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- DAZ 32/2010
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Feuilleton
"Durch Mark und Bein"
Als Gerhard Küntscher 1940 auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie über eine erfolgreiche intramedulläre Osteosynthese, also die Behandlung eines gebrochen Knochens durch ein Implantat im Knochenmark, berichtete, musste er viel Spott einstecken. Die Kollegen gaben zu bedenken, dass eine Marknagelung unphysiologisch sei. Nach der vorherrschenden Lehrmeinung der damaligen Zeit galt die Medulla ossium als das "Heilige im Knochen". Man glaubte, sie bewirke den Heilprozess von Frakturen und dürfe deswegen nicht verletzt werden. Selbst die Röntgendokumentation von Küntschers erstem Fall vermochte die gestandenen Chirurgen nicht zu überzeugen. Sie entgegneten, die Knochen seien schon vor der Operation so gut eingerichtet gewesen, dass die Fraktur auch ohne stabilisierende Nagelung hätte heilen können.
In jener Zeit wurden Knochenbrüche in der Regel konservativ – also mit Gipsverband und Extension – behandelt. Diese Therapie war nicht nur langwierig und schmerzhaft. Durch die lange Immobilisation bedingt, atrophierte die Muskulatur, und zuweilen steiften sogar Gelenke ein. Auch kam es häufig zu Thrombosen, Pneumonien und anderen lebensbedrohlichen Begleiterkrankungen.
Wenig ermutigende Anfänge der Osteosynthese
Seitdem die Ethernarkose und aseptische Operationssäle bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert invasive chirurgische Operationen möglich gemacht hatten und die Entdeckung der Röntgenstrahlen (1905) es erlaubte, Bruchstellungen prä- und postoperativ zu kontrollieren, versuchten zahlreiche Chirurgen, Schaftfrakturen – Brüche der langen Röhrenknochen der Arme und Beine – durch das Einführen von Fremdkörpern in den Markraum zu stabilisieren.
So hatte der schwedische Chirurg John Gottlieb Rissler (1863 – 1933 oder 1931) bereits 1911 Bolzen aus Elfenbein oder Knochen verwendet. Georg Schöne (1875–1960) in Greifswald hatte Silberstäbe in gebrochene Unterarmknochen eingeschoben (Abb. 1). Oskar Müller-Meernach (1873 – 1959), ein in Saalfeld ansässiger Landarzt, hatte 1921 begonnen, bei Schaftfrakturen die Bruchenden durch einen eben noch in die Markhöhle passenden Bolzen aufeinanderzupressen, und berichtete 1933 im Zentralblatt für Chirurgie über seine langjährigen Erfahrungen.
Andere Chirurgen hatten Schaftfrakturen mit Knochenplatten, Schrauben, Drahtnähten und ‑schlingen sowie quer zum Knochen eingebrachten Nägeln und Spickdrähten zu stabilisieren versucht. Nachhaltige Erfolge wurden allerdings nur bei der Osteosynthese von Oberschenkelhalsbrüchen mittels Nagelung erzielt. Der amerikanische Chirurg Marius N. Smith-Petersen (1886 – 1953) verwendete dazu ab 1925 Nägel mit Drei-Lamellen-Profil. Sein schwedischer Kollege Sven Johansson (1880 –1976) ersetze sie durch Nägel mit einer zentralen Bohrung, durch die er einen Führungsspieß steckte; diese Methode hatte den Vorteil, dass die Wunde relativ klein blieb.
Bei anderen Schaftfrakturen waren die operierten Knochen trotz monatelanger Bettruhe auf Dauer nicht belastbar. Oft brachen die Knochen nochmals, oder es bildeten sich knorpelige Pseudogelenke. Metallische Implantate korrodierten, worauf das Material ins Gewebe überging. Implantate aus Knochen oder Elfenbein aktivierten das Immunsystem.
Gerhard Küntscher – durch Tierversuche zum Erfolg
Gerhard Küntscher war 1900 in Zwickau zur Welt gekommen und hatte in Würzburg, Hamburg und Jena Medizin und Naturwissenschaften studiert. Als junger Arzt war er 1930 in die orthopädische Abteilung der Universitätsklinik Kiel zu Prof. Dr. Willy Anschütz (1870 –1954) gegangen, wo er sich 1936 mit einer Arbeit über den "Kraftfluss der Knochen" habilitierte. In zehnjähriger Forschungsarbeit mit Experimenten an Hunden entwickelte er eine neue Methode, Schaftfrakturen zu operieren. Er verwendete Lamellennägel aus rostfreiem Stahl, die er nicht an der Bruchstelle, sondern vom oberen Ende des gebrochenen Knochens her in die Markhöhle einschlug. Später setzte Küntscher V-förmige Nägel ein. Nach dem Abheilen des Bruchs wurden die Nägel wieder entfernt (Abb. 2 und Abb. 3).
Im November 1939 operierte Küntscher erstmals einen Menschen mit seiner Methode der intramedullären Osteosynthese. Der Patient war vom Trockendock einer Werft zwanzig Meter in die Tiefe gestürzt und hatte sich Frakturen am Oberschenkel, am Becken und am Knöchel zugezogen. Küntscher behandelte die Frakturen mit der üblichen Extension, führte aber in das Mark des Oberschenkelknochens einen Nagel ein. Der Patient genas, und ein Jahr später berichtete Küntscher der Fachöffentlichkeit von diesem Fall (s. o.). Bald darauf führte er die Operationen routinemäßig durch (Abb. 4).
Ernst Pohl – ein ideenreicher Medizintechniker
Den Erfolg verdankte Küntscher auch dem Know-how von Ernst Pohl (1876 – 1962). Der aus Stralsund stammende Kaufmann hatte sich 1900 in Kiel niedergelassen und dort Hans Meyer (1877 – 1964) kennengelernt, der 1911 zu Deutschlands erstem Privatdozenten für Röntgenkunde und Lichttherapie ernannt wurde. Meyer erkannte Pohls technisches Geschick und ermutigte ihn, eine Werkstatt für Medizintechnik zu gründen.
Obwohl er sein Wissen autodidaktisch erworben hatte, gelang es Pohl, für Auftraggeber aus der damals noch jungen Wissenschaft der Radiologie immer wieder maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln. Neben Vorrichtungen zur Tiefenbestrahlung und zur Kühlung von Röntgenröhren entwickelte er auch das 1931 patentierte Schichtaufnahmeverfahren und die Drehanodenröhre. Furore machte sein "Omniskop", das eine mühelose Positionierung des Patienten für Gastro- und Koloskopien und andere diagnostische Maßnahmen zuließ.
In enger Kooperation mit den Ärzten der Kieler Universitätsklinik entwickelte Pohl auch chirurgische Instrumente und orthopädische Hilfsmittel. Insbesondere mit Küntscher, der ebenso wie Pohl als "schwieriger Charakter" galt, arbeitete er überaus fruchtbar zusammen, sodass er schließlich ein Standardsortiment von Knochenmarknägeln besaß, die nach dem Röntgenbefund individuell modifiziert werden konnten. Verwendete Nägel wurden nach dem Entfernen aus der verheilten Bruchstelle für die Wiederverwendung aufpoliert.
Waren die Chirurgen anfangs auf starre Bohrer angewiesen, so entwickelte Pohl Mitte der 50er Jahre die "Lentodrill" – eine Antriebsmaschine mit modularen Aufsätzen – und passend dazu einen flexiblen Markraumbohrer (1960).
"Retter der langen Mädels"
Küntscher und Pohl arbeiteten auch auf einem anderen Gebiet zusammen: Sie erfanden die Innensäge, die im Knochenmark platziert wird, sodass es möglich ist, den Knochen durchzutrennen, ohne die umgebende Muskulatur zu verletzen (Abb. 5). 1964 wurde sie erstmal eingesetzt, um alte Frakturen zu entfernen. Bald führte Küntscher mit ihr auch "kosmetische" Osteotomien durch, indem er die Oberschenkelknochen von Menschen verkürzte, die unter ihrer extremen Körpergröße litten. Die Regenbogenpresse feierte ihn deshalb als "Retter der langen Mädels".
Titan – das ideale Material
Häufige Komplikationen von Küntschers Methode waren Infektionen entlang der Implantate und Fettembolien, wenn Knochenmark in die Blutgefäße gelangte. Richard Maatz (1905 –1989), der ebenfalls in der Kieler Universitätsklinik praktizierte, verringerte die Komplikationsrate, indem er vor der Implantierung die Markhöhle aufbohrte und konische Nägel oder Spreiznägel verwendete, die den Hohlraum im Knochen besser abschlossen. Gänzlich vermeiden ließen sich Infektionen, zuweilen sogar mit Beeinträchtigung der Nieren- oder Lungenfunktion, jedoch nicht. Küntscher führte sie auf eine unzureichende Reinigung der Geräte zurück. Heute weiß man indessen, dass sie durch zu intensives Aufbohren hervorgerufen werden können.
Ein wesentlicher Fortschritt war die Einführung inerter Titanlegierungen für Implantate. 1952 hatte der schwedische Arzt Per-Ingvar Branemark bei Laborexperimenten zur Knochenheilung zufällig entdeckt, dass Titanoxid mit Knochen fest verwächst.
Es sollten aber noch anderthalb Jahrzehnte vergehen, bis das korrosionsbeständige und das Immunsystem nicht aktivierende Metall Eingang in die Medizintechnik fand.
1972 wurden Marknägel eingeführt, die zusätzlich die Möglichkeit zur statischen oder dynamischen Verriegelung boten. Eine weitere Entwicklung der jüngeren Zeit ist der Kompressionsmarknagel, mit dem die Fraktur komprimiert werden kann, was wiederum eine bessere Apposition der Bruchenden ermöglicht.
Aktiv bis zum Schluss
Küntscher, der 1942 zum außerplanmäßigen Professor in Kiel berufen worden war, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Direktor des Kreiskrankenhauses Schleswig und 1957 Direktor des Hamburger Hafenkrankenhauses. Weil der international bekannte Chirurg aufgrund seiner zahlreichen Kongressreisen seine universitären Aufgaben vernachlässigte, entzog ihm die Universität Kiel 1962 die Lehrbefugnis. Aus eben diesem Grund entsprach wenige Jahre später die Hamburger Gesundheitsbehörde nicht Küntschers Gesuch auf Verlängerung der Dienstzeit über das Ruhestandsalter hinaus. Er wechselte daraufhin nach Flensburg, wo er bis zu seinem Tod 1972 im St.-Franziskus-Hospital arbeitete.
Die Firma Pohl war 1944 einem Bombenangriff zum Opfer gefallen. Der mittlerweile beinahe 70-jährige Unternehmer baute sie nach Kriegsende wieder auf und wurde 1947 wegen seiner Verdienste um die Röntgentechnik zum Ehrendoktor der Kieler medizinischen Fakultät ernannt.
Literatur Maatz R, et al. Die Marknagelung und andere intramedulläre Osteosynthesen. Stuttgart 1983.
Reinhard Wylegalla
AusstellungMedizin- und Pharmaziehistorische Sammlung Kiel Brunswiker Straße 2, 24105 Kiel Tel. (04 31) 88 05-7 21, Fax 88 05-7 27 Geöffnet: Dienstag bis Freitag 10 bis 16 Uhr, Sonntag 12 bis 16 Uhr |
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