbeitsgruppe die Wirkungen von Paracetamol – Analgesie, Antipyrese sowie Euphorisierung, Entspannung und Tranquilisierung – auf eine Beeinflussung des Endocannabinoidsystems zurück [13].

Was ist das Endocannabinoidsystem? In den letzten Jahren ist ein neues Neurotransmissionssystem entdeckt worden: das Endocannabi–noidsystem [14, 15]. Es besteht aus

  • den membranständigen, G-Protein-gekoppelten Cannabinoidrezeptoren (mit zwei Rezeptortypen CB1 und CB2), deren Bindungsstelle extrazellulär lokalisiert ist [22],
  • endogenen Liganden, insbesondere den beiden Arachidonsäurederivaten Anandamid und Arachidonylglycerol (Abb. 1),
  • dem Anandamidtransporter, der die Endocannabinoide aus dem Interstitium in die Zelle transportiert und dadurch ihre Wirkung limitiert [16], und
  • den beiden Enzymen Fettsäureamidhydrolase (FAAH) [17] und Monoacylglycerollipase –(MAGL) [18], die für den Abbau von Anandamid und Arachidonylglycerol zuständig sind.

Cannabinoidrezeptoren sind mindestens so häufig wie Dopaminrezeptoren. Ihren Namen erhielten sie, weil sie die Angriffspunkte von 9-Tetrahydrocannabinol (THC, Abb. 2) und anderen Cannabis-Inhaltsstoffen darstellen. Agonisten der CB-Rezeptoren lösen eine Vielzahl an Effekten aus, u.a. Analgesie.

Paracetamol oder Piece? Die italienische Forscher fanden nun heraus, dass die analgetische Wirkung von Paracetamol bei Ratten nahezu ausblieb, wenn man ihnen vor der Paracetamolgabe einen CB1-Rezeptorantagonisten applizierte [13]. Wo aber ist der molekularmechanistische Zusammenhang zwischen einer Paracetamol-Analgesie und einer Haschisch-Analgesie? Wirkt Paracetamol am CB1-Rezeptor agonistisch, obwohl es keine strukturelle Ähnlichkeit mit 9-THC oder den Endocanabinoiden aufweist?

Diese Frage wurde durch eine andere Arbeit beant–wortet. Bei Ratten, denen Paracetamol in üblichen analgetischen Dosierungen appliziert wurde, trat der Metabolit N-(4-hydroxyphenyl)arachidonylamid (AM404) im ZNS auf [19]. AM404 wurde bereits 1996 im Rahmen von Struktur-Wirkungs-Unter–suchungen synthetisiert und erwies sich als moderat affiner Ligand des CB1-Rezeptors (Ki 1,8 µM; zum Vergleich: Anandamid Ki 72 nM, Arachidonylglycerol Ki 505 nM) [20] und Hemmstoff des Anandamidtransporters (IC50 1,0 µM) [21].

In der Ratte wird Paracetamol folgendermaßen zu AM404 metabolisiert: Zuerst wird es – vorwiegend in der Leber – zu 4-Aminophenol desacetyliert; dieses gelangt ins ZNS, wo die Fettsäure–amidhydrolase seine Umsetzung mit Arachidonsäure zu AM404 katalysiert (Abb. 3) [19].

Für die Wirkung von AM404 ist seine Interaktion mit dem CB1-Rezeptor wahrscheinlich weniger entscheidend als sein inhibierender Einfluss auf den Anandamidtransporter [21]. Die Hemmung des Anandamidtransporters erhöht die Konzentration der Endocannabinoide Anandamid und Arachidonylglycerol im extrazellulären Bereich, sodass sie mit mehr CB1-Rezeptoren interagieren.

Die vorherige Gabe von CB1-Rezeptorantagonisten verhindert hingegen die Bindung der Endocannabinoide an die CB1-Rezeptoren und somit die Paracetamol-Analgesie.

Neben seinen Effekten im Endocannabinoidsystem erwies sich AM404 in vitro als potenter Inhibitor beider Cyclooxygenasen [19]. Die COX-1 wurde von AM404 in den höchsten verwendeten Konzentrationen ebenso effektiv gehemmt wie von Indometacin.

Weiterhin ist AM404 am Vanilloidrezeptor (TRPV1) ein nahezu äquipotenter Aktivator wie Capsaicin [19]. Dieser Agonismus könnte auch zur Paracetamol-Analgesie beitragen; nähere Hinweise hierzu liegen bis jetzt jedoch nicht vor.

Fazit Der "Genuss" eines Piece oder Joints und die Einnahme von Paracetamol sind im Gesamteindruck natürlich grundverschieden. Jedoch konnte in Tierversuchen gezeigt werden, dass Paracetamol das Endocannabinoidsystem beeinflusst. Ob sich diese Befunde im Menschen reproduzieren lassen, ist noch offen. Wahrscheinlich besteht der Wirkungsmechanismus von Paracetamol im Adressieren von mehreren Targets: den Cyclooxygenasen, dem zentralen serotoninergen System und dem Endocannabinoidsystem – bei einem altbewährten Arzneistoff und dem komplexen menschlichen Organismus wäre das nicht allzu verwunderlich [23, 24].

Es ist faszinierend zu sehen, dass Paracetamol seine Wirkung mindestens teilweise seinem Einfluss auf ein System verdankt, das als Angriffspunkt einer altbekannten Droge zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat [25]. Der pharmazeutisch-chemische Befund taugt weder zur Verharmlosung noch zum Brandmarken von Paracetamol. Ein Arzneistoff wird dadurch, dass er am Endocannabinoid- oder Endorphin-System angreift, weder "geadelt" noch geächtet. Vielmehr muss hier – wie immer bei Arzneimitteln – die als Un–bedenklichkeit bezeichnete Abwägung vorgenommen werden. Außerdem ist die Sache nie so einfach, wie sie sich bei oberflächlicher Betrachtung darstellt. Ein direkter, linearer Schluss von einem molekularen Effekt auf die klinische Gesamtwirkung ist nicht möglich [24].

Natürlich die Analgesie. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten bezüglich der Wirkungen auch schon erschöpft, denn Paracetamol verursacht weder einen Rausch noch macht es süchtig. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht beim Wirkmechanismus: Paracetamol entfaltet seine Wirkung mindestens teilweise über das Endocannabinoidsystem.

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