Naturstoffe

Makroalgen – Potenzial für Pharmazie und Kosmetik

Viele pharmakologisch aktive Inhaltsstoffe

Von Hans-Peter Hanssen

Auf der Suche nach neuen Wirkstoffen wurden Forscher in den vergangenen Jahren insbesondere bei Meeresorganismen fündig. Dies gilt auch für die sehr große und heterogene Gruppe der Algen. Einige Algen gehören zum klassischen Arzneischatz, und auch einige isolierte Inhaltsstoffe wie Alginate oder Carrageen finden seit längerer Zeit medizinische Anwendung. Aktuell wecken neu entdeckte Inhaltsstoffe mit antiviraler und krebshemmender Aktivität großes Interesse.

In der weltweit durchgeführten Studie "Census of Marine Life" haben 2700 Wissenschaftler aus 80 Nationen zehn Jahre lang in einer Art "Volkszählung" die Artenvielfalt der Meere untersucht. Die Ergebnisse werden jetzt sukzessive veröffentlicht. Mehr als 5000 neue Arten wurden entdeckt, von denen bislang mehr als 1200 ausführlich beschrieben werden konnten [1]. Angesichts der großen Biodiversität der Ozeane ist dies nicht viel, aber genug, um zu behaupten, dass hier ein riesiges Potenzial an neuen, pharmakologisch interessanten Inhaltsstoffen schlummert. Auch wenn die Wirkung z. B. mancher Algenextrakte und -inhaltsstoffe seit längerer Zeit bekannt ist, so gehören Meeresorganismen doch zu den Lebewesen, die beim Screening eher vernachlässigt wurden. Dies ist auch auf ihre oft schwierige Gewinnung und Kultivierung zurückzuführen. Neuere Untersuchungen belegen, dass in bestimmten Makroalgen zahlreiche biologisch aktive Verbindungen vorkommen, die auch für die Pharmaindustrie interessant werden könnten.

Von industrieller Bedeutung sind bislang die einzigartigen Polysaccharide, die in verschiedenen Algenarten vorkommen. Hierzu zählen neben dem Carrageen und den Carrageenanen aus Rotalgen die Alginsäure, die Alginate und Fucoidane aus Braunalgen.

Alginsäure und Alginate

Braunalgen enthalten als charakteristische Bestandteile der Zellwand hauptsächlich zwei Gruppen von Phykokolloiden: Fucoidane und Alginate. Der Alginatgehalt ist abhängig von der Spezies und der Jahreszeit. Er beträgt 15 bis 40% des Trockengewichts. Ökonomisch genutzt werden Alginate, die aus bestimmten Arten der Ordnungen Laminariales und Fucales gewonnen werden. Die weltweite Jahresproduktion beträgt etwa 40.000 Tonnen; zu den größten Produzenten gehören die USA, Frankreich, Norwegen, Großbritannien, Kanada, Japan und China.

Alginsäure (Algin) ist ein Gemisch von Polyuronsäuren [(C6 H8O6)]n mit wechselnden Anteilen von 1,4-β-D-Mannuronsäure und 1,4-α-L-Guluronsäure. Der Anteil der Carboxylgruppen an der Molekülmasse liegt zwischen 19 und 25%. In der Zellwand liegen die Alginatmoleküle als dicht gepackte Stränge vor. Dabei sind die Carboxylgruppen der Uronsäuren über zweiwertige Kationen wie Ca2+ und Mg2+ miteinander verknüpft. Die Molekülmassen nativer Alginsäuren betragen 150.000 bis 250.000 D. Während der Isolierung werden sie teilweise abgebaut, was zu Produkten mit 30.000 bis 60.000 D führt. Die unterschiedliche Kettenlänge wirkt sich vor allem auf die Viskosität aus.

In vielen Bereichen (Lebensmittel-, Kosmetik-, Pharmaindustrie, Medizin) finden Alginsäure und Alginate wegen ihrer charakteristischen Sol- und Geleigenschaften, wegen ihrer emulsions- und suspensionsstabilisierenden Wirkung sowie als Filmbildner und Kationenaustauscher Verwendung. So werden Dentalabdruckmassen aus Natriumalginat-Calciumsalz-Mischungen hergestellt. Calciumalginat wird als saugfähiges Material in interaktiven Wundauflagen eingesetzt; Natriumalginatlösungen in Sprühpflastern und -verbänden. Diese wirken hämostyptisch, also blutstillend, indem unmittelbar beim Kontakt mit den Calciumionen des Blutes unlösliches Calciumalginat entsteht und über der Wunde eine Schutzmembran bildet.

Fucoidane

Nachdem in Japan schon lange ein Zusammenhang zwischen der vergleichsweise geringen Brustkrebsrate einerseits und dem Verzehr von Algenprodukten andererseits vermutet worden war [2], wurde in den 60er Jahren die Antitumor-Aktivität eines sulfatierten Laminarins aus der Braunalge Laminaria cloustoni gegen das Sarkom 180 nachgewiesen [3]. In der Folgezeit wurden vor allem in Japan zahlreiche Algenextrakte auf ihre krebshemmende Wirkung untersucht.

Zwar sind von den geschätzten 280.000 Algenarten unseres Planeten bisher nur 40.000 bekannt und davon nur wenige hundert phytochemisch charakterisiert. Dennoch kennt man schon jetzt rund 70 Substanzen aus Algen, die selektiv Krebszellen abtöten können. Einige von ihnen werden bereits klinisch getestet. Dazu zählen viele Fucoidane.

Fucoidane sind Polysaccharide in Braunalgen, die bislang weder in anderen Algen noch in Landpflanzen gefunden wurden [4]. Sie setzen sich vorwiegend aus sulfatierter L-Fucose (6-Deoxy-L-Galaktose) und zu weniger als 10% aus anderen Monosacchariden zusammen. Ein charakteristisches Strukturmerkmal der Fucoidane sind α-1,4-gebundene L-Fucose-4-O-sulfat-Einheiten, die in Position 2 verzweigt, acetyliert oder mit einer zweiten Sulfatgruppe substituiert sein können. Allerdings bestehen beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der Molekülmasse, des Grades an Sulfatierungen und auch dessen Muster. Zudem findet man zahlreiche Variationen bei den glykosidischen Bindungen und der Zuckerzusammensetzung. Ferner kommen auch α-1,4- und α-1,2-gebundene Fucoseeinheiten mit und ohne Sulfatgruppen oder Verzweigungen vor.

Zwischenzeitlich konnte in zahlreichen Untersuchungen eine kanzerostatische Wirkung verschiedener Fucoidane auf unterschiedliche Tumoren beobachtet werden. Bei Nacktmäusen mit transplantierten Tumoren (Xenograft-Modelle) wurde eine Wachstumshemmung des Ehrlich-Aszites-Tumors und des Lungen-Adenokarzinoms nachgewiesen [5, 6], und darüber hinaus wurde die Metastasierung von Adenokarzinomen der Lunge und der Brust gehemmt [7, 8].

In-vitro-Studien belegten eine Hemmung bestimmter Formen des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms [9] und des Lymphoms [10]. Auch inhibierten Fucoidane die Angiogenese von HeLa-Zellen (Zervixkarzinomzelllinie) [11]. Aktuelle Studien zeigen, dass der kanzerostatischen Wirkung komplexe Eingriffe in das Immunsystem zugrunde liegen [12, 13]. So konnte bei Darmkrebszellen eine Induktion der Apoptose durch die Aktivierung von Caspasen beobachtet werden [13].

Eine antivirale Wirkung konnte für verschiedene sulfatierte Polysacharide – u. a. auch für Fucoidane – nachgewiesen werden. Bemerkenswert war dabei die Breite der virustatischen Aktivität, die sowohl RNA- und DNA-Viren als auch unbehüllte und behüllte Viren einschloss. So wurde eine Aktivität gegen Poliovirus Typ III, Adenovirus Typ III, ECHO-6-Viren und gegen die Coxsackie-Viren Typ B3 und Typ A16 nachgewiesen [14]. Auch gegen die Herpesviren HSV-1 und HSV-2 waren Extrakte aus Makroalgen wirksam [15]. Untersuchungen zeigten weiterhin eine antivirale Wirkung von Fucoidanen gegen die behüllten Cytomegalie-Viren und HIV [16]. Die Zytotoxizität der eingesetzten Extrakte war dabei vergleichsweise gering.

Neben einer kanzerostatischen, immunmodulatorischen und antiviralen Wirkung konnten für verschiedene Fucoidane in den vergangenen Jahren zahlreiche weitere pharmakologische Aktivitäten nachgewiesen werden [14]:

  • gerinnungshemmend und antithrombotisch

  • entzündungshemmend

  • Blutlipidspiegel-senkend

  • antioxidativ

  • antikomplementär

  • hepatoprotektiv

  • magenschützend.

Polyphenole

Eine Korrelation zwischen dem Gehalt an bestimmten Polyphenolen und einer kanzerostatischen Wirkung ist für zahlreiche höhere Pflanzen, z. B. für Tee, verschiedentlich in Tierversuchen nachgewiesen worden. Entsprechende Untersuchungen von Polyphenolen in Extrakten aus Rot- und Braunalgen weisen auf eine antioxidative und antiproliferative Wirkung gegen Krebszellen hin. In die Untersuchungen waren auch phenolische Säuren und die Mykosporin-ähnlichen Aminosäuren (MÄA) einbezogen [17]. Eine weitere Studie zeigte, dass die Polyphenolfraktion noch stärker kanzerostatisch wirkte als die Polysaccharide [18].

Vitamine und Mineralstoffe

Algen sind vergleichsweise reich an Mineralstoffen, Spurenelementen und Vitaminen. Neben Calcium, Magnesium, Eisen und Kalium enthalten sie die Spurenelemente Iod, Kupfer, Zink und Selen, daneben Mangan, Strontium, Molybdän oder Germanium. Die Elemente werden an die Polysaccharide gebunden und sind in dieser Form bioverfügbar.

Das breite Spektrum an Vitaminen umfasst neben den Vitaminen A, C und E den Vitamin B-Komplex einschließlich des sonst nur in tierischen Produkten vorkommenden Vitamins B12. Diese Komponenten sind sowohl für die Immunabwehr als auch für Haut, Haare, Nägel und Bindegewebe von besonderer Bedeutung.

Wirkungen auf die Haut

Verschiedene Inhaltsstoffe von Algenextrakten schützen die Haut oder wirken sich positiv auf bestimmte Eigenschaften der Haut aus:

  • UV-Schutz durch bestimmte Phenole (Phlorotannine), Carotinoide, das Enzym Photolyase und Mykosporin-ähnliche Aminosäuren (MÄA),

  • grundsätzlicher Hautschutz durch Radikalfänger wie Tocopherole, Polyphenole, β-Carotin (Vitamin A) und andere Carotinoide, die das Immunsystem stimulieren,

  • Hydratisierung und Befeuchtung der Haut durch (sulfatierte) Polysaccharide und Mucopolysaccharide (Glykosaminoglykane),

  • Hautglättung und -regeneration durch essenzielle und nicht-proteinogene Aminosäuren sowie hochgradig ungesättigte Fettsäuren,

  • Aufhellung durch Phlorotannine, Phloroglucinol und dessen Oligomere,

  • Stimulierung der Kollagensynthese durch niedermolekulare Fucoidane.

Während zahlreiche Inhaltsstoffe der Algen ubiquitär vorkommen, sind doch einige Verbindungen einzigartig in bestimmten Algenklassen, -ordnungen, -gattungen und -arten, oder aber die Kombination bestimmter Wirkstoffe ist ungewöhnlich und verstärkt synergistisch die Gesamtwirkung.

Die zunehmende Verwendung von Fucoidanen in Kosmetika beruht auf Untersuchungen zur Wirkung dieser Verbindungen auf verschiedene Hauptparameter, z. B. die Stimulierung der Kollagensynthese (s. o.). Ein Anti-Aging-Effekt wird damit erklärt, dass auf die Haut aufgetragene wässrige fucoidanhaltige Extrakte die Hautdicke reduzieren und die Hautelastizität erhöhen [4].

Fucosereiche Oligo- und Polysaccharide (FROP) spielen eine Rolle bei Zell-Zell-Verbindungen und Zell-Matrix-Verbindungen. Sie stimulieren zudem die Zellproliferation. Durch Inhibierung von Matrix-Metalloproteinasen (MMP) und Stimulierung der Kollagen- und Elastinsynthese in Fibroblasten wird die Spannkraft von Haut und Bindegewebe verbessert, was die Haut jünger aussehen lässt [19, 20].

Makroalgen aus Aquakultur

Während Mikroalgen in Bioreaktoren gewonnen werden können, müssen für die Kultivierung von Makroalgen und die Gewinnung von deren pharmakologisch aktiven Inhaltsstoffen in industriellem Maßstab neue Technologien entwickelt werden. Bislang erfolgt die Gewinnung von Braunalgen für die Kosmetikindustrie überwiegend durch spezielle Trawler, die den Meeresboden "abernten". Aufgrund des zunehmenden Bedarfs in diesