Gesundheitspolitik

Hochkonjunktur für Panikorchester – und die Folgen

„Only bad news are good news“ – diese Journalisten-Weisheit gilt nicht erst seit heute. Seit Anbeginn der modernen Medien verkaufen sich sensationslüsterne Meldungen besonders gut. „Bild Dir Deine Meinung“ – dieser Spruch ist marketingtechnisch genial und Hohn zugleich. Und das gilt quer durch die gesamte Medienbranche. Meldungen sind stets Halbwahrheiten, bisweilen gar Unwahrheiten. Kaum jemals gelingt es, einen Sachverhalt vollständig darzustellen – schon allein aus Platzgründen. Und wen interessiert das auch in voller, epischer Breite? Somit sind die Artikel immer eine Verdichtung der Tatsachen, und es kommt entscheidend auf den Verdichtungsfaktor sowie die Verdichtungsmethode an, ob eben (wichtige) Details nur etwas schrumpfen, ganz wegfallen oder umgekehrt auf Kosten anderer Fakten manipulativ überhöht werden.

Nun, das war wie gesagt schon immer so. Und doch haben sehr deutliche Veränderungen stattgefunden: Die Meister der Panikorchester haben Hochkonjunktur. Aktuelles Beispiel: Die Schweinegrippe, ein Déja vu-Erlebnis, welches seine Wurzeln in der Vogelgrippe-Hysterie vor gut drei Jahren hat. Obgleich mit einer recht moderaten Letalität (weit unter 0,5%, insbesondere in den Industriestaaten) behaftet und auch sonst nicht allzu sehr hervorstechend, wird eine mediale Kampagne losgetreten, als stünde der Einschlag eines Riesen-Asteroiden bevor. Impfkampagnen werden losgetreten, die freilich nicht einmal näherungsweise die ganze Bevölkerung abdecken. Ein typisches Phänomen: Aktionismus pur, mit sehr zufriedenen Profiteuren am Wegesrand, aber eben nicht bis in die letzte Konsequenz zu Ende gedacht.

Diese Grippe-Hysterie reiht sich jedoch nur nahtlos in einen kollektiven Sicherheitswahn ein, der ohne Zweifel durch „Nine Eleven“ massiv katalysiert wurde. Ob damals jemand ahnen konnte, welch tiefgreifende, gesellschaftliche Änderungen das anstoßen würde?

Wenn Sie heute mal etwas erleben möchten, dann lassen Sie nur mal Ihren Koffer auf dem Frankfurter Hauptbahnhof für längere Zeit achtlos stehen. Stuttgart, Hamburg oder Leipzig gehen natürlich auch. Flughäfen sind mindestens ebenso ergiebig.

Auf einen Amoklauf in der Schule kommen heute Hunderte Drohungen und Trittbrettfahrer – mit prompten Effekten wie Schulräumung, Polizei-Großeinsatz usw.

Unlängst trat in einer Nachbarstadt etwas Ammoniak aus einem Industriebetrieb aus. Folge: Großsperrung, Hunderte Einsatzkräfte, „ganz großes Kino“. Die etwas älteren Semester unter uns erinnern sich sicher gerne an ihre Studienzeit zurück: Also, Ammoniak gehörte da sicherlich zu den harmloseren Gerüchen, man denke nur an die berühmt-berüchtigten H2S-Fällungen, in rauen Mengen abgedampftes Chloroform, die „Marshsche Probe“, die gerne das Reagenzglas mal zu einem „Labor-Marschflugkörper“ mutieren ließ ...

Sicher, das Umweltbewusstsein war früher ohne Zweifel ganz klar unterentwickelt. Doch heute, in einer Zeit, wo eine Fledermausart oder eine einzelne Molch-Familie Investitionen von Hunderten Millionen Euro auf Jahre hinaus blockieren kann, hat das Pendel offensichtlich in das andere Extrem ausgeschlagen.

Auf einer benachbarten Baustelle kam es vor einiger Zeit zu einem harmlosen Sturz eines Arbeiters, es war nur eine Schramme. Trotzdem die Folgen: Ein Notarztwagen, ein Rettungswagen, eine Polizeistreife, trotz Protest des Betroffenen Einlieferung zur Beobachtung, lange Protokolle, Berufsgenossenschaft und Aufsichtsbehörden eingeschaltet (wohl später ebenfalls mit Vor-Ort-Besuchen).

Ein Blatt Jakobskreuzkraut (welche Mengen benötigt man eigentlich für welche Schäden?) in einer einzelnen Packung Rucola-Salat lässt heute einen ganzen Markt zusammenbrechen und generiert zig-tausend Arbeitsstunden bei Behörden, Journalisten und Lebensmittelexperten.

Bereits diese Beispiele zeigen: Die Panikorchester spielen nicht nur beständig in den Medien, sie spielen auch in sehr vielen Köpfen von uns. Wer sich dieser Musik verweigert, wird durch immer weiter ausufernde Regularien und Vorschriften wieder in den „richtigen Takt“ gelenkt.

All dies sind jedoch im Grunde nur Indikatoren einer Wohlstandsgesellschaft nahe an ihrem Zenit und illustrieren, dass es uns (noch) sehr, sehr gut geht. Betrachten wir heute die Aufwendungen, die an verschiedensten Stellen getätigt werden, oft auf gesetzgeberische Initiative hin, und dagegen die Zahl der „geretteten“ Leben oder verhinderten Krankheiten, dann errechnen sich nicht selten aberwitzige Beträge im hohen, bisweilen zweistelligen Millionenbereich pro Kopf! Ob Feinstaubrichtlinie, absurde Unfallverhütungsvorschriften, die „Grenzwerthysterie“ in Lebensmitteln, oder Dinge wie der „Krieg gegen den Terror“ und der erwähnte Sicherheitswahn – es fällt nicht schwer, an jeder Ecke Beispiele zu finden, bei denen Aufwand und Nutzen in keinem vernünftigen, nicht selten geradezu grotesken Verhältnis stehen.

Aber was heißt vernünftig? Setzen wir als Randbedingung den Wert eines Lebens gleich unendlich und optimieren das System gegen unendlich, ist jeder Aufwand zu begründen ... Proportional mit dem gestiegenen Wohlstand hat sich das Verhältnis zur Sicherheit, zum Leben an sich verändert. Wir führen keine Kämpfe ums Überleben mehr (oder noch nicht). Es gibt eine gefühlte Unsterblichkeit, selbst 80-Jährige bezeichnet man heute als „im Frühling des Seniorenalters stehend“. Der Winter kommt trotzdem, meist rascher als gedacht, und er wird noch einmal sehr teuer.

Da stellt sich schon einmal die Frage, warum dies alles noch funktioniert. Doch dafür gibt es gute Gründe:

  • Menschen und insbesondere Arbeitskräfte sind im Überschuss vorhanden, dergleichen interessanterweise auch Geld. Es findet sich für jede Idee, und sei sie noch so dämlich, jemand, der sie realisiert. Vor allem, wenn sie sich unternehmerisch vermarkten lässt und den wirtschaftlichen Rückenwind durch die entsprechende Wertsetzung – wie z.B. Sicherheit – bekommt, idealerweise das Ganze vom Staat initiiert oder gar erzwungen.

  • Die Industrienationen müssen sich nur noch erstaunlich wenig um ihre Grundbedürfnisse kümmern. Hart arbeiten tun andere, und nähen die Kleidung, produzieren Roh- und Grundstoffe, bauen Massenprodukte zusammen, schlagen sich mit Schmutz und Arbeitsbedingungen herum, die hier undenkbar wären. Allerdings verschieben sich auch in den Schwellenländern die Standards nach oben. Billiger wird es dort jedenfalls nicht mehr.

  • Die alten Industrienationen haben damit die Muße und zudem das Geld, (noch) immer weiter abzuheben. Es ist, zumindest auf dem Papier, enorm viel Verteilungsmasse da. Wie schnell Papier und Realität jedoch zu kollidieren drohen, hat ja gerade die Finanzkrise gezeigt. Trotzdem: Die Party geht erst einmal weiter!

Eine verrückte Party in einer verrückten Welt: So verzeichnen wir knapp 10.000 Selbstmorde im Jahr, eine aktuelle Meldung stellt 40.000 Tote durch Krankenhausinfektionen in Deutschland in den Raum, angesichts von 17 Mio. Krankenhausfällen im Jahr und einer Rate nosokomialer Infektionen im unteren Prozentbereich vielleicht sogar eine plausible Größenordnung. Gleichzeitig halten Sexualmorde an Kindern die Gesellschaft in Atem – wir reden hier über eine konstant niedrige, zweistellige Zahl jedes Jahr. Es sterben ähnlich viele Menschen an Blitzschlag. Von gefährlichen Trittleitern, tückischem Glatteis oder den Folgen übersteigerten Klimaschutzes daheim – wenn man sich das Licht beim Gang auf die Kellertreppe sparen zu können meint – ganz zu schweigen.

Im Übrigen sei in Erinnerung gerufen, dass jeder von uns irgendwann an Irgendetwas verstirbt. Ob das nun – wenig öffentlichkeitswirksam – der Herz-Kreislauf- oder Krebstod sind (75% der Todesfälle), oder ein mehr oder weniger spektakulärer Unfall oder gar Mord. Wer nun übrigens schneller oder „schmerzloser“ stirbt, sei zu bedenken gegeben, gleichwohl hier aber nicht weiter vertieft.

Wir haben eine seltsam geteilte Aufmerksamkeit entwickelt. Konnte der Mensch noch nie adäquat mit Risiken umgehen, so ist die Risikowahrnehmung zwischenzeitlich jedoch zu einem gigantischen, medialen Mikroskop im permanenten Public-Viewing-Modus verkommen – winzige Details ganz groß, mit grotesk verzerrter Bilddarstellung unter Ausblendung großer Teile des Gesamtbildes.

Das hat entscheidende, gesellschaftliche Konsequenzen. Der Rechtsstaat reagiert auf seine Weise. Es werden viele, teilweise ganz neue Rechte definiert, vordergründig jedoch nur wenige Pflichten. Doch damit das Ganze dennoch der Sicherheitshysterie Genüge tun kann, wird ein technokratischer Schleier über die Gesellschaft gelegt: Datenerfassung und Kontrolle überall, der „gläserne Bürger“ als Ziel, mächtige Industrielobbys im Hintergrund, die bestens an dieser technokratischen Diktatur verdienen. Man denke nur an die IT-Branche, die Elektronikindustrie, das personalintensive Sicherheitsgewerbe, und für die, die es nicht mehr aushalten, die steigende Zahl an Psychologen, Psychiatern und Beratungsstellen. Wir sind ja eine humane Gesellschaft. Technokratische Diktatur? Ja, denn Computersysteme diskutieren nicht. Als Anwender haben Sie genau das zu tun, was das System vorgibt. Stimmt eine Ziffer nicht, geht es nicht weiter. Wird Ihre digitale Identität nicht erkannt, existieren Sie für das System nicht. Eines nicht fernen Tages wird Ihr Auto selbsttätig entscheiden, wann und wie fest Sie auf die Bremse treten (in Ansätzen passiert das heute schon) oder wo sie noch parken. Es wird viel über Freiheit des Internets gesprochen. Dass es den Nährboden für ungeahnt totalitäre Systeme bereiten kann, geht in der Diskussion völlig unter. Möglicherweise werden wir im Gesundheitssystem als einer der ersten spüren, was die totale Vernetzung wirklich heißt. Lediglich technische und organisatorische Komplikationen vereiteln hier für den Moment noch vieles ...

Als Beruhigungsdragee gibt es den Datenschutz, der jedoch eine Machtallokation wie nie zuvor in der Hand derer, welche die Datenhoheit besitzen, nicht verhindern kann – und auch nicht soll.

Was ziehen wir daraus für Konsequenzen? Nun, es gibt immer auch Gewinner. Vom rein materiellen Standpunkt aus betrachtet, erschließen sich in näherer Zukunft so viele Betätigungsfelder wie selten zuvor, welche die Überwachungs- und Sicherheitsgesellschaft munitionieren und vorantreiben. Gerade im Gesundheitswesen, was lässt sich da nicht alles kontrollieren, protokollieren, dokumentieren ... Die Verknüpfung der Pharmazie mit neuen Technologien und dem Datenmanagement versprechen ein sehr hohes Wachstum, wie übrigens die gesamte Medizintechnik.

Ob das alles sinnvoll ist, sei dahingestellt. Über die absurden Kosten-Nutzen-Relationen hatten wir gesprochen. Andererseits ist es auch eine Frage der Ressourcenallokation. Statt soundso viel Kubikzentimeter mehr Hubraum unter der Motorhaube werden eben künftig verstärkt diese und jene Gesundheitsdaten erfasst, aufs Handy und ins Internet geleitet und sonst wie verarbeitet. Was ist nun sinnvoller?

Diese Überlegungen stellen freidenkende Geister an. Wer aber von Anbeginn unter den technokratischen Schleier geboren wurde, macht sich darüber kaum Gedanken.

Ein Käfighuhn kennt schließlich auch nichts anderes und hat nie die Sonne gesehen. Vermisst es sie? Sind dann die Gitterstäbe noch golden und die tägliche Futterration reichlich bemessen, besteht kein Grund zur Revolte. Die technokratische Allmacht kann kommen ...


Anschrift des Verfassers:

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.