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Wissenswert
Medizinnobelpreis 2007
Experimente am "Modell"
Mäuse zählen zu den wichtigsten Labortieren – auch in der molekularbiologischen Forschung. Sie sind klein, einfach zu halten und vermehren sich schnell. Ihre hohe Stoffwechselrate führt dazu, dass äußere Einflüsse, zum Beispiel in Form eines applizierten Wirkstoffs, schneller Reaktionen zeigen als beim Menschen. An gentechnisch veränderten, das heißt transgenen Mäusen lassen sich hervorragend die regulatorischen Eigenschaften einzelner Gene untersuchen. Konkrete Fragen der Genregulation sind zum Beispiel, ob ein übertragenes Gen unabhängig von seiner Position im Genom exprimiert wird und – wenn ja – ob es ein korrektes Expressionsmuster zeigt. Mit menschlichen Genen ausgestattete transgene Mäuse ("Modelle") dienen außerdem dazu, menschliche Erkrankungen und pharmakologische Mechanismen zu untersuchen.
Ein langer Anlauf
Die Vorstellung, dass die verschiedenartigen Zellen aus denselben undifferenzierten Stammzellen entstehen, ist bereits hundert Jahre alt. Ebenfalls lange bekannt ist, dass testikuläre Teratome (Hodenkrebs) undifferenzierte embryonale Karzinomzellen enthalten. In den 1950er-Jahren schließlich entdeckte Leroy Stevens in den USA die Mauslinie 129/Sv, die eine große Zahl solcher Teratome entwickelt. Martin Evans kultivierte die embryonalen Karzinomzellen (EC-Zellen) der 129/Sv-Mäuse in vitro und erhielt nach einigen Versuchen fast alle Arten von Zellen: Haut-, Nerven-, Herz- und weitere Zelltypen. Damit war bewiesen, dass sich die EC-Zellen genau so differenzieren können wie die gesunden Zellen eines Mausembryos.
Evans erkannte das große Potenzial dieser Tatsache für die Erzeugung chimärer Mäuse. Er arbeitete deshalb mit Richard Gardner zusammen, der EC-Zellen in Blastozysten injizierte und in die Plazenta scheinschwangerer Mäuse einpflanzte. Die Nachkommen waren allesamt Chimären mit Anteilen an EC-Zellen in nahezu jedem Gewebe (Evans konnte die EC-Zellen mit monoklonalen Antikörpern in vitro identifizieren). Allerdings gelang es auf diesem Wege nicht, in die Keimbahn einzudringen und die tumorale Eigenschaft zu vererben.
Als Nächstes gelang es Evans, Retroviren in die EC-Zellen einzubauen und diese in die Keimbahn der Mäuse einzuschleusen. Später schleuste er eine Mutante des menschlichen Gens für Hypoxanthinphosphoribosyltransferase (HPRT), die für das Lesch-Nyhan-Syndrom verantwortlich ist, in das Genom der Keimzellen ein. Damit war es ihm als erstem gelungen, eine menschliche Krankheit im Tiermodell darzustellen. Als nächstes Ziel schwebte ihm vor Augen, einzelne Gene durch homologe Rekombination gezielt zu verändern und die Auswirkungen zu studieren. Genau hier traf er auf die Forschungsgebiete von Capecchi und Smithies. Zusamen revolutionierten die drei Wissenschaftler mit ihren Arbeiten die experimentelle Medizin.
Bakterien als Vorbild für DNA-Austausch
Bakterien haben es vorgemacht. Sie tauschen seit jeher DNA untereinander aus. Sie tun dies auch mittels der homologen Rekombination von Genen, wie der Nobelpreisträger Joshua Lederberg schon 1958 entdeckt hatte. Dieser Begriff besagt, dass identische oder nahezu identische (d.h. mutierte) DNA-Sequenzen ausgetauscht werden. Kennt man die Sequenz eines Gens und die unmittelbar an beide Enden anschließenden DNA-Abschnitte, muss nur ein solcher DNA-Schnipsel in den Kern einer Zelle eingeschleust werden, um (mit statistischer Wahrscheinlichkeit) einen Austausch der beiden homologen Gene zu erzielen.
