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Arzneimittel und Therapie
Können Antidepressiva Selbstmordgedanken auslösen?
Als Reaktion auf eine Lebens- oder Identitätskrise oder als Ausdruck einer Autoaggression sind Suizidversuche für viele Menschen scheinbar die letzte oder einzige Lösung ihrer Probleme. Oft haben Suizidversuche aber auch Mitteilungscharakter – sind ein Hilferuf an die Umwelt, der ernst genommen und gründlich untersucht werden muss, weil etwa 20% der Suizidversuche innerhalb kurzer Zeit wiederholt werden und schließlich zum Erfolg führen. Veränderungen in der Gesellschaft wie Existenzängste, hohe Arbeitsbelastung oder Arbeitslosigkeit wirken sich dabei nicht nur auf die Ursachen für suizidale Handlungen aus, sondern haben im Laufe der Zeit auch zum Wandel der angewandten Methoden geführt. Der medikamentöse Suizid gewinnt gegenüber sogenannten "Gewaltmethoden" wie Erschießen, Erhängen oder Sprung aus großer Höhe immer mehr an Bedeutung und erfordert aufgrund der größeren Überlebenswahrscheinlichkeit besondere intensivmedizinische Anstrengungen zur Rettung des Lebens. Der versuchte sowie vollendete Suizid nimmt auch in der Intensivmedizin eine besondere Stellung ein. Medikamenteneinnahme, meist in Kombination mit Alkohol, ist gegenwärtig die häufigste Methode der Selbsttötung.
"Nüchtern hätte ich das nicht gemacht"
Alkohol spielt oft eine wesentliche Rolle bei Selbstmordversuchen. Fast die Hälfte der versuchten Suizide erfolgt unter Alkoholeinfluss. Dadurch wird die Intensität einer depressiven Grundstimmung verstärkt und die Selbstkontrolle sowie die Handlungsschwelle für suizidale Handlungen herabsetzt. Grundsätzlich kann man festhalten: Bei Störungen im Zusammenhang mit dem Konsum verschiedener psychotroper Substanzen ist das Suizidrisiko gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht. Etwa zwischen 20% und 60% aller Suizidopfer litten an Störungen durch den Konsum psychotroper Substanzen. Beispielsweise ist bei Alkoholabhängigkeit oder Einnahme anderer intoxikierender Substanzen das Suizidrisiko sechsmal höher gegenüber der Allgemeinbevölkerung. Auch der Nicotinkonsum von mehr als zwanzig Zigaretten pro Tag bedeutet ein erhöhtes Risiko.
Lösen Antidepressiva Selbstmordgedanken aus?
Auch verschiedene Arzneimittel können bewusst oder unbewusst suizidales Verhalten stärken. So stehen neben verschiedenen herzwirksamen Medikamenten auch einzelne Antidepressiva, Psychostimulanzien, aber bisweilen auch Appetitzügler im Verdacht, eine latent vorhandene Neigung zu Selbstmordgedanken zu verstärken. Doch warum sollen dies ausgerechnet Antidepressiva tun? Was erst mal sehr paradox klingt, wird in der Fachpresse seit einigen Jahren heftig diskutiert. Das Krankheitsbild depressiver Erkrankungen an sich ist mit einem erhöhten Risiko von Suizidgedanken, selbstschädigendem Verhalten und Suizid verbunden. Das Risiko besteht, bis es zu einer signifikanten Besserung kommt. Bei allen Antidepressiva kann der volle therapeutische Effekt sich erst nach drei Wochen einstellen. In dieser Zeit, in der die Behandlung schon begonnen hat, aber noch keine Besserung eintritt, ist die Suizidgefahr bei depressiven Patienten erhöht. Die klinische Erfahrung zeigt generell, dass das Selbstmordrisiko in den frühen Stadien einer Besserung ansteigen kann. Patienten mit Suizidgedanken in der Anamnese oder solchen, die vor der Therapie stark suizidgefährdet waren, sollten daher während der Behandlung besonders sorgfältig überwacht werden. Offensichtlich sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene besonders gefährdet. Ihnen sollte insbesondere zu Beginn der Behandlung nur eine begrenzte Anzahl Tabletten ausgehändigt werden.
Barbiturate waren, als sie noch breit eingesetzt wurden, aufgrund ihrer geringen therapeutischen Breite ein "beliebtes" Mittel zum Selbstmord. Mit Benzodiazepinen dagegen kann man sich zwar kaum direkt umbringen (mal abgesehen von extremen Dosen in Kombination mit Alkohol), jedoch können auch Benzodiazepine bei entsprechender Disposition und ungünstiger Patientenführung suizidales Verhalten fördern.
Soziale Unterstützung schützt
Nicht zu vergessen: Verschiedene soziale Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Alleinleben, geringe soziale Unterstützung, zwischenmenschliche Ereignisse, Partnerschaftsprobleme, Trennungen, geringe Schulbildung insbesondere in Kombination mit einer Depression. Männer sind – wie bereits aus obiger Statistik hervorgeht – stärker suizidgefährdet als Frauen. Eine Hilfestellung mit vielen praktischen Tipps, Ansprechpartnern und Internetadressen kann der Flyer "Nüchtern hätte ich das nicht gemacht" der Arbeitsgruppe Suchterkrankungen des Nationalen Suizidpräventionsprogrammes für Deutschland (NaSPro, www.suizidpraevention-deutschland) sein. Auch die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS, www.suizidprophylaxe.de) erteilt weitere Informationen.
Quelle
Die stille Sucht – Missbrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart (2009).
Dr. Ernst Pallenbach
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