Praxis

Retaxfalle "Austauschkriterium"

Erst vor Kurzem ist ein Schreiben des Bundesgesundheitsministeriums bekannt geworden, in dem es die Auffassung vertritt, dass ein Arzneimittel immer dann gegen ein wirkstoffgleiches Arzneimittel mit unterschiedlichen Anwendungsgebieten austauschbar ist, wenn eines seiner Anwendungsgebiete dem gemeinsamen Indikationsbereich angehört. Bisher war Konsens, dass zu den Kriterien, wonach ein Austausch erfolgen kann, neben der Wirkstoffgleichheit, der gleichen Wirkstoffstärke, der austauschbaren Darreichungsform und der gleichen Packungsgröße auch die Zulassung für den gleichen Indikationsbereich gehört. Was muss der Apotheker hier in Zukunft beachten? Tut sich hier eine neue Retaxfalle auf?

Bisher galt als Austauschkriterium § 129, Absatz 1 im SGB V: "In den Fällen der Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel haben die Apotheken ein Arzneimittel abzugeben, das mit dem verordneten in Wirkstärke und Packungsgröße identisch sowie für den gleichen Indikationsbereich zugelassen ist und ferner die gleiche oder eine austauschbare Darreichungsform besitzt."

Diese bereits seit 2002 (Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz – AABG) bestehende gesetzliche "Aut-idem-Vorschrift findet sich auch im bundesweit gültigen, aktuellen Rahmenvertrag zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und dem Deutschen Apothekerverband (DAV) wieder. Seit 2002 bestand Einvernehmen, dass ärztlich verordnete Arzneimittel von der Apotheke nur gegen wirkstoffgleiche Medikamente ausgetauscht werden dürfen, die für alle Indikationen des ärztlich verordneten Medikamentes ebenfalls eine Zulassung besitzen. Nur durch diese Übereinkunft konnte sichergestellt werden, dass sich Arzt und Patient darauf verlassen konnten, dass im Falle eines Austauschs das von der Apotheke abgegebene Medikament ebenfalls zur Behandlung der vorliegenden Erkrankung geprüft und zugelassen ist, ohne dass die Apotheke die vom Arzt benötigte Indikation – sprich die Erkrankung des Patienten – kennen musste.

Dieser seit 2002 von allen Verantwortlichen getragene Konsens hatte aber auch zur Folge, dass die Apotheke die im April 2007 eingeführte Verpflichtung zur bevorzugten Abgabe von Rabattarzneimitteln nicht in jedem Fall befolgen durfte.

Mitte 2008 begannen jedoch einige Rezeptprüfstellen damit, diesen Konsens aufzukündigen und Apotheken wegen "Nichtabgabe eines Rabattarzneimittels" zu retaxieren, auch wenn kein "indikationsgleiches" Rabattarzneimittel zur Verfügung stand. Es häuften sich Anfragen von betroffenen Kolleginnen und Kollegen, wie denn nun die gesetzlich und vertraglich geforderte "Zulassung für den gleichen Indikationsbereich" zu handhaben sei:

Im Sinne der bisherigen Übereinkunft, der Apothekerverbände und entsprechend der Apotheken-EDV-Systeme,

oder muss ungeachtet der Indikationsgleichheit immer gegen ein wirkstoffgleiches Rabattarzneimittel ausgetauscht werden?

Auf entsprechende Nachfragen der Geschäftsführung des Deutschen Apotheken Portals (DAP), wurde dem DAP von Krankenkassen ein entsprechendes Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit vorgelegt, das offenbar die Meinung der Krankenkassen weitgehend unterstützt. Zur Überraschung der Apotheken datiert dieses Schreiben bereits vom November 2008 und enthält eine bis dato völlig unbekannte Interpretation des Begriffes "Indikationsbereich". Das Deutsche Apotheken Portal fasste das Schreiben des Ministeriums in seiner Mitteilung an die Apotheken wie folgt zusammen:

Daraus ergibt sich zusammenfassend: "Ein Arzneimittel ist immer dann austauschbar, wenn eines seiner Anwendungsgebiete dem gemeinsamen Indikationsbereich angehört. Somit gilt für aut idem eine entsprechende Vorschrift wie für die Bildung von Festbetragsgruppen, bei der das Vorliegen einer gemeinsamen Leitindikation Voraussetzung für die Gruppenbildung ist. Bei abweichenden Zusatzindikationen ist es Aufgabe des Arztes zu prüfen, in Fällen begründeter Zweifel an der therapeutischen Gleichwertigkeit wirkstoffgleicher Arzneimittel, eine Aut-idem-Substitution durch Ankreuzen des einsprechenden Feldes auf dem Rezept zu unterbinden." (Den genauen Wortlaut des Schreibens finden Sie unter: http://www.deutschesapothekenportal.de/retaxforum/download/file.php?id=7)

Sozialrechtlich ist nicht arzneimittelrechtlich

Dieses bislang unbekannte Schreiben hat verständlicherweise unter den Kolleginnen und Kollegen für erhebliche Unruhe gesorgt, zumal es eine ganze Reihe wichtiger Fragen unbeantwortet lässt:

Das Ministerium zitiert den eingangs genannten § 129 (1) SGB V und stellt seinen nachfolgenden Erläuterungen folgenden Satz voran: "Sozialrechtlich resultiert daraus die Austauschbarkeit im selben Indikationsbereich; arzneimittelrechtlich entscheidet jedoch der Zulassungsantrag des Herstellers darüber, für welchen Anwendungsbereich er eine Zulassung für sein Mittel anstrebt (§§ 22, 25 AMG). Daraus können sich Unterschiede ergeben, die bei einer Aut-idem-Verordnung unter einer Wirkstoffbezeichnung vom Apotheker bei seiner Auswahlentscheidung aus folgenden Gründen nicht berücksichtigungsfähig sind."

Hier stellt sich die Frage: Im Zusammenhang mit Wirkstoffverordnungen wird der Begriff "aut idem" in der Regel nicht verwendet, da der Arzt bei einer Wirkstoffverordnung keine Indikation vorgibt. Werden im Folgenden des Ministeriumsschreibens somit lediglich die Gründe genannt, weshalb der Apotheker bei einer indikationsfreien Wirkstoffverordnung keine Indikationsbereiche berücksichtigen kann und der Arzt berechtigt ist, Wirkstoffe zu verordnen ohne eine Indikation beachten zu müssen? Dann allerdings würde das Schreiben nicht zur Rechtfertigung für die Krankenkassen taugen, dass bei namentlicher Firmenverordnung die Indikationen beim Austausch nicht deckungsgleich sein müssen.

Die dann folgenden Ausführungen lassen jedoch vermuten, dass sie sich eben nicht auf "Verordnungen unter einer Wirkstoffbezeichnung", sondern auf namentlich verordnete Firmenprodukte beziehen:

"Ein Arzneimittel ist immer dann austauschbar, wenn eines seiner Anwendungsgebiete dem gemeinsamen Indikationsbereich angehört. Dies hat der Apotheker zu prüfen."

Hier ergibt sich die Frage: Ab wann und wie soll die Apotheke dies prüfen? Zumindest derzeit ist diese Weisung den Apotheken weder bekannt noch ist sie EDV-technisch umsetzbar.

Das BMG unterscheidet (siehe oben) zwischen "arzneimittelrechtlicher" Zulassung und "sozialrechtlicher" Austauschbarkeit. Werden dies die Hersteller auch so beurteilen? Weshalb sollte künftig ein Hersteller viel Geld für mehrere klinische Prüfungen und Zulassungen ausgeben, wenn sein Arzneimittel "sozialrechtlich" gegen ein beliebiges Rabattarzneimittel ausgetauscht werden darf, selbst wenn dieses nur die Zulassung für eine Indikation (Leitindikation) aufweisen kann und somit unter Umständen keinerlei Prüfung und Zulassung für die vom Arzt tatsächlich zu therapierende Erkrankung besitzt?

Ich befürchte, dass Hersteller – wie seinerzeit beim Fentanylpflasteraustausch – mit Schadensersatzklagen drohen werden.

Wird der Off-label-Einsatz zum Normalfall?

"Inhaber eines zugelassenen zusätzlichen Anwendungsgebietes für ein wirkstoffgleiches Arzneimittel sind allein berechtigt die Fachkreise hierüber zu informieren. Arzneimittelrechtlich besteht aber kein Verbot, dass Ärztinnen und Ärzte für dieses zusätzliche Anwendungsgebiet auch andere wirkstoffgleiche Arzneimittel mit gleicher Wirkstärke und vergleichbarer Darreichungsform verordnen. Die Ärztin/ der Arzt trägt bei Verordnungen für ein zusätzliches Anwendungsgebiet auch bei Fehlen einer entsprechenden Zulassung kein zusätzliches Haftungsrisiko, wenn das Arzneimittel für diese Indikation von den Verkehrskreisen regelmäßig angewendet wird und diese Anwendung dem anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht, also sachgerechter, bestimmungsgemäßer Gebrauch ist. Der pharmazeutische Unternehmer trägt auch für solche Anwendungen die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung nach § 84 Arzneimittelgesetz."

Das provoziert gleich mehrere Fragen nach dem Off-label-Einsatz solcher Arzneimittel: Ist dies die Erlaubnis für den Arzt, künftig auch "off-label" zu verordnen, wenn dies von den "Verkehrskreisen" regelmäßig angewandt wird und dem "Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis" entspricht? Wie belegt der Arzt im Schadensfall, dass seine "Off-label"-Verordnung dem "anerkannten Stand wissenschaftlicher Erkenntnis" entsprach?

Es sei Aufgabe des Arztes, bei Zweifeln, den Austausch durch ein Aut-idem-Kreuz zu unterbinden, er würde aber im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen geprüft! Da die Ärzte nicht wissen können, gegen welche Rabattarznei der Apotheker austauschen wird, wird die Zahl der Aut-idem-Kreuzchen vermutlich zunehmen, wenn die Ärzte von diesem Schreiben erfahren. Dass man damit den Einsparbemühungen erheblich geschadet hat, würde man erst Monate später feststellen.

Haftet der pharmazeutische Unternehmer somit auch, wenn sein Medikament gemäß dieser Weisung entweder durch den Arzt oder durch den Austausch der Apotheke off-label angewandt wird?

Wer schützt Arzt oder Apotheke im Schadensfall vor "off-label" Schadensansprüchen von Patienten? Können sie sich im Schadensfall auf die Weisung des Ministeriums berufen?

Wer schützt die Apotheke vor Schadensansprüchen, wenn sie aufgrund dieser Weisung eine zunächst ärztlich korrekte Verordnung gegen ein "off-label"- Medikament austauschen muss?

Wer schützt die Apotheke vor Schadensersatzansprüchen von Herstellern, die der Meinung sind, dass ihr ärztlich verordnetes Medikament nur gegen ein Medikament mit identischem Indikationsbereich ausgetauscht werden durfte?

Wer schützt Arzt und Apotheke vor Regressansprüchen der Krankenkassen, falls man dort in wenigen Monaten wieder anderer Meinung sein sollte und sich dann bei Regressen bzw. Retaxationen auf ein entsprechendes Urteil des Bundessozialgerichts beruft?

Schließlich wird dieses Urteil auf den Internetseiten von Krankenkassen und auf der Homepage des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) immer noch zitiert: "Unter off label use versteht man die Anwendung eines zugelassenen Fertigarzneimittels außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Indikationen) Die Erstattungsfähigkeit derartig verordneter Arzneimittel durch die gesetzlichen Krankenversicherungen war immer wieder Gegenstand von Rechtsstreiten. Schließlich wurden in einem richtungweisenden Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 (B 1 KR 37/00 R) die Kriterien festgelegt, die erfüllt sein müssen, damit eine Erstattung für die Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikation (off label use) durch die gesetzlichen Krankenversicherungen in Betracht kommt. Es muss sich (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung handeln, für die (2) keine andere Therapie verfügbar ist und (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht"

(http://www.bfarm.de/cln_029/nn_421158/DE/Arzneimittel/3__nachDerZulassung/offLabel/offlabel-home.html__nnn=true).

Noch zu frisch ist den Ärzten die Schadensersatzklage einer großen Krankenkasse gegen einen Orthopäden in Erinnerung, der – stellvertretend für 172 Kollegen – angeklagt ist, weil er männlichen Patienten 2005 off label ein Risedronatpräparat verordnet hatte. Obwohl diese Zulassung 2006 erteilt wurde, lehnt die Kasse eine außergerichtliche Einigung immer noch ab. Laut Bericht der "Ärzte Zeitung" vom 18. Dezember 2008 wird damit gerechnet, dass der Fall erst in etwa drei Jahren zur Verhandlung kommt.

Einerseits also diese Weisungen durch das Ministerium, andererseits müssen die Kassen nicht bezahlen, wenn sie sich auf das Off-label-Urteil des BSG berufen. Egal wie sich Arzt und Apotheke entscheiden, sie können in Regress genommen oder retaxiert werden!

Ich denke, hier besteht dringender Klärungsbedarf, damit Ärzte und Apotheker unverzüglich klare Vorgaben erhalten und sich nicht weiterhin unwissentlich der Gefahr von Regressen und Retaxationen in erheblichem Umfang aussetzen.

Apotheker Dieter Drinhaus, "Retaxforum" des Deutschen Apotheken Portals, retaxforum@gmx.de

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