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Wirtschaft
Das Zinsmärchen
Doch dieser Zins hat weitreichende Konsequenzen. Zahlreiche Zukunftsversprechen bis hin zum künftigen Wohlergehen ganzer Rentnergenerationen hängen an diesen magischen vier Buchstaben. Geht es nach dem Willen der Finanzindustrie, sollen es noch viel mehr werden, deren Wohlstand in ferner Zukunft auf den Wirkungen des Zinses fußt.
Was für den einen der Preis des Geldes ist, ist für den anderen die Rendite. Beide sind über die Zukunft miteinander verbunden. Der eine investiert, weil er glaubt, die mit den Investitionen geschaffenen Produkte zukünftig absetzen zu können. Der andere glaubt, dass dies so ist, und vergibt in treuem Glauben an seine Rendite das Geld. Der Begriff Glaube kommt erstaunlich oft vor. Das Wort Kredit leitet sich nicht ohne Grund von lateinisch "credere" (= glauben, anvertrauen) ab. Die Finanzwirtschaft beinhaltet somit schon fast religiöse Elemente: Der Glaube an die gute Zukunft, das Paradies, in welchem stets Wachstum (die Quelle der Rendite!) herrscht.
Dass es nun noch clevere Menschen gab und gibt, die diesen im Grunde noch einfachen Zusammenhang durch allerlei Kunstprodukte verkomplizieren und aufblähen (eine, aber mitnichten die einzige Ursache der Finanzkrise), sei hier jetzt einmal hintangestellt.
Kollektivvertrauen gefragt
Doch was steckt eigentlich hinter dem Geld, auf welchem der Begriff Zins überhaupt erst aufsetzen kann?
Geld ist im Prinzip nichts weiter als eine Art Stellvertreter, nämlich für Waren und Leistungen. Dies wird immer mehr vergessen, denn das Geld hat für viele einen Wert an sich entwickelt – weil das Vertrauen noch vorhanden ist. Geld ist mit Vertrauen in elementarer Weise verbunden. Sie akzeptieren einen im Grunde wertlosen 50 Euro-Schein nur, weil Sie darauf vertrauen, dass Sie ihn an der nächsten Ecke gegen Brötchen, einen Haarschnitt oder was auch immer eintauschen können. Ihr Geschäftspartner muss dieses Vertrauen genauso aufbringen, es ist also ein kollektives Vertrauen gefragt.
Nun erzählt man den Menschen, sie müssten für ihr Alter vorsorgen (womit wir im Tierreich einzigartig sind, dazu weiter unten mehr). Man verspricht kollektive Renditen. Und damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Wer Kapital zu etwas über 7 Prozent Rendite anlegt, verdoppelt seinen Einsatz binnen 10 Jahren. Nach 20 Jahren vervierfacht er sich, nach 30 Jahren steht das Achtfache in den Büchern. Selbst bei bescheideneren 4 Prozent Rendite beträgt der Verdoppelungszeitraum immerhin knapp 18 Jahre. Wer als Junger heute spart, erwartet dann mithin eine Vervierfachung oder Verfünffachung seines heutigen Einsatzes binnen eines Arbeitslebens von vielleicht 40 Jahren.
Wie wir weiter oben gehört haben, ist Geld nichts weiter als eine Art Stellvertreter für Waren und Dienste. Kann sich dieser Gegenwert tatsächlich ebenfalls noch vervielfachen, zumal angesichts unseres Sättigungsgrades? Die Finanzindustrie macht es glauben.
Ein Hebel, hier die Luft wieder heraus zu lassen, hört auf den Namen Inflation. Damit ist der politischen Einflussnahme Tür und Tor geöffnet. Man kann es auch als Einladung zum politischen Großbetrug verstehen. Die Finanzindustrie stört das wenig. Die Provisionen fließen mehrheitlich hier und heute. Man kann leicht ausrechnen, dass ein kollektiver Sparwahn (staatlich verordneter Sparzwang?) zu Unsummen an Geld führen würde, denen kein adäquater Gegenwert gegenüberstünde. Vergessen wir zudem nicht, dass die Weltbevölkerung immer noch wächst, die Ansprüche auch. Pro Kopf schwinden dagegen die natürlichen Ressourcen. Allenfalls Effizienz- und Produktivitätsgewinne können diesen Schwund verlangsamen. Gelingt nicht eine grundlegende Energiewende, sind die ganzen Prognosen sowieso Makulatur.
Damit entpuppt sich der Glaube ans Geld als einer der größten Irrtümer der Menschheitsgeschichte. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Cocktail aus überbordenden Schulden, irrationalen Renditeerwartungen und enormen (Schein-)Guthaben seinen Realitätstest bestehen muss: Geldscheine gegen Köpfe, Ressourcen und nutzbare Flächen. Die Abrechnung wird alles andere als schmeichelhaft ausfallen. Doch wie konnte es soweit kommen?
Sie sammeln – doch ohne Zins
Blicken wir einmal zurück in die Evolutionsgeschichte. Immerhin sind wir ja ein Produkt der Evolution, und in unseren Genen schlummern noch mehr als reichlich Überbleibsel von Affen, Vögeln oder noch niedrigeren Lebewesen. Interessanterweise kennt keines dieser Wesen den Begriff "Zins" oder "Rente", auch nicht in rein faktischer, unausgesprochener Form. In Hunderten von Millionen Jahren Evolution ist der bei uns Menschen bisweilen ins Abstruse gesteigerte Vorsorgegedanken unseren Vorfahren auf vier oder zwei Beinen plus Flügeln völlig fremd geblieben, selbst bei höchst entwickelten Arten.
Nun, man mag einwenden, dass es Vorratshaltung auch schon bei Tieren gibt. Man denke zum Beispiel an den Eichelhäher oder das Eichhörnchen. Beide sammeln im Herbst eifrig Samen aller Art und verstecken sie für den Winter. Dazu muss man aber wissen, dass beide nur einen winzigen Bruchteil davon wiederfinden. Das Meiste keimt im Frühjahr aus. Damit sind diese beiden Geschöpfe also weniger Sparer oder Vorsorger als vielmehr der Berufsgruppe der tierischen Gärtner zuzurechnen. Zudem werden die Samen über die Monate nicht besser, sie tragen also mitnichten "Zinsen".
Ein Bär frisst sich Fett an, um über einige Wintermonate zu kommen. Doch gibt es keinen Bären, der sich so dick fressen könnte, um das letzte Viertel seines Lebens als Rentner in gemächlicher Ruhe, befreit vom Jagdzwang, zu verbringen.
Der Vorsorgegedanke war allerdings auch bei unseren Vorfahren noch weitaus weniger verbreitet, eingedenk einer weit geringeren Lebenserwartung und garstiger Randbedingungen kein Wunder. Die allgemeine Rentenversicherung in Deutschland ist gerade einmal ein gutes Jahrhundert alt.
Renditeversprechungen und Zinsen bis hin zum Zinswucher gab es dagegen schon weit früher, auch "Spekulationsblasen" wie das bekannte Beispiel der holländischen Tulpenzwiebeln im 17. Jahrhundert: Einige, wenige Tulpenzwiebeln kosteten zeitweise soviel wie ein Haus.
Die kleine, aber entscheidende Wendung der Evolution muss also wesentlich früher stattgefunden haben. Man kann sie je nach Betrachtungsweise als Super-GAU für die Zukunft dieses Planeten oder aber als einzigartige Erfolgsgeschichte der Spezies Homo sapiens begreifen. Die Rede ist von der Sprache. Neben dem aufrechten Gang haben recht geringe Mutationen beim Konstrukt des Kehlkopfes diese einzigartige Fähigkeit ermöglicht. Und damit nahm manches Unheil seinen Lauf.
Großes Versprechen – großer Reinfall
Zum Beispiel das der Versprechungen. Kraft seiner Fähigkeit, in die Zukunft blicken zu können (zumindest entsprechende Abstraktionsfähigkeiten für den Entwurf eines (un)realistischen Zukunftsbildes zu besitzen), ist der Mensch anfällig für Verlockungen aller Art. Die Geschichte ist voller Beispiele davon. Je größer die Versprechungen, umso vernichtender fiel in schöner Regelmäßigkeit der spätere Reinfall aus. Politische Dummheiten stehen hier ganz oben auf dem Siegertreppchen der nicht eingelösten Versprechungen, die Architekten finanzieller Wolkenkuckucksheime folgen aber dicht danach.
Die Macht der Geldindustrie
Diese Architekten haben sich zu einem veritablen Industriezweig gemausert, der "Finanzindustrie" mit einer mächtigen Lobby, auch wenn im Moment der Rückwärtsgang angesagt ist. Vorerst. Nur dass dort eben keine Dinge ersonnen und produziert werden, die man anfassen oder in irgendeiner Weise praktisch benutzen kann. Nichtsdestotrotz spricht man hier von "Produkten": Fondskonstrukte, Zertifikate, Derivate, Anlagepläne aller Art ... Gemeinsam ist allen, dass sie nicht aus karitativen Zwecken heraus kreiert werden, sondern aus Gründen schnöden Gelderwerbs. Eine ganze Heerschar von Finanzberatern, Bankkaufleuten und "Investmentprofis" wollen unterhalten werden. Selbst wenn hier im Moment ein rauerer Wind bläst – "the show must go on". Und sie wird weitergehen. Insoweit bestehen also wieder Parallelen zur normalen Welt der Güter und Produkte.
Nur, das sagt Ihnen keiner so offen. Das ist ähnlich wie bei Autos: "Aus Freude am Fahren" tönt es da beispielsweise, wo es ehrlicherweise eher "Aus Freude am Zahlen" heißen müsste.
Gemeinsam ist allen, dass sie vor allem mit der "Ware" Zukunft handeln. Ein Renditeversprechen ist nichts weiter als ein Versprechen in die Kristallkugel hinein. Selbst wenn Sie ein Auto kaufen, kaufen Sie vor allem eine angenehme Vorstellung davon. Der Realitätstest kommt später. Nun, ein Montagsauto können Sie notfalls wieder verkaufen. Wer hingegen in einem womöglich Jahrzehnte währenden Anlagekonstrukt gebunden ist, kann nur noch auf die Statistik, wohl gesonnene Wirtschaftsgötter oder das immerwährende Wachstumsparadies vertrauen.
Was bleibt, ist die Tatsache, dass auch in Zukunft nur das verteilt werden kann, was vorhanden ist. Das gilt für den Rentner gleichermaßen wie für den Geldanleger. Das ist übrigens ein klares Indiz dafür, dass letztlich alles auf das Umlageprinzip herausläuft, auch das vielfach so favorisierte Kapitaldeckungsprinzip. Das Kapital ist nur so viel wert, wie Menschen, Ressourcen und der intelligente Umgang mit alledem dahinterstehen. Auch in 20, 30 oder 40 Jahren. Natürlich – der einzelne, clevere Investor kann den Durchschnitt weit hinter sich lassen und sich durch Kapitalanlagen sehr gut stellen. Die Masse kann es aus erwähnten Gründen nicht.
Kluge Menschen investieren daher so, dass vor allem ihre Stärke, ihr Einfallsreichtum und ihre Handlungsfähigkeit erhalten bleiben. Sie investieren zudem so, dass sie stets das Heft des Handelns in der Hand behalten. Wer sich hingegen auf andere verlässt, ist schnell selbst verlassen.
Auch wenn Finanzmathematiker jetzt wüst widersprechen werden. Die hochgerechneten Zahlen sehen einfach zu schön aus: Verachtfachung in 30 Jahren! Wer wünschte sich das nicht? Doch Zahlen in der Zukunft sind keine Realität. Sie sind lediglich Vorstellungen und Zukunftserwartungen, welche nur der Mensch entwickeln kann – eine einzigartige, aber auch gefährliche Fähigkeit.
Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, Philosophenweg 81, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
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