Arzneimittel und Therapie

Wirkungsloser Ginkgo-Extrakt?

Ob Ginkgo-Extrakt bei Demenzkranken die Gedächtnisleistung verbessern kann, ist umstritten. Einer soeben veröffentlichten Studie von McCarney et al. zufolge ist Ginkgo-Extrakt nicht wirksamer als Placebo. Bei näherer Betrachtung der Studie kommen jedoch Zweifel an der Qualität und Aussagekraft auf. Wir haben Prof. Dr. Volker Schulz, Berlin, und die Firma Schwabe, Karlsruhe, gebeten, die Studie aus ihrer Sicht zu bewerten. Das Fazit: Die Studie weist gravierende methodische Mängel auf und ist nicht dazu geeignet, eine Aussage zur Wirksamkeit von Ginkgo-Extrakt zu treffen.

Demenz-Erkrankungen vom Alzheimer- und vom vaskulären Typ sind bis heute nicht kausal behandelbar. Die Therapie zielt auf Linderung nicht auf Heilung. Als Antidementiva angewendete Arzneistoffe sollen die Progression der Erkrankung verzögern. Die Wirksamkeit ist aber nicht völlig zweifelsfrei gesichert. Das gilt auch in Bezug auf die gegenwärtig führende Stoffgruppe der Acetylcholinesterase-Hemmer. Die Acetylcholinesterase-Hemmer sind außerdem durch ernste Nebenwirkungen und hohe Kosten belastet. Die britische Gesundheitsbehörde hat deren Verordnung stark eingegrenzt. Auf der Suche nach verträglicheren preiswerteren Alternativen wurde deshalb in London eine Studie zur Wirksamkeit von Ginkgo-biloba-Extrakt (Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761®) durchgeführt, die von der britischen Alzheimer-Gesellschaft unterstützt wurde.

Progression der Demenz verzögern

Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die orale Therapie mit Ginkgo-biloba-Extrakt im Rahmen einer randomisierten Studie bei Patienten mit leichter und mittelschwerer Demenz einen therapeutischen Vorteil gegenüber einer solchen mit Placebo hat. Die randomisierte Doppelblindstudie wurde mit 176 Patienten (88 Verum, 88 Placebo) durchgeführt. Die Rekrutierung über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren erfolgte unter Beteiligung von 388 Allgemeinpraktikern aus 119 Londoner Arztpraxen. Die Diagnosestellung erfolgte "pragmatisch". Das bedeutete unter anderem, dass nicht zwischen Alzheimer- und vaskulär bedingten Demenzen differenziert wurde. Bereits bestehende Arznei-Behandlungen mit Ginkgo-biloba-Extrakt mussten zwei Wochen vor Studienbeginn unterbrochen werden, solche mit Acetylcholinesterase-Hemmer durften fortgeführt, aber während der Studie nicht neu begonnen werden. Nach der Randomisation nahmen die Patienten für den Zeitraum von sechs Monaten in zwei parallelen Gruppen entweder 2 x 60 mg Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761® oder ein äußerlich nicht unterscheidbares Placebo täglich ein. Die Kontrolluntersuchungen erfolgten zu Beginn sowie nach zwei, vier und sechs Monaten.

Das primäre Wirksamkeits-Kriterium war, wie heute bei den meisten Studien dieser Art üblich, der kognitive Teil der Alzheimer’s Disease Assessment Scale (ADAS-cog). Der Arzt prüft kognitive Leistungen aus elf Bereichen. Daraus resultiert ein Summenscore zwischen 1 und 70 (je niedriger, je besser; der übliche "Basiswert" in den Studien liegt zwischen 20 und 30; die "unbehandelte" Progression beträgt 2 bis 10 Punkte pro Jahr). Außerdem wurde in der Studie eine Skala zur Bewertung der Lebensqualität (QOL-AD) mit 13 "Items" verwendet, die vom Patienten oder dessen Betreuer zu beantworten war. Weitere Selbstbeurteilungs-Skalen dienten als sekundäre Zielgrößen. Die mittleren Score-Werte der ADAS-cog resp. der QOL-AD in den Placebo/Verum-Gruppen betrugen vor Beginn der Studie 25/20 resp. 37/36. Über die Verlaufsentwicklung dieser Werte ist in der Publikation leider keine Information enthalten. Die statistische Bewertung erfolgte nur auf der Basis der Differenzen zwischen Placebo und Verum. Die Unterschiede waren bei keiner der Zielgrößen und zu keinem Zeitpunkt statistisch signifikant.

 

Quelle

McCarney, R.; Fischer, P.; Iliffe, S.; von Haselen, R.; Griffin, M.; von der Meulen, J.; Warner, J.: Ginkgo biloba for mild to moderate dementia in a community setting: a pragmatic, randomized, ,parallel-group, double-blind, placebo-controlled trial. Int J Geriatr Psychiatry 2008; DOI: 10.1002/gps.2055
Prof. Dr. Volker Schulz Oranienburger Chaussee 25 13465 Berlin

 

Kommentar

"Für einen Wirksamkeitsbeleg nicht geeignet!"

Die Studie von McCarney weist gravierende Mängel auf, die nach internationalen Bewertungsmaßstäben zu einer Herabstufung ihrer Eignung als Wirksamkeitsbeleg führen. Zu diesen Mängeln und Auffälligkeiten zählen:

  • erhebliche Unterschreitung der geplanten Fallzahl;
  • geringe Fallzahl pro Zentrum, unterschiedliche Betreuungsintensität ohne nachvollziehbare Zuordnung in den verschiedenen Zentren;
  • gleichzeitige Einnahme eines Acetylcholinesterase-Hemmers erlaubt;
  • Übertragungseffekte bei vorheriger Einnahme eines Ginkgo-Präparates nicht unterbunden.

Selbst wenn für einzelne der Mängel und Besonderheiten der McCarney-Studie, soweit sie für sich allein betrachtet werden, ein Einfluss auf das Studienergebnis wissenschaftlich nicht immer eindeutig nachgewiesen werden kann, so ist doch nicht anzunehmen, dass diese Einflussfaktoren völlig "unabhängig" voneinander wirkten. Es ist deshalb nicht abzuschätzen, in welchem Umfang diese Mängel und Besonderheiten insgesamt für das erhaltene Ergebnis verantwortlich sind.

Fazit: Der mögliche Erkenntnisbeitrag der McCarney-Studie für die Nutzenbewertung von Ginkgo-Extrakt sollte als gering eingestuft werden. Ein fehlender Wirksamkeitsbeleg kann hier nicht ernsthaft behauptet werden, da die methodischen Schwächen einfach zu dominant sind.

Folgende Informationen untermauern diese Position:

• Es wurden 224 Patienten (56%) weniger Patienten eingeschlossen als ursprünglich geplant waren. Eine nachträgliche Änderung der Fallzahl in diesem Ausmaß stellt unseres Erachtens einen schwerwiegenden Mangel der Studie dar. Wenn man davon ausgeht, dass die ursprüngliche Fallzahlplanung, die zu einer Stichprobengröße von 400 führte, dem vierarmigen Studiendesign angemessen und nicht willkürlich maßlos überzogen war, so handelte es sich bei der späteren Neuberechnung offensichtlich um einen Versuch, die Planzahl der angesichts erheblicher Rekrutierungsschwierigkeiten tatsächlich erzielbaren Fallzahl nachträglich anzunähern. Ein solches Verfahren ist mit wissenschaftlichen Vorgehensweisen bei randomisierten klinischen Studien nicht vereinbar, zumal es keine Reflexion im Prüfplan dazu gibt.

•Hinzu kommt, dass die 176 Patienten der Studie von 388 Allgemeinärzten in 119 Praxen rekrutiert wurden, das entspricht knapp 1,5 Patienten pro Zentrum und 0,45 Patienten pro Arzt. Selbst wenn man annimmt, dass es innerhalb eines Zentrums keine systematischen Unterschiede zwischen den Patienten der verschiedenen Ärzte gibt, was keineswegs selbstverständlich ist, so muss auf jeden Fall davon ausgegangen werden, dass ein erheblicher Anteil der Verumpatienten aus einer anderen Grundgesamtheit rekrutiert wurde als ein ebenso großer Anteil der Placebopatienten. Es ist davon auszugehen, dass je nach Besonderheiten der jeweiligen Praxis und Entfernung und Verfügbarkeit spezialisierter Zentren Aufkommen und Charakteristika von Demenz-Patienten von Praxis zu Praxis unterschiedlich sind. Auch dies muss als schwerwiegender Mangel der Studie geltend gemacht werden.

• Die Studie unterscheidet sich von allen bisherigen Demenz-Studien auch dadurch, dass Patienten aufgenommen werden durften, die bereits seit mindestens zwei Monaten mit einem Acetylcholinesterase-Hemmer behandelt wurden. Dabei handelt es sich immerhin um ein Drittel der Stichprobe. Wenn eine gleichzeitige Behandlung mit einem anderen Antidementivum erlaubt ist, kann eine zusätzliche Wirkung von Ginkgo-Extrakt nicht erwartet werden, wie dies im Übrigen auch umgekehrt nicht zu erwarten ist. In jedem Fall ist die Einflussgröße der Zusatzmedikation in der Studie nicht ausbalanciert und wird die von der Ginkgo-Behandlung ausgehende Wirkung nivellieren. Denn bei leicht bis mittelgradig dementen Patienten lassen sich nachweislich nur in den ersten drei bis neun Monaten einer medikamentösen Behandlung Verbesserungen erzielen (wie aus allen wesentlichen Antidementiva-Studien ersichtlich ist). Diese Verbesserungen wurde durch die Vormedikation mit Acetylcholinesterase-Inhibitoren bei einem Teil der Patienten abgeschöpft, bzw. wurde eine Verschlechterung bei einem Teil der Placebo-Patienten gehemmt. Die erlaubte Comedikation in Zusammenwirken mit der zu geringen Teilnehmerzahl behindert eine Aussagefähigkeit der Studie letztlich völlig.

• Ebenfalls im Gegensatz zu allen anderen Studien wurde die Einnahme von Ginkgo-Produkten bis zu zwei Wochen vor Einschluss in diese Studie akzeptiert. Damit können Übertragungseffekte einer Vormedikation auf die Baseline nicht ausgeschlossen werden, die sich insbesondere im Falle ungleicher Verteilung über die Behandlungsgruppen auf das Studienergebnis auswirken könnten.

Demgegenüber liegen aus den letzten Jahren Studienergebnisse zu EGb 761® (Tebonin®) vor, die eine Wirksamkeit in der Dosierung 240 mg/d bei leichter bis mittelgradiger Demenz gegenüber Placebo belegen [2; 3]. Bei diesen Studien wurden alle wichtigen Qualitätsmerkmale eingehalten und auch die Teilnehmerzahl lag in geeigneter Größenordnung mit jeweils etwa 400 auswertbaren Patienten pro Studie.

 

Quelle

[1] McCarney, R.; et al.: The Hawthorne Effect: a randomised, controlled trial. BMC Med Res Methodol 2007 Jul 3; 7: 30.

[2] Napryeyenko, O.; Borzenko, I.: Ginkgo biloba Special Extract in Dementia with Neuropsychiatric Features. Arzneimittel-Forschung (Drug Research) 2007; 57 (1): 4-11.

[3] Ihl R, Bachinskaya N, Tribanek M, Hoer R, Napryeyenko O: Efficacy and Safety of a once-daily formulation of Ginkgo biloba extract EGb 761® in Dementia with neuropsychiatric features (GOTADAY-Trial). 10th International Hongkong/Springfield Pan Asian Symposium on Advanced Alzheimer Therapy, Febr 28, 29 - March 1, 2008, 20L: 50.


 

Dr. Volker von den Driesch
Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG
Willmar-Schwabe-Str. 4
76227 Karlsruhe

KOMMENTAR

"Aufgrund von Mängeln kein Gewicht!"


 

Der völlig negative Ausgang weicht von der Mehrzahl anderer Studien mit Ginkgo-biloba-Extrakt ab. Die Autoren räumten allerdings bereits im Titel ein „pragmatisches“ Vorgehen ein. Diese Ehrlichkeit ist zu begrüßen, an den Mängeln ändert sie nichts: 176 Patienten, betreut von 388 beteiligten Ärzten, macht rein rechnerisch 0,45 Patienten pro Arzt. Unter dieser Diversifikation hatte die Homogenität der Studie ebenso zu leiden, wie möglicherweise durch die wenig differenzierte Demenz-Diagnostik vor Beginn der Studie. Die Co-Medikation von Acetylcholin in Verbindung mit den fehlenden Verlaufs-Angaben der Absolut-Werte der Scores lassen die wichtige Frage der Progression unter Placebo offen. Sollte nämlich dank der großzügig erlaubten Begleitmedikation im Studienzeitraum keine Progression stattgefunden haben, wäre auch keine Hemmung (als derzeit einzig möglichem Therapieeffekt) zu erwarten gewesen. Die Studie hat somit aufgrund ihrer Mängel wenig Gewicht. Der Ausgang erinnert allerdings einmal mehr auch an ein generelles Dilemma der Demenz-Behandlung. Ähnlich, wie bei der britischen Gesundheitsbehörde, resultierten Nutzen-Risiko-Bewertungen von Antidementiva auch hierzulande in zurückhaltenden Befunden. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat den Acetylcholinesterase-Hemmern nur bezüglich des Therapieziels der kognitiven Leistungsfähigkeit eine auf sechs Monate begrenzte Wirksamkeit zugestanden [1]. Die Acetylcholinesterase-Hemmer sind aber nicht nur durch schwere Nebenwirkungen und hohe Kosten sondern auch durch die Tatsache belastet, dass aufgrund der charakteristischen Begleiteffekte eine zuverlässige „Verblindung“ in den Studien nicht zu realisieren ist. Dem gut verträglichen und preiswerteren Ginkgo-biloba-Extrakt wiederum räumt das IQWiG gegenwärtig nur „Hinweise für einen Nutzen“ im Hinblick auf die Aktivitäten des täglichen Lebens ein [2]. Die Erwartungen richten sich jetzt auf die ebenfalls beim IQWiG anhängige Bewertung nicht-medikamentöser Verfahren [3]. Ob sich deren Erfolge besser darstellen lassen, ist mehr als fraglich. Bis zur Entwicklung kausaler Therapien, die derzeit auch nicht in Sicht sind, könnte als vorläufiges Gesamt-Resultat der Evaluierung eine auf Vertrauen, Empathie und Hoffnung der Patienten und Angehörigen gestützte Kombination aus palliativen medikamentösen und nicht-medikamentösen Maßnahmen stehen. Die Behandlung mit Ginkgo-biloba-Extrakt könnte darin durchaus ihren Platz bewahren. Für einen solchen „prag-matischen“ Gebrauch wären allerdings direkte Vergleiche zwischen Ginkgo-biloba-Extrakt und synthetischen Antidementiva zweckmäßiger als weitere placebokontrollierte Studien.


 

Quelle

[1] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin: Cholesterinesterase-Hemmer bei Alzheimer-Demenz. Abschlussbericht. IQWiG-Bericht 2007, Nr. 17, 7. Februar 2007. 
[2] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin: Ginkgo-haltige Präparate bei Alzheimer-Demenz. Vorbericht. IQWiG-Bericht vom 19. Februar 2008.
[3] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin: Nichtmedikamentöse Behandlung der Alzheimer-Demenz. Dokumentation und Würdigung der Stellungnahmen zum Berichtsplan. IQWiG-Bericht vom 17. Dezember 2007.


 

Prof. Dr. Volker Schulz, Oranienburger Chaussee 25, 13465 Berlin

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