Aus Kammern und Verbänden

Arzneimittelsicherheit in Pädiatrie und Phytotherapie

In der Pädiatrie, wo der Off-label-use insgesamt gang und gäbe ist, ist die Pharmakovigilanz von großer Bedeutung. Aber auch für die besonderen Therapierichtungen Phytotherapie, Homöopathie und Anthroposophie ist sie ein Thema, denn das Arzneimittelgesetz macht für diese eher nebenwirkungsarmen Arzneimittel keine Ausnahme. Beiden Themenbereichen war der Bremer Pharmakovigilanz Kongress am 23. und 24. September 2009 gewidmet, veranstaltet vom Bremer Pharmacovigilance Service (BPS) in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH).
Abb.: Erfasste Arzneimittelrisiken (potenziell meldepflichtige Ereignisse) bei 13 wichtigen Arzneidrogen. Prozentualer Anteil ohne Berücksichtigung der Abgabemengen. Teilweise unterschiedliche Erfassungszeiträume. Quelle: BPS GmbH, Datenbestand seit April 2003.

Laut Prof. Dr. med. Edeltraut Garbe, Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), ist lediglich ein Drittel aller Arzneimittel, die zwischen 1995 und 2005 eine europäischer Verkehrsgenehmigung erhielten, für Kinder zugelassen, nur 9,4% für Neugeborene und nur 23,4% für Säuglinge/Kleinkinder. Die Ergründung der Frage, wie groß das Ausmaß des Off-label-use bei Kindern in der Praxis tatsächlich ist, gestaltet sich trotz umfangreicher Literaturerhebungen als schwierig, weil die Angaben zum Teil stark differieren. Sicher scheint, dass er stationär deutlich häufiger vorkommt als ambulant.

Stationärer Off-label-use bei Kindern

Nach einer Studie in fünf europäischen Ländern, die Hannah Seeba, Klinikum Links der Weser, Bremen, ins Feld führte, erhielten 67% der stationären pädiatrischen Patienten mindestens ein unzureichend geprüftes Arzneimittel, 46% der Verschreibungen waren "unlicensed" oder nur für andere Bereiche zugelassen. In der Neu- und Frühgeborenenversorgung liegt der Einsatz ungeprüfter Medikation teilweise bei über 90%. Besonders gravierend, jedoch mittlerweile nolens volens akzeptiert, ist die Situation in der Kinderonkologie. Aber laut Seeba wird die Arzneimitteltherapie bei immerhin 90% der unter 15-jährigen Krebspatienten von einem Drug-Monitoring begleitet, womit ein erheblicher Zugewinn an Sicherheit erreicht wird.

Ambulanter Off-label-use bei Kindern

Im ambulanten Bereich in Deutschland sollen zwischen 3% und 13% der pädiatrischen Verordnungen off-label sein, d. h. dass die Arzneimittel nur für Erwachsene zugelassen sind. Im internationalen Vergleich gibt es diesbezüglich erhebliche Unterschiede, was Garbe vor allem auf differierende methodische Herangehensweisen, Probleme der Vergleichbarkeit und unterschiedliche Auswertungsstrategien zurückführt. Bereits in der Fachinformation als Wissenschaftlicher Referenz für den Off-label-use offenbaren sich die Fußangeln: Dort finden sich gar keine, nicht eindeutige oder sogar widersprüchliche Angaben zur Anwendung an Kindern oder auch unterschiedliche Altersindikation je nach Handelspräparat und Zulassungsmodus. Als Hilfestellung zur Ergründung einer Kinderindikation führte Garbe die ZAK-Datenbank an, die von der Hexal-Initiative Kinderarzneimittel unterhalten wird. Sie enthält ca. 400 Arzneimittel, die für Kinder zugelassen sind, zusammen mit den Fachinformationen, in denen die relevanten Textpassagen gelb hinterlegt sind. Die Daten werden von den Pharmaunternehmen selbst dort eingestellt und aktualisiert.

Vermeidbare Anwendungsfehler?

Die Schwerpunkte der Therapie sind bei Kindern nach den Entwicklungsstadien unterschiedlich gelagert und gehen von der Herz-Kreislauf-unterstützender Medikation bei Frühgeborenen über Infekte, Anpassungsstörungen, Blutzuckerspiegelregulation und Konditionierung des Immunsystems bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern bis hin zu hormonellen und psychischen Imbalanzen bei Jugendlichen.

Dabei zeigt jede Altersstufe ihre pharmakokinetischen Besonderheiten, wie etwa das größere Verteilungsvolumen bei Früh-und Neugeborenen, das teilweise hohe Sättigungsdosen erforderlich macht, oder die schnelle Leber- und Nierenreifung bei Säuglingen und Kleinkindern, die deswegen eine hohe Ganzkörper-Clearance für Theophyllin, Aminoglykoside und Benzodiazepine aufweisen. Bei Kindern und Jugendlichen bedingt die präpubertäre Umbauphase mit einer Veränderung der Resorption, Verteilung, metabolischen Ausscheidung sowie der Rezeptorantwort häufig eine Neueinstellung der Therapie, etwa von Antikonvulsiva oder Antiasthmatika.

Dass, wie in der Literatur zu finden ist, etwa 40% der unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei Kindern vermeidbar sein sollen, muss laut Seeba vor diesem Hintergrund hinterfragt werden. Zu viele Imponderabilien sind hier im Spiel, und häufig ist gar nicht klar unterscheidbar, ob ein unerwünschtes Ereignis bei bestimmungsgemäßem Gebrauch aufgetreten ist oder ob es sich mangels klarer therapeutischer Vorgaben um einen Anwendungsfehler handelt.

Studien an Kindern sind jetzt Pflicht

Mit der europäischen Verordnung über Kinderarzneimittel soll die pädiatrische Arzneimitteltherapie in Zukunft nachhaltig verbessert werden. Dr. Sabine Scherer, BfArM, umriss deren Inhalte wie folgt: Studien an Kindern sind für jedes neue Arzneimittel, von Ausnahmen abgesehen, zwingend vorgesehen, bevor es zugelassen wird. Für bereits zugelassene Arzneimittel kann eine spezielle Pediatric Use Marketing Authorisation (PUMA) beantragt werden. Einige solche Anträge wurden bereits gestellt, unter anderem in den Bereichen Neurologie, Dermatologie und Onkologie. Darüber hinaus werden abgeschlossene Studien daraufhin ausgewertet, ob die jeweiligen Arzneimittel für die Anwendung an Kindern geeignet erscheinen. Aufgrund dessen wurde bereits die Zulassung eines Simvastatin-haltigen Arzneimittels auf Kinder ab zehn Jahren ausgedehnt.

Erfassung der Risiken bei Phytopharmaka

Wie für chemisch definierte Arzneimittel müssen auch für Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen Spontanmeldungen über Arzneimittelrisiken erfasst und regelmäßig Literaturdaten ausgewertet werden. Um Doppelarbeit zu vermeiden, bietet der BAH seit einigen Jahren eine gemeinschaftliche Sichtung der Literatur für pflanzliche, homöopathische und anthroposophische Wirkstoffe an. Der Bremer Pharmakovigilance Service hat im Rahmen dieses Projektes eine eigene Software entwickelt, um die Recherchen zu rationalisieren. Deren Funktionsweise und Ergebnisse erläuterte Dr. Tankred Wegener, Weinheim. Seit dem Jahr 2003 werden jede Woche regelmäßig umfangreiche Literaturrecherchen in einschlägigen Datenbanken durchgeführt und relevante Ergebnisse herausgefiltert. Die Fundstellen werden in vier Kategorien klassifiziert:

1: potenziell meldepflichtiges Ereignis (s. Grafik),

2: Erwähnung im Periodischen Sicherheitsbericht (Periodic Safety Update Report, PSUR) erforderlich,

3: interessante Information zu der Arzneidroge,

4: nicht relevante Information (etwa zum Anbau einer Arzneipflanze).

Kausalität oft nicht beurteilbar

Die meisten Fallberichte kommen aus den USA oder aus Asien, wo die Drogen oder deren Zubereitungen meistens in Nahrungsergänzungsmitteln enthalten sind. In fast 90% der Fälle gibt es keine ausreichenden Informationen zur Charakterisierung der eingesetzten pflanzlichen Zubereitung, bei rund der Hälfte ist ein möglicher pharmakologischer Zusammenhang mit der Arzneidroge unklar, und andere Risikofaktoren sind ebenfalls nicht bekannt. Die Einzelfallberichte in der Literatur betreffen zu fast 100% schwerwiegende unerwünschte Ereignisse (SUEs); sie weisen jedoch meist eklatante Mängel in der Falldarstellung auf (Historie, Qualität, Komedikation usw.) und sind deswegen hinsichtlich einer etwaigen Kausalität kaum bewertbar. Die meisten Fälle ereigneten sich in der Altersgruppe der über 18-Jährigen (ca. 70%), nur 17% bei den unter 12-Jährigen.

In der Spontanberichterstattung zeigt sich ein höherer Anteil an nicht-schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen (UEs) und nicht-schwerwiegenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs). Auch hier ist der Aufwand für die Klärung im Einzelfall überwiegend sehr hoch, weil meist wichtige Daten fehlen. Methoden zur Signalerkennung mit aufwendiger Software, wie sie bei chemisch definierten Wirkstoffen eingesetzt werden, sind nach Wegeners Einschätzung für Arzneidrogen kaum sinnvoll, da die Anzahl der Berichte unter dem Strich zu gering ist.

Risiken bei Homöopathika sehr selten

Noch "handverlesener" als bei Phytopharmaka sind unerwünschte Ereignisse bei Homöopathika, wie Andrea Striebel, Baden-Baden, berichtete. Dennoch muss auch für diese ein entsprechendes Pharmakovigilanzsystem vorgehalten werden, ein erheblicher Aufwand für die Unternehmen.

Bei Literaturberichten ist zunächst zu prüfen, ob die Arzneipflanze und der Pflanzenteil überhaupt derselbe sind, außerdem müssen die Zubereitungsart (Tee, Urtinktur), die Dosierung, Applikationsart und die Anwendungsdauer beim Vergleich mit dem eigenen Präparat berücksichtigt werden, bevor eine mögliche Relevanz beurteilt werden kann. Routine kommt vor diesem Hintergrund bei homöopathischen Pharmakovigilanz-Experten kaum auf. Eine spezielle Frage, die derzeit kontrovers diskutiert wird, ist, ob die in der Homöopathie auftretenden Erstverschlimmerungen als unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu klassifizieren sein sollen oder nicht.

Risikoerfassung bei pflanzlichen NEM

Über die neue europäische Verordnung zu gesundheitsbezogenen Aussagen für Lebensmittel (Health Claims Verordnung) ist zu erwarten, dass in Zukunft vermehrt Nahrungsergänzungsmittel (NEM) mit pflanzlichen Bestandteilen auf den Markt kommen werden. Was die Überwachung betrifft, so kann durch ein Europäisches Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel (Rapid Alert System for Food and Feed, RASFF) rasch eingeschritten werden, sobald Risiken bekannt werden. So gab es in jüngster Zeit laut Prof. Dr. Christian Steffen, BfArM, diverse Warnmeldungen mit nicht-marktfähigen Pflanzen in NEM aus Großbritannien, darunter die in Namibia heimische Hoodia gordonia Besonders schwer zu kontrollieren sind die Gefahren durch NEM mit unerwünschten Beimengungen und Qualitätsmängeln, wie sie in den USA häufig vorkommen, oder auch durch Wechselwirkungen von NEM mit Arzneimitteln, die wegen der vermeintlichen Harmlosigkeit der NEM meist gar nicht erst in Betracht gezogen werden.

Was bringt das Pharmapaket?

Neuerungen hinsichtlich der Pharmakovigilanz sind mit 80% aller geplanten Maßnahmen ein wichtiger Bestandteil des Pharmapakets der EU-Kommission. Worum es hierbei im Einzelnen geht, legte Dr. Elmar Kroth, Leiter Arzneimittelsicherheit beim BAH, dar. Hauptziele sind eine Entbürokratisierung und Entlastung der Industrie durch eine Vereinfachung der Einzelfallmeldepflichten, Übernahme der Literaturrecherchen für die wichtigsten Wirkstoffe durch die Europäische Arzneimittelagentur EMEA sowie die Orientierung der Verpflichtung, periodische Sicherheitsberichte (PSURs) zu erstellen, am Risikoprofil der Wirkstoffe.

Ob diese Ziele mit den vorgeschlagenen Instrumenten jedoch in der Praxis tatsächlich zu erreichen sind, wagte Kroth nach einer Detailanalyse der sehr komplexen Mischung aus Regeln und Ausnahmen zu bezweifeln. Teilweise erfolgt die Verlagerung der Verpflichtung auf die Behörden nur halbherzig, teilweise wird die administrative Belastung – auch durch steigende technische Anforderungen – indirekt sogar noch ausgeweitet. Vor diesem Hintergrund rechnet Kroth auf dem Gebiet der Pharmakovigilanz vor Abschluss des Pharmapakets noch mit heftigen Diskussionen und empfiehlt den Pharmaunternehmen umso mehr, gemeinschaftliche Projekte zu nutzen, um die Ressourcen effektiv zu bündeln. hb

Internet

Bremer Pharmacovigilance Service: www.bps-bremen.eu

Zugelassene Arzneimittel für Kinder: www.zak-kinderarzneimittel.de

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