Als Capecchi mit seiner Arbeit begann, war es bereits gelungen, in kultivierten tierischen Zellen ein defektes Thymidinkinase-Gen (tk-Gen) durch das HSV-tk-Gen (vom Herpes-simplex-Virus) zu ersetzen. Capecchi verbesserte das Verfahren, indem er die DNA mit einer sehr feinen Glaspipette direkt in den Zellkern injizierte. Dabei machte der Biologe eine erstaunliche Entdeckung: Die eingespritzten tk-Gene wurden immer nur an ein oder zwei Stellen in das Genom eingebaut, aber dort gleich mehrfach hintereinander wie in einer Kette; solche DNA-Abschnitte nannte er Konkatemere. Dass dieser Effekt durch homologe Rekombination erzielt wurde, bewies, dass auch somatische tierische Zellen eine wirkungsvolle enzymatische Maschinerie für diesen Prozess besitzen. Capecchi erkannte schlagartig die Bedeutung dieses Faktums. Gelang es, mit Hilfe dieser Enzyme gezielt bestimmte DNA-Sequenzen homolog auszutauschen, konnte jedes beliebige Gen in einem Tiermodell mutiert bzw. stillgelegt werden.
Ungeheure Dimension einer Erkenntnis
Die ungeheure Dimension dieser Erkenntnis wurde aber nicht sofort von allen Kollegen erkannt. Als Capecchi die nationale Gesundheitsbehörde der USA (NIH) aufforderte, ein groß angelegtes Forschungsprogramm zur gezielten Genmutation in tierischen Zellen zu finanzieren, blitzte er ebenso ab wie sein Kollege Martin Evans in Großbritannien. Die Experten, die darüber entschieden, konnten sich nicht vorstellen, dass eine in den Zellkern injizierte DNA-Sequenz dort einfach ihre homologe Sequenz im Genom findet. Evans wurde sogar beschieden, sein Vorhaben sei "überambitioniert".
Capecchi ließ sich nicht entmutigen und injizierte Zellen mit defektem Neomycin-Resistenz-Gen die korrekten DNA-Sequenzen – mit einer Erfolgsrate von 1 Promille. Dies erschien ihm ausreichend, um Gene in tierischen Zellen gezielt verändern zu können.
Auch Oliver Smithies experimentierte mit der homologen Rekombination von Genen, und zwar mit dem Ziel, mutierte Gene, die Krankheiten auslösen, zu korrigieren. Seit den 1960er-Jahren befasste er sich mit Allelen (verschiedene Zustandsformen eines Genes) des Haptoglobins und des beta-Globins. 1985 schließlich veröffentlichte er eine wegweisende Arbeit, in der er die erfolgreiche Integration eines Plasmids in das chromosomale beta-Globin-Gen einer menschlichen Erythroleukämiezelle beschrieb.
Mit dieser Publikation war der Boden bereitet, um endlich den Nachweis anzutreten, dass die homologe Rekombination nicht nur in Zellkultur, sondern auch im lebenden Tier gelingt. Capecchi und Smithies nahmen Kontakt mit Evans auf, um gemeinsam das große Ziel anzugehen, Mäuse jedes gewünschten Genotyps zu erzeugen. Die experimentelle Strategie legte Capecchi fest:
"Der Vorteil dieses Szenarios ist, dass die erste Generation Chimären gewöhnlich heterozygot für die gezielt erzeugte Mutation sein wird. Mit den nachfolgenden Kreuzungen werden homozygote Tiere entstehen. Deshalb muss nur einer der beiden Loci inaktiviert werden, und wir erhalten sowohl rezessive letale Tiere als auch heterozygote. Falls diese Strategie erfolgreich sein wird, wird es zukünftig möglich, die Entwicklungsbiologie der Maus aufzudecken. Und ebenso wird es möglich werden, Mausmodelle für menschliche Krankheiten zu erzeugen."
