Wissenswert

Tschernobyl – ein strahlendes Naturparadies?

Die Bewertung des kerntechnischen Unfalls in Tschernobyl geht in eine neue Runde. Diesmal sind die Auswirkungen der Strahlenbelastung auf die Fauna des Gebietes rund um den havarierten Kernreaktor das Hauptthema.

Am 28. April 1986 war der Block IV des damals sowjetischen "Lenin"-Kernkraftwerks, das heute zur Ukraine gehört, explodiert. Insgesamt wurden 5300 Petabecquerel an radioaktiven Isotopen freigesetzt. Die Hälfte davon bestand aus dem Edelgas Xenon-133, das sich nur zu einem äußerst geringen Grad in der Umwelt und nach Inhalation in der Lunge ablagert. Von großer biologischer Bedeutung sind hingegen die Isotope Iod-131 mit einer Halbwertszeit (HWZ) von acht Tagen, Cäsium-134 (HWZ: 2 Jahre) und Cäsium-137 (HWZ: 30 Jahre). Strontium und Plutonium sind vor allem in der Nähe des Reaktors niedergegangen und nicht weit verfrachtet worden. Insgesamt wurde eine Fläche von 200.000 km2 mit mehr als 37 Kilobecquerel Cs-137 kontaminiert. Davon liegen 146.000 km2 in Weißrussland, Russland und der Ukraine.

Streit von Anbeginn

Die gesundheitlichen Auswirkungen des Unfalls wurden und werden sehr eingehend untersucht. Trotzdem gibt es keine technologisch bedingte Katastrophe, über die so widersprüchlich und widerstreitend berichtet wird. Allein die angegebenen Zahlen der Todesopfer reichen von 30 bis zu 125.000. "Subjektive Einschätzungen, mangelnde Bezugsgrößen, schlampige Recherchen und von Vorurteilen und Partikularinteressen geprägte oder naive Berichterstattung haben dazu beigetragen. Viele der widersprüchlichen Daten lassen sich – mit nicht unerheblichem Aufwand – auf die jeweilige Ursache zurückverfolgen, andere sind weder begründbar, noch in ihrer Entstehung recherchierbar." So Professor Rolf Michel von der Universität Hannover. Er zitiert auch die UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation): "Außer dem Anstieg von Schilddrüsenkrebs nach Exposition in der Kindheit gibt es 14 Jahre danach keine Evidenz für eine größere Auswirkung auf die Gesundheit der Bevölkerung durch den Tschernobyl-Unfall."

Dennoch gibt es weiter Streit. Auf den ersten Blick ist das evakuierte Gebiet, in dem nur noch wenige Personen illegal leben, heute ein Naturparadies. Die Ukraine und Weißrussland haben es als "Radioökologisches Schutzgebiet" ausgewiesen, und die Natur holt sich die Städte und Dörfer langsam zurück. Über 100 als bedroht eingestufte Tierarten leben dort friedlich und ungestört. Seltene Tiere wie Bär, Wolf, Luchs und Adler haben die menschenleere Wildnis mit den fischreichen Seen erobert.

Trügerische Idylle?

Doch die Idylle scheint trügerisch. Jim Smith von der Universität Portsmouth sagt zwar, dass es der restlichen Natur auch gut gehen müsse, wenn so viele Tierarten hier wieder siedeln. Dem widerspricht Anders Møller von der Universität Pierre und Marie Curie in Paris. Mit mehreren Kollegen hat er 20 Jahre nach dem Unglück begonnen, die lokale Fauna zu untersuchen. Demnach leiden farbenprächtige Vogelarten wie der Pirol (Oriolus oriolus) und die Blaumeise (Parus caeruleus) heute stärker unter der Strahlung als eher unscheinbar braun und grau gefiederte Arten wie Tannenmeise (Periparus ater) und Buchfink (Fringilla coelebs). Rauchschwalben (Hirundo rustica), die um den Reaktor herum brüten, zeigen überdurchschnittlich häufig Missbildungen der Schnäbel und Schwanzfedern und Veränderungen der Gefiederfarbe. Eine erhöhte Frequenz partieller Albinismen tritt bei den Rauchschwalben auf.

Die Ursache für die Farbstörungen soll im erhöhten Bedarf an Carotinoiden liegen. Sie sind der Farbstoff für gelbe, orange und rote Federn und Schnäbel. Da die Carotinoide gleichzeitig als Antioxidanzien wirken und die freien Radikale neutralisieren, die bei radioaktiver Strahlung verstärkt entstehen, ist deren Verbrauch in einer belasteten Umgebung erhöht. Freie Radikale wie das Superoxidanion schädigen Zellen und Erbgut. Dieser permanente Stress schwächt die allgemeine Gesundheit der Vögel. Nach Møller erkranken sie deshalb häufiger an Krebs, sterben früher und haben weniger Nachkommen, sodass die Bestandsdichte abnimmt.

Tschernobyl im Netz

Radioökologische Informationen
www.zsr.uni-hannover.de

Kernenergieindustrie
www.kernenergie.de

Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.
www.ippnw.de/Atomenergie/Tschernobyl-Folgen

Kulturfolger

Jim Smith findet dagegen eine ganz andere Erklärung für den Rückgang der Population: Einige Vögel wie die Rauchschwalben sind Kulturfolger. Ihre Zahl hat abgenommen, weil die Menschen das Gebiet verlassen haben und die Landwirtschaft zum Erliegen gekommen ist. Das offene Kulturland mit Weiden und Äckern ist Dickicht und jungem Wald gewichen. Die Häuser stürzen ein. Damit gingen den Vögeln Brutmöglichkeiten verloren. Ihrem Rückgang steht der Zuzug von Waldbewohnern wie Schwarzstorch (Ciconia nigra), Rotwild und Wolf (Canis lupus) gegenüber.

Anders Møller teilt diesen Befund nicht; er weist darauf hin, dass bei Rauchschwalben Veränderungen der Spermien nachgewiesen worden sind.

Schwerwiegende Anschuldigungen

Smith teilt mit vielen anderen Wissenschaftlern die Auffassung, dass die Gruppe um Møller methodisch nicht sauber gearbeitet habe. Unterschiedlich stark radioaktiv belastete Standorte seien zusammengefasst und mit unbelasteten verglichen worden. Dabei schwanke die Strahlenbelastung in der verbotenen Zone um den Faktor 100. Da über die Jahre seit 1991 nicht konsequent dieselben Standorte untersucht worden sind, sei ein Vergleich körperlicher Schäden über Raum und Zeit unzulässig. Für diese Argumentation spricht, dass Møller bereits seit 1993 der Makel anhängt, nicht korrekt zu arbeiten; seine wissenschaftliche Reputation gilt als fragwürdig [2].

Werden die Mutationen vererbt?

Unabhängig davon geht der Streit weiter. Während die Gruppe um Møller befürchtet, dass sich negative Mutationen generativ ausbreiteten, sieht James Morris von der Universität South Carolina in Columbia die nach der Katastrophe aufgetretenen Erbgutschäden und Missbildungen nicht als dramatisch an, da diese Individuen kaum das adulte Stadium erreichen und sich vermehrt hätten. Seiner Meinung nach werden die Mutationen nicht vererbt, sondern bilden sich immer wieder neu, und zwar in abnehmender Zahl. Viktor Dolin von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew stimmt zu, indem er feststellt, dass wichtige mutagene Isotope wie das Caesium-137 an Bodenpartikeln haften und sich nicht in Tieren und Pflanzen anreichern. Auch der Kiewer Ökologe Sergej Gaschak meint, dass der Strahleneffekt mit der Zeit zurückgeht. Er ist optimistisch und hofft, dass das Gebiet eines Tages zum Nationalpark erklärt wird.

Möglicherweise streiten die Parteien auch aneinander vorbei. Während die Gruppe um Møller von insgesamt elf strahlungsbedingten morphologischen Abnormitäten spricht, argumentiert Smith eher populationsdynamisch. In jedem Falle kann man die heute in dem Gebiet herrschende Strahlenbelastung von deutlich unter 20 Millisievert pro Jahr nur sehr schwer in direkten Zusammenhang mit den Abnormitäten bringen. Nach Aussage von Professor Michel vom Zentrum für Strahlenschutz und Radioökologie der Universität Hannover kann unterhalb der Schwelle von 50 mSv grundsätzlich epidemiologisch kein Schaden beim Menschen nachgewiesen werden. Dabei ist zu beachten, dass der Mensch im Vergleich zu Tieren eine wesentlich längere Generationszeit hat und damit auch mehr radioaktive Partikel inkorporieren kann. Dennoch wird der Streit wohl weitergehen.

 

Literatur

[1] Rolf Michel: 15 Jahre nach dem Unfall von Tschernobyl. Ein Überblick über die radiologischen und radioökologischen Folgen. Zentrum für Strahlenschutz und Radioökologie, Universität Hannover, 2001; www.zsr.uni-hannover.de.

[2] Brendan Borrell: A Fluctuating Reality. Scientist 21 (1), 26 (2007).

[3] Hans Ellegren et al.: Fitness loss and germline mutations in barn swallows breeding in Chernobyl. Nature 389 , 593 (1997).

[4] A.P. Møller et al.: Elevated frequency of abnormalities in barn swallows from Chernobyl. Biology Letters 3 (4) (2007).

[5] A.P. Møller, T.A. Mousseau: Species richness and abundance of forest birds in relation to radiation at Chernobyl. Biology Letters 3 (5) (2007).

[6] Natural Environment Research Council: Chernobyl Incident Had Fewer Long-Term Health Impacts Than Expected. Science Daily 9 April 2007, 23 January 2008; www.sciencedaily.com/releases/ 2007/04/070407172204.htm.

 


Dr. Uwe Schulte

Händelstraße 10

71640 Ludwigsburg

schulte.uwe@t-online.de

 

 

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