Arzneimittel und Therapie

Früher Therapiebeginn kann Überlebenschance verbessern

Der optimale Zeitpunkt für den Beginn einer antiretroviralen Therapie bei asymptomatischen HIV-infizierten Patienten wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Das liegt vor allem daran, dass es noch keine randomisierten Studien zu dieser Fragestellung gibt. Interessante Ergebnisse lieferte kürzlich eine Analyse von Beobachtungsstudien, die die Mortalitätsraten bei frühem und verzögertem Therapiebeginn miteinander verglichen hatte.

Bei symptomatischen HIV-Patienten sind sich die Experten darüber einig, dass unverzüglich mit einer antiretroviralen Therapie begonnen werden sollte. Für asymptomatische Patienten konnte jedoch aus den bisherigen Studien noch kein eindeutiger Zeitpunkt für den Behandlungsbeginn abgeleitet werden. Relativ sicher ist lediglich, dass bei einem Behandlungsbeginn unterhalb einer CD4+ -Zellzahl von 200 Zellen/µl Morbidität und Mortalität deutlich ansteigen, daher sollten diese Patienten rasch behandelt werden.

Bei Patienten mit einer CD4+ -Zellzahl zwischen 350 und 500 pro µl und hoher Viruslast (d. h. Werte > 50.000 bis 100.000 HIV-RNA-Kopien/ml) ist die Therapieindikation nicht eindeutig, die Behandlung wird aber von einigen Experten empfohlen. Bei niedriger Viruslast (< 50.000 Kopien) und CD4+ -Zellzahlen zwischen 350 und 500/µl und bei Patienten mit CD4+ -Zellen über 500/µl sind die Empfehlungen zurückhaltender, nicht zuletzt wegen der starken Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapien.

Analyse von 20 Kohortenstudien

Kürzlich wurde eine Analyse der North American Aids Cohort Collaboration on Research and Design (NA-ACCORD) veröffentlicht, die die Daten von 20 Kohortenstudien mit insgesamt 17.517 asymptomatischen US-amerikanischen bzw. kanadischen HIV-positiven Patienten aus den Jahren 1996 bis 2005 ausgewertet hatte.

Es waren zwei Gruppen betrachtet worden: die erste Gruppe schloss Patienten mit einer CD4+ -Zellzahl zwischen 351 und 500 Zellen/µl, die andere solche mit > 500 Zellen/µl ein.

Die Autoren verglichen in beiden Gruppen das relative Mortalitätsrisiko der Patienten, die sofort mit antiretroviralen Medikamenten behandelt worden waren (frühe Therapie) mit denen, bei denen man abgewartet hatte, bis die Zellzahl unter den jeweiligen Schwellenbereich (351–500 bzw. > 500 Zellen/µl) gefallen war (verzögerte Therapie).

Sterberisiko bei spätem Therapiebeginn erhöht

Die erste Analyse umfasst die Daten von 8362 Patienten. Bei 2084 von ihnen (25%) war die antiretrovirale Therapie bei einer CD4+ -Zellzahl von 351 bis 500/µl begonnen worden, 6278 (75%) von ihnen hatten die Behandlung erst bei einer Zellzahl unter diesem Schwellenbereich erhalten. Es ergab sich ein um 69% höheres Mortalitätsrisiko bei den verzögert Behandelten im Vergleich mit den frühzeitig Behandelten (relatives Risiko 1,69, p < 0,001).

Die zweite Analyse umfasste insgesamt 9155 Patienten. 2220 Patienten hatte man die antiretroviralen Medikamente bereits bei einer CD4+ -Zellzahl von > 500/µl verabreicht. Bei 6935 HIV-Infizierten war diese Therapie verzögert erfolgt (Wert unter 500). Diese Verzögerung war in der Analyse mit einer Erhöhung des Mortalitätsrisikos um 94% verbunden (relatives Risiko 1,94, p < 0,001). Die Todesfälle waren in beiden Gruppen in der Mehrzahl nicht durch die Aids-Erkrankung selbst, sondern durch Leber-, Nieren- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Tumoren bedingt.

Randomisierte Untersuchungen erforderlich

Kommentatoren der Studie weisen darauf hin, dass aus diesen Ergebnissen nicht abgeleitet werden kann, dass bei jedem asymptomatischen HIV-Infizierten nun prinzipiell frühzeitig mit einer Therapie begonnen werden sollte – eine solche Empfehlung könne nur auf der Basis randomisierter prospektiver klinischer Studien ausgesprochen werden.

Diese Ansicht vertreten auch die Verfasser der derzeit in Deutschland gültigen Leitlinien. "Es gibt gute Argumente sowohl für einen möglichst frühen Therapiebeginn als auch für einen möglichst späten, ohne dass für eine der beiden Haltungen eine "Evidenz"-basierte Empfehlung möglich ist", heißt es darin (siehe Tabelle). Einigkeit bestehe jedoch über das Ziel, das Auftreten einer symptomatischen HIV-Infektion so lange wie möglich zu verhindern sowie darüber, eine Therapie zu beginnen, bevor das Immunsystem erheblichen Schaden genommen hat.

Argumente für frühen bzw. späten Beginn der antiretroviralen Therapie
Argumente für
frühen Therapiebeginnspäten Therapiebeginn
HIV ist eine Infektionskrankheit - eine antiinfektiöse Therapie wird üblicherweise so früh wie möglich eingeleitet.Die tägliche Medikamenteneinnahme bedeutet eine deutliche körperliche und psychische Belastung, insbesondere bei asymptomatischen Patienten, bei denen sie zu einem stärkeren Krankheitsgefühl und einer deutlichen Minderung der Lebensqualität führen kann.
Bei lang anhaltender Virus-Replikation könnte für das Immunsystem ein point-of-no-return überschritten werden, von dem aus eine Wiederherstellung des Immunsystems nicht mehr möglich ist.Zusätzlich steigt die Wahrscheinlichkeit von Einnahmefehlern bei frühzeitigem Therapiebeginn, was zu einer Unwirksamkeit späterer Therapien führen kann.
Bei lange anhaltender Virus-Replikation besteht ein höheres Mutations-Risiko.Eine klinische Besserung und Immunrekonstitution kann auch noch bei Therapiebeginn in einem weit fortgeschrittenen Stadium der HIV-Erkrankung beobachtet werden.
class="k4_tabelle_grundschrift">Das Transmissionsrisiko wird gesenkt.
Es wird vermutet, dass bestimmte schwerwiegende klinische Komplikationen der HIV-Infektion (z. B. HIV-assoziiertes Lymphom, Zervix- oder Analkarzinom) bei einem frühen Therapiebeginn mit geringerer Wahrscheinlichkeit auftreten.Im Gegensatz zu anderen Infektionskrankheiten ist bei der HIV-Infektion derzeit weder eine Eradikation des Erregers möglich, noch durch eine Therapie eine diese überdauernde Kontrolle der Virusreplikation induzierbar.

modifiziert nach: S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)


 

Quelle

Kitahata, M. M., et al.: Effect of early versus deferred antiretroviral therapy for HIV on survival, N Engl J Med 360:1815 –1826 (2009).

Sax, P.E., Baden, L.R., When to start antiretroviral therapiy – ready when you are? N Engl J Med 360:1897–1899 (2009).

Antiretrovirale Therapie der HIV-Infektion. S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Stand Juni 2005, www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/055-001.htm 

 


Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

 

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