Genau so ist es gekommen. Es entstanden die Knock-out-Mäuse, bei denen ein einzelnes Gen gezielt durch die hier beschriebenen Methoden ausgeschaltet wird. Mit der homologen Rekombination wird ein natürliches Gen (Wildtyp) durch ein mutiertes Allel ersetzt. Die entstehenden Defekte im Organismus können dann morphologisch, physiologisch und biochemisch analysiert werden. Es ist damit auch möglich, menschliche Krankheiten am Tiermodell zu erforschen. Die Funktion eines fehlenden Proteins im lebenden Tier, in seinen Zellen und Geweben, zu erforschen, ist ein entscheidender Schritt in der medizinischen Forschung und weit darüber hinaus.
Mit Mäusen gegen die Angst
Zwanzig Jahre nach der Erzeugung der ersten Knock-out-Mäuse werden diese bereits zur Herstellung von Medikamenten genutzt. Ein Beispiel ist das alpha-1-Antitrypsin (AAT), das einigen Menschen fehlt. Das Akute-Phase-Protein, das das Körpergewebe vor an Entzündungsprozessen beteiligten Proteinen schützt, wird in transgenen Mäusen produziert. In ihr Genom wurde das AAT-Gen hinter einen milchdrüsenspezifischen Promotor eingebaut. Das Produkt lässt sich dann aus der Milch der Mäuse isolieren. So kann das Protein einfach gewonnen werden, und es besteht keine Gefahr, dass ungünstige Stoffwechselwechselwirkungen in der Maus auftreten.
Auch die Xenotransplantation profitiert von dieser Technik. So wird daran gearbeitet, beispielsweise in Schweinen ganze menschliche Organe heranzuzüchten, indem die entsprechenden menschlichen Gene in das Genom der Schweine eingebaut wird. Diese Organe sollen nach einer Transplantation eine möglichst geringe Immunantwort des Patienten auslösen.
Die Anwendungsfelder der homologen Rekombination scheinen unendlich. So wird am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin versucht, mittels Knock-out-Mäusen Angstzustände auf molekularer Ebene zu verstehen. Bei pathologischen Angstzuständen spielt das Hormon CRH (Corticotropin-freisetzendes Hormon) eine wichtige Rolle. Demgemäß unterdrückt die Blockade des CRH-1-Rezeptors solche Angstzustände zu haben. Mäuse, denen dieser Rezeptor fehlt, haben weniger Angst als die normale Kontrollgruppe.
Die Untersuchung des CRH-2-Rezeptors brachte außerordentlich überraschende Ergebnisse. Auf eine Blockade dieses Rezeptors reagierten die männlichen Mäuse mit extremen Angstzuständen, während die Weibchen keine auffällige Reaktion erkennen ließen. Die Göttinger Forscher folgerten daraus, dass weibliche Mäuse entweder andere entwicklungsbiologisch programmierte molekulare Mechanismen der Angstreaktion besitzen oder dass sie besser an das Fehlen eines intakten CHR-2-Rezeptors angepasst sind.
Es gibt also noch viel zu tun, bis die Menschen ihre Angst vor der Wissenschaft und anderen Dingen verlieren.
Dr. Uwe Schulte
Händelstraße 10
71640 Ludwigsburg
Züchtung transgener Mäuse Aus der Blastozyste ("früher Embryo") einer Maus werden Zellen entnommen und in vitro kultiviert. Im Kulturmedium schwimmen die Kopien eines bestimmten Gens; sie dringen in die Zellen ein und werden in seltenen Fällen in das Genom eingebaut. Solche transgenen Zellen werden identifiziert, ausgewählt und vermehrt. Anschließend werden sie in Blastozysten gespritzt, die in die Plazenta einer scheinschwangeren Maus eingesetzt werden und sich dort zu chimären Mäusen (mit Zellen unterschiedlichen Erbgutes) entwickeln. Durch Kreuzungen der Chimären entstehen erbreine Linien von transgenen Mäusen und Wildtyp-Mäusen. Vergleichende Untersuchungen lassen auf die Eigenschaft des eingeschleusten Gens schließen. Mit dieser Technik lässt sich auch ein Gen entfernen ("knock-out") und dessen Eigenschaft im Vergleich mit genetisch unveränderten Mäusen studieren.
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