Arzneimittelüberwachung

Das Rapid-Alert-System (RAS)

Klassifikation qualitätsbedingter Arzneirisiken
Von Michael Schmidt, Rottenburg

Mit dem Rapid-Alert-System (RAS) wurde ein zunächst EU-weites, später globales Informationssystem für die Meldung besonderer qualitätsbedingter Arzneimittelrisiken entwickelt. Wie die Praxis zeigt, bestehen national und international erhebliche Unterschiede in der Klassifizierung der auftretenden Risiken. Eine Herausforderung für alle, die Arzneimittelfachleute sein wollen.

Apotheker als Risikomanager

Auch der Arzneimittelbereich ist von Risiken nicht ausgenommen. Risiken müssen kompetent erkannt, bewertet und kommuniziert werden, damit geeignete Präventionsmaßnahmen eingeleitet werden können. Dies gilt auf allen Ebenen, die mit Arzneimitteln zu tun haben, insbesondere

beim Offizinapotheker, dem ein Patient eine seltene, möglicherweise qualitätsbedingte Nebenwirkung mitteilt oder der im Rahmen der von § 12 Apothekenbetriebsordnung geforderten regelmäßigen Sortimentsüberprüfungen einen Qualitätsmangel feststellt;

beim Apotheker, der in einem Pharma-Unternehmen die Funktion des Stufenplanbeauftragten bekleidet;

beim Apotheker, der in einer Behörde (z. B. Zulassungsbehörde, Regierungspräsidium) in die Pharmakovigilanz und das Risikomanagement eingebunden ist.

Ein kompetenter Umgang mit Risikomeldungen trägt dazu bei, Patienten zu schützen. Zu einem intelligenten Risikomanagement gehört auch immer das Wissen, dass blinder Aktionismus mit der Folge einer Verknappung eines lebenswichtigen Medikaments in der Regel mehr Tote fordert als eine exotische Nebenwirkung.

"Zu Risiken und Nebenwirkungen […] fragen Sie Ihren [Arzt oder] Apotheker" – dieser Wunsch des Gesetzgebers aus § 4 Heilmittelwerbegesetz kann nur auf der Grundlage solider Aus- und Fortbildung funktionieren. Der folgende Beitrag zeigt typische Schwachstellen am Beispiel des Rapid-Alert-Systems (RAS), einem anfangs EU-weiten, heute globalen schnellen Informationssystems über Arzneimittelrisiken.

Schnelles Alarmsystem

In einer Europäischen Union (EU) ohne Binnengrenzen und einem blühenden Export von in der EU hergestellten Arzneimitteln in den Rest der Welt ist es wichtig, beobachtete Risiken schnell an alle potenziell betroffenen Staaten kommunizieren zu können. Für die schweren Fälle unter den durch Qualitätsmängel verursachten Arzneimittelrisiken wurde in der EU das sogenannte Rapid-Alert-System (RAS) entwickelt. Nähere Informationen hierzu finden sich auf den Internetseiten der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMEA/ London: www.emea.europa.eu; Compilation of Community Procedures on Inspections and Exchange of Information.

a) Handling of Reports of suspected quality defects in medicinal products (EMEA/INS/GMP/313507/2006) und

b) Procedure for Handling Rapid Alerts and Recalls arising from Quality Defects (EMEA/INS/GMP/313510/2006).

Diese Dokumente richten sich an die zuständigen Arzneimittelbehörden und erläutern das Verfahren für den Umgang mit Meldungen über schwere Qualitätsmängel – von der dokumentierten Erfassung bis zur Risikobewertung und Weiterleitung der Informationen.

In Deutschland wurden diese Vorgaben als Verfahrensanweisung in das Qualitätsmanagementsystem der Arzneimittel-überwachungsbehörden integriert. Die entsprechenden Dokumente finden sich auf den öffentlichen Internetseiten der Zentralstelle für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG): www.zlg.de/ Arzneimittel/ Qualitätssicherung in der Arzneimittelüberwachung/ Qualitätssicherungshandbuch/ Kapitel 12/ VAW 121101.

Für die schnelle Informationsübermittlung zwischen den Behörden wurde ein EU-weit einheitliches Formblatt entwickelt, welches im Fall von lebensbedrohlichen Qualitätsmängeln (= Risikoklasse I) auch an Staaten außerhalb der EU geht.

Risiko klassifizieren

Bevor ein (weltweiter) RAS-Alarm ausgelöst wird, muss in jedem Einzelfall geprüft werden, ob tatsächlich ein Hochrisiko-Qualitätsmangel vorliegt. Dies erfordert pharmazeutischen Sachverstand. Der folgende Kasten zeigt die aktuelle RAS-Klassifizierung in drei Klassen, mit Fallbeispielen für jede Risikoklasse.


RAS-Klassen

Klassifizierung der Rückrufe nach europaweit einheitlichen RAS-Risikoklassen
Klasse I
Der vorliegende Mangel ist potenziell lebensbedrohend
oder könnte schwere Gesundheitsschäden verursachen.
Dazu zählen beispielsweise:
Falsches Produkt (Deklaration und Inhalt stimmen nicht überein)
Richtiges Produkt, aber falsche Wirkstoffstärke mit schweren medizinischen Folgen
Mikrobielle Kontamination von sterilen injizierbaren oder ophthalmologischen Produkten
Chemische Kontamination mit schweren medizinischen Folgen
Untermischung anderer Produkte in erheblichem Ausmaß (> 1 Blister/ Verpackung betroffen),
Falscher Wirkstoff in Kombinationsarzneimitteln mit schweren medizinischen Folgen.

Klasse II
Der vorliegende Mangel kann Krankheiten oder Fehlbehandlungen verursachen und fällt nicht unter Klasse 1. Dazu zählen beispielsweise:
Fehlerhafte Kennzeichnung z. B. falscher oder fehlender Text
Falsche oder fehlende Produktinformation
Mikrobielle Kontamination von nicht-injizierbaren, nicht-ophthalmologischen sterilen Produkten mit medizinischen Folgen
Chemische/physikalische Kontamination (signifikante Verunreinigungen, Kreuz-Kontamination, Fremdkörper)
Untermischung anderer Produkte innerhalb einer Verpackung
Abweichung von den Spezifikationen (z. B. analytische Abweichung/Haltbarkeit/Füllgewicht/ -menge)
Unzureichender Verschluss mit schweren medizinischen Folgen (z. B. bei Zytostatika, fehlende Kindersicherung, stark wirksamen Produkten).

Klasse III
Der vorliegende Mangel stellt kein signifikantes Risiko für die Gesundheit dar. Der Rückruf erfolgt aus anderen Gründen als Klasse I und II.
Dazu zählen beispielsweise:
Fehlerhafte Verpackung, z. B.
– falsche oder fehlerhafte Chargenbezeichnung oder
– falsches oder fehlendes Verfalldatum
Fehlerhafter Verschluss,
Kontamination, z. B. mikrobielle Verunreinigung, Verschmutzung oder Abrieb, einzelne fremde Bestandteile.

Von der Theorie in die Praxis

Dass jeder Fall einer individuellen Bewertung bedarf und eine starre Klassifizierung nicht funktionieren kann, sollen fünf ausgewählte Beispiele aus der Praxis verdeutlichen.

Fall 1: In einer Apotheke wird ein Blisterstreifen eines Knoblauchöl-Kapselpräparates entdeckt, der neun weiße Kapseln und eine rote Kapsel enthält. Die Recherche der Behörde ergibt, dass es sich bei der roten Kapsel um eine Zubereitung mit Johanniskrautöl handelt. Daraufhin wird das Risiko mit RAS 2 klassifiziert und der Rückruf der Charge angeordnet.

Bewertung: Die Einstufung als RAS 2 erscheint formal richtig ("Untermischung anderer Produkte in einer Verpackung"), ist aber nicht sachgemäß, da aus einer Einnahme keine Gesundheitsstörungen resultieren würden. Anders läge der Fall, wenn die Fremdkapsel einen Wirkstoff mit geringer therapeutischer Breite enthalten hätte, beispielsweise Nitroglycerin.

Fall 2: In einem EU-Mitgliedstaat wurde im Rahmen einer amtlichen Probenuntersuchung festgestellt, dass der Gehalt einer Josamycin-Saftzubereitung für Kinder unter 90% der Deklaration lag. Der Mangel wurde aufgrund der Gefahr einer Unterdosierung und der hieraus folgenden unzureichenden Therapie schwerer Infektionen als RAS 1 klassifiziert und ein EU-weiter Alarm ausgelöst.

Bewertung: Die Einstufung als RAS 1 erscheint nicht sachgerecht, denn die festgestellte Gehaltsminderung hat keine potenziell lebensbedrohlichen Auswirkungen. Zutreffender wäre unter der Annahme einer unterdosierten Therapie einer Infektion die Klassifikation als RAS 2 gewesen ("Abweichung von den Spezifikationen; kann eine Fehlbehandlung verursachen"). In die fachliche Bewertung des Risikos ist einzubeziehen, dass bei einer oralen Saftzubereitung nicht von einer 100%igen Resorption ausgegangen werden kann. Dazu kommt, dass die empfohlene Dosierung schon aufgrund patientenindividueller Unterschiede (Lebensalter, Körpergröße/ -oberfläche, Körpergewicht) weiten Streuungen unterliegen dürfte.

Fall 3: In einem EU-Mitgliedstaat wurde festgestellt, dass eine mit der Stärke 0,5 mg bedruckte Packung eines Benzodiazepins Tabletten der Stärke 1 mg enthielt. Der Mangel wurde als RAS 1 klassifiziert und EU-weit kommuniziert.

Bewertung: Die Einstufung als RAS 1 erscheint nicht sachgerecht, denn die "Überdosierung" dürfte keine potenziell lebensbedrohlichen Auswirkungen haben. Fachlich zutreffender wäre die Klassifikation als RAS 2 gewesen ("Fehlerhafte Kennzeichnung; kann eine Fehlbehandlung verursachen").

Fall 4: In einem EU-Mitgliedstaat wurde festgestellt, dass sich der Schraubverschluss einer antibiotischen Saftzubereitung nicht öffnen ließ. Der Mangel wurde als RAS 1 klassifiziert, alle EU-Mitgliedstaaten wurden über den angeordneten sofortigen Rückruf informiert.

Bewertung: Die Einstufung als RAS 1 erscheint nicht sachgerecht, denn das Öffnen unter Zuhilfenahme eines Werkzeugs ermöglicht den Beginn der erforderlichen Therapie. Fachlich zutreffender wäre die Klassifikation als RAS 3 gewesen ("Fehlerhafter Verschluss; kein signifikantes Risiko für die Gesundheit").

Fall 5: Ein Nasenspray auf der Basis einer Kombination verschiedener homöopathischer Potenzen wurde wegen eines fehlenden Verfallsdatums auf der Verpackung beanstandet. Der Mangel wurde als RAS 2 klassifiziert und ein Chargenrückruf angeordnet.

Bewertung: Die Klassifikation als "RAS 2" ist fachlich nicht sachgerecht, denn es sind – auch bei Annahme einer deutlichen Überschreitung der mehrjährigen Haltbarkeit – keine signifikanten Risiken für die Gesundheit zu befürchten. Zutreffender ist die Klassifizierung in RAS 3 ("Falsches oder fehlendes Verfalldatum").

Fazit

Damit das RAS-Verfahren seinen Zweck wirkungsvoll erfüllen kann, müssen verschiedene Voraussetzungen eingehalten werden:

  • Der Einsatz muss auf echte Risikofälle beschränkt bleiben;
  • Die Klassifizierung des Risikos muss fachgerecht erfolgen;
  • Eine schnelle Weiterleitung muss sichergestellt sein.

Die bisherigen Erfahrungen mit RAS-Meldungen aus der EU zeigen, dass es Defizite in allen drei Grundforderungen gibt: Es werden nicht für das RAS bestimmte Qualitätsdefizite gemeldet und es wird falsch – weil zu formalistisch – klassifiziert. Dazu kommt, dass die Meldungen im Fall wirklich lebensbedrohlicher Risiken zu langsam gestreut würden, weil die bürokratischen Hierarchien zu träge sind.

Denkbare Lösungsansätze sind:

  • die Aufnahme des Risikomanagements in die pharmazeutische Aus- und Fortbildung,
  • die regelmäßige Evaluierung von RAS-Meldungen nach Inhalt und Zeit,
  • die Durchführung geeigneter Trainingsmaßnahmen für Mitarbeiter in der Pharmaindustrie und der behördlichen Pharmakovigilanz.

Risikomanagement geht alle an, die kompetente Arzneimittelfachleute sein wollen.

 

Anschrift des Verfassers:

Dr. Michael Schmidt,
Fachapotheker für öffentliches Gesundheitswesen,
Pfeiferstr. 15,
72108 Rottenburg

 

 

 

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