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Sucht
Wege aus derAlkoholabhängigkeit
Alkoholismus ist eine der häufigsten neuropsychiatrischen Erkrankungen mit enormen gesundheitlichen und sozioökonomischen Auswirkungen auf die Weltbevölkerung. So trägt die chronische Einnahme von Alkohol zu zahlreichen medizinischen Indikationen bei, darunter die Abhängigkeit und die Schädigung von Organfunktionen. Der Gebrauch und Missbrauch von Alkohol betrifft alle sozialen Gruppen. Man schätzt, dass von allen Faktoren, die zur globalen Krankheitslast beitragen, Alkohol weltweit für 3,2% aller Todesfälle verantwortlich ist [1]. Der Prozentsatz der gesamten behinderungsadjustierten Lebensjahre sogenannten DALYs (disability-adjusted life years: Anzahl der verlorenen Lebensjahre durch vorzeitigen Tod kombiniert mit dem Verlust an Lebenszeit durch Behinderung) infolge chronischen Alkoholkonsums wird weltweit auf fast 4,0% geschätzt (zum Vergleich: Aids liegt bei 2,2%).
Alkoholabhängigkeit hat nicht nur verheerende Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit der Betroffenen, sondern auch ernsthafte gesellschaftliche und ökonomische Konsequenzen in Form von Kriminalität, Produktivitätsverlusten und erhöhten Gesundheitskosten: Weltweit werden in den industrialisierten Ländern 6% des Bruttosozialprodukts aufgrund des Gebrauchs und Missbrauchs von Alkohol ausgegeben [1].
Suchtverhalten in Verbindung mit Alkoholismus ist gekennzeichnet durch das starke Verlangen (Craving) nach Alkohol sowie durch Kontrollverlust bezüglich des Trinkens und die Entwicklung von Toleranz und Abhängigkeit. Gleichzeitig nimmt das Repertoire von sozialen Funktionen, die nicht mit dem Konsumverhalten verbunden sind, dramatisch ab. Darüber hinaus ist Alkoholismus eine Krankheit mit wiederholten Rückfällen, und selbst nach jahrelanger Abstinenz bleibt das Rückfallrisiko hoch. Während in der Vergangenheit die Verhinderung von Rückfällen als vorrangiges Behandlungsziel galt, hat es in den letzten Jahren einen konzeptionellen Wandel in Richtung einer Reduktion von schädigendem Trinken gegeben.
Merkmale von Suchtverhalten, wie das rückfallartige Trinken, können zufriedenstellend bei Labortieren modelliert werden. Hier ist das Alkoholdeprivationseffekt-Modell (ADE-Modell) der häufigste Ansatz, um rückfallartiges Verhalten zu untersuchen [2]. In diesem Modell wird nach chronischem Alkoholkonsum der Alkohol für einige Tage entzogen. Wird nach dieser Abstinenzphase Alkohol wieder angeboten, kommt es zu einem stark erhöhten Alkoholkonsum. Der ADE kann bei zahlreichen Arten einschließlich Ratten, Mäusen, Affen und Menschen beobachtet werden und weist eine hohe Reliabilität auf. Die Tatsache, dass klinisch wirksame Medikamente gegen Rückfall, wie Acamprosat (Campral®) und Naltrexon, im Tiermodell ebenfalls den ADE reduzieren oder sogar verhindern [2], belegt den Nutzen dieses Tiermodells in Bezug auf die Entwicklung neuer und besserer Medikamente für die Behandlung von Rückfällen.
Opioiderge Präparate:Naltrexon und Nalmefen
Die klinisch verwendeten Opioid-Rezeptorantagonisten Naltrexon und Nalmefen beeinflussen die Alkoholeinnahme mittels der Blockade von Opioidrezeptoren [2]. Eine neuere Metaanalyse – basierend auf 2861 Probanden in 24 randomisierten, kontrollierten Studien (random controlled trials: RCTs) – ergab, dass durch die Einnahme von Naltrexon im Vergleich zu Placebo das relative Rückfallrisikos um 36% signifikant gesenkt wurde [3]. Da Naltrexon primär über µ-Opioidrezeptoren wirkt und Nalmefen sowohl für µ- als auch für κ-Opioidrezeptoren eine Selektivität besitzt und mit einer stärkeren Wirkung auf die Alkoholeinnahme einhergeht, vermutet man, dass κ-Opioidrezeptoren auch bei Alkoholrückfällen und Craving eine Rolle spielen. Die Anwendung des κ-Opioidrezeptorantagonisten nor-Binaltorphimin (nor-BNI) verminderte den Alkoholdeprivationseffekt im Tierversuch jedoch nicht, weder im Heimkäfig noch unter operanten Bedingungen [4].
Hohe Glutamatspiegel fördern Alkoholkonsum
Die klinisch verwendete "anti-glutamaterge” Substanz Acamprosat (Campral®) wurde in 17 randomisierten klinischen Studien (RCTs) an 4087 Probanden untersucht und man fand, dass Acamprosat im Vergleich zu Placebo das relative Rückfallrisiko signifikant um 17% reduziert [5]. Acamprosat ist das Calciumsalz von N-Acetylhomotaurin. Die Dissoziation des Salzes in biologischen Flüssigkeiten führt zu dem aktiven N-Acetylhomotaurin, welches als ein kleines Molekül Ähnlichkeiten mit vielen Aminosäuren besitzt, vor allem mit Glutamat, GABA, Aspartat, Glycin und Taurin [2]. Obwohl Homotaurin als GABAA -Rezeptoragonist bekannt ist, konzentrierten sich neuere Arbeiten auf das glutamaterge System. So hat man in elektrophysiologischen Studien an kortikalen Neuronen eine hemmende Wirkung von Acamprosat auf Glutamatreaktionen gefunden. Man vermutet, dass Acamprosat Veränderungen im Gehirn hervorruft, welche die Wirkungen eines NMDA-Rezeptor-Antagonismus durch einen indirekten Mechanismus nachahmen. Darüber hinaus zeigen mutierte Mäuse mit erhöhten Glutamatspiegeln eine höhere Alkoholeinnahme als Wild-Typ-Mäuse und sprechen besser auf Acamprosat an. Dies zeigt eindeutig, dass Acamprosat hauptsächlich auf ein hyperglutamaterges System wirkt [6].
Acamprosat-Wirkung bestätigt glutamaterge Hypothese
Die Wirksamkeit von Acamprosat unter klinischen Bedingungen steht in Einklang mit der glutamatergen Hypothese des Alkoholismus [7] und legt nahe, dass sich infolge der Blockade der ionotropen Glutamatrezeptoren die Rückfallrate sowie das Craving reduzieren lassen könnten. Tatsächlich reduzieren sowohl Memantin als auch Neramexan – beide sind NMDA-Rezeptorkanalblocker – dosisabhängig den Alkoholdeprivationseffekt [8]. Beide Substanzen erzeugen in Tieren und Menschen Ethanol-ähnliche Effekte und dämpfen je nach Dosis bei alkoholabhängigen Patienten Reiz-induziertes Craving [9]. Diese Art von Substitutionstherapie stellt ein neues Behandlungskonzept bei Alkoholismus dar. Eine neuere Studie mit Neramexan bei 236 alkoholabhängigen Patienten brachte jedoch nicht das erwartete Ergebnis [G.A. Wiesbeck et al., unveröffentlicht]. Eventuell ist eine zu niedrige Dosis der Grund für den mangelnden Effekt. Auf der Grundlage des Konzepts der Substitutionstherapie ist es offensichtlich, dass das Medikament in relativ hohen Dosen verabreicht werden muss.
Neben den glutamatergen NMDA-Rezeptoren wird auch angenommen, dass glutamaterge AMPA-Rezeptoren (s. Kasten) bei der Suchtentwicklung eine entscheidende Rolle spielen. Tatsächlich wird durch die pharmakologische Blockade von AMPA-Rezeptoren der Alkoholdeprivationseffekt dosisabhängig reduziert [10]. Interessanterweise reduziert Topiramat – ein Antikonvulsivum, das die AMPA-Rezeptoren blockiert und auch andere Wirkungsstellen im ZNS hat – die Rückfallraten bei alkoholabhängigen Patienten und somit auch die Gefahr des exzessiven Trinkens [11]. Darüber hinaus konnte in einer kürzlich veröffentlichten Studie gezeigt werden, dass alkoholabhängige Patienten, die kontinuierlich trinken, nach einer Behandlung mit 300 mg/d Topiramat im Vergleich zu Placebo das Ziel der Abstinenz signifikant schneller erreichen [12].
Heterogenität bei der Reaktionauf die Behandlung
Weder von den Präparaten gegen Rückfälle, die bereits auf dem Markt sind, noch von weiteren Substanzen, die folgen werden, kann eine einheitliche Reaktion auf die Behandlung erwartet werden. Abhängiges Verhalten ist das Ergebnis der genetischen und der epigenetischen Ausstattung eines Individuums, zusätzlich zu den kumulativen Reaktionen auf Alkoholexposition und Umwelt-Perturbationen im zeitlichen Verlauf. Diese komplexe Interaktion zwischen Alkohol, Gen und Umwelt führt zu einer großen klinischen Heterogenität sowohl in Bezug auf die Symptomatik und die Schwere der Störung als auch auf das Wichtigste: die Reaktion auf das Arzneimittel und damit die Wirksamkeit der Behandlung. So sprechen tatsächlich nur 20 bis 30% der Patienten auf eine Behandlung mit Naltrexon oder Acamprosat an. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass irgendein anderes Medikament in Bezug auf den Behandlungserfolg einen höheren Prozentsatz erzielen könnte. Es gibt deshalb einen wirklichen Bedarf an alternativen Ansätzen, entweder molekulare oder endophänotypische, welche zur Vorhersage der Behandlungsreaktion verwendet werden könnten.
Pharmakogenomik und Endophänotypen beeinflussen Behandlungserfolg
Die Reaktion auf eine pharmakologische Behandlung könnte durch genetische Polymorphismen von Zielgenen beeinflusst werden. Tatsächlich wurde erst kürzlich gezeigt, dass bei männlichen Rhesus-Makaken ein funktionaler Polymorphismus im µ-Opioidrezeptorgen mit einer erhöhten Einnahme von Alkohol zusammenhängt und dass das menschliche Äquivalent dieser Genvariante die Wirkung von Naltrexon vorhersagt [13; R. Anton, unveröffentlichte Ergebnisse]. Solch ein pharmakogenetischer Ansatz kann künftig auch bei anderen Medikamenten verwendet werden. Jedoch wird es komplizierter, wenn mehrfache Zielgene in der Reaktion auf die Behandlung involviert sind, wie im Fall von Acamprosat.
Mit Hilfe bildgebender Verfahren ist es inzwischen möglich, neurobiologisch relevante Endophänotypen zu identifizieren und diese mit Craving, Rückfall und Behandlungsreaktion in Beziehung zu setzen. Eine neuere PET-Studie, in der Carfentanil verwendet wurde, um die Verfügbarkeit von µ-Opioidrezeptoren zu messen, ergab: Abstinente alkoholabhängige Patienten zeigten eine Zunahme der µ-Opioidrezeptoren im Nucleus accumbens, die mit der Schwere des Alkoholcravings korrelierte [14]. Um die Wirksamkeit einer Behandlung mit Acamprosat zu verbessern, setzt man zurzeit die spektroskopische Bestimmung von Glutamat ein, in der Hoffnung, dass Patienten mit hohen Glutamatspiegeln auf Acamprosat ansprechen werden.
Kombinierte Pharmakotherapie –eine Perspektive für die Zukunft
Es wurde bereits gesagt, dass eine Vielzahl von Genen und Endophänotypen sowie diverse Umweltinteraktionen für die Reaktion auf eine Pharmakotherapie verantwortlich sind. Daher ist es offensichtlich, dass ein reduktionistischer Forschungs- und Behandlungsansatz nicht sehr aussichtsreich ist. Stattdessen können wirkliche Fortschritte nur dann gemacht werden, wenn mit Hilfe der Definition von objektiven klinischen Endpunkten bei einer individualisierten Behandlung und einem auf eine System-orientierte Medizin basierenden Ansatz die Interaktionen und Dynamiken aller involvierten endogenen und Umweltfaktoren integriert werden [15].
Mit dem Wissen, dass Substanzen gegen Rückfälle über verschiedene neurochemische Systeme wirken, kann die Kombination verschiedener Wirkstoffe einen weiteren Vorteil bieten. Tatsächlich haben zwei klinische Studien gezeigt, dass eine Kombination von Naltrexon und Acamprosat effektiver sein kann als die Gabe eines der Medikamente alleine [16, 17]. Diese Ergebnisse wurden jedoch nicht in der COMBINE-(Combined pharmacotherapies and behavioral interventions for alcohol dependence)-Studie repliziert, in der 1383 alkoholabhängige Patienten mit einer Kombination beider Präparate und mit Verhaltensinterventionen behandelt wurden [18]. Der Grund für diesen negativen Befund liegt höchstwahrscheinlich in dem Rekrutierungsbias von Probanden mit einem mittleren Schweregrad und frühen Stadien des Alkoholismus: eine Patientengruppe, die besser auf die Behandlung mit Naltrexon als auf die mit Acamprosat anspricht [19]. Als Resümee ist zu erwarten, dass ein "Cocktail" von verschiedenen Pharmakotherapien zusammen mit Verhaltensinterventionen die Behandlungssituation weiter verbessern wird.
Einführung neuer Anti-Craving-Medikamente fraglich
Auch wenn es in naher Zukunft zu weiteren Durchbrüchen auf dem Gebiet der Anti-Craving-/Anti-Rückfallsubstanzen kommen wird, bleibt es fraglich, ob diese Medikamente wirklich auf den Markt gebracht werden. So bleibt nämlich ein Problem: Warum werden Rückfallprophylaxen im Vergleich zu anderen Psychopharmaka so selten verschrieben [20]? Zum einen mag es an den zögerlichen und unzureichend finanzierten Marketingstrategien der pharmazeutischen Industrie liegen, zum anderen sind Investitionen in der Weiterentwicklung der Medikamente noch sehr niedrig. Ein zusätzliches Problem, das die niedrigen Verschreibungsraten bedingt haben mag, ist die allgemeine öffentliche Meinung: Alkoholismus sei eine Verhaltensstörung und als solche obliege sie der alleinigen Selbstverantwortung des Individuums. Dieses Stigma wird von der Mehrheit derjenigen unterstützt, die professionell in der Suchthilfe tätig sind: Psychologen, Sozialarbeiter, Mitglieder von Selbsthilfegruppen und Suchtberater sind sehr zurückhaltend, wenn es um den Einsatz von Medikamenten geht [20]. Der einzige Weg aus diesem Dilemma ist eine wirksamere Verbreitung von Informationen und ein Bildungsmarketing von öffentlichen Entscheidungsträgern und professionellen Organisationen. In dieser Hinsicht könnte in Zukunft die pharmazeutische Industrie der Hauptakteur sein: Aber nur wenn sie bereit ist, diesen möglicherweise lukrativen Markt zu erobern, wobei die hauptsächlichen Nutznießer die Patienten selbst sein werden.
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[19] Karpyak VM et al.: Alcoholism treatment with naltrexone and acamprosate: what can influence the outcome. Addiction 2008; (in press).
[20] Spanagel R, Mann K, eds: Drugs for relapse prevention of alcoholism, Birkhäuser 2005.
Anschrift des Verfassers:Prof. Dr. Rainer SpanagelAbteilung für Psychopharmakologie, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim- NMDA-Rezeptoren,
- AMPA-Rezeptoren und
- Kainat-Rezeptoren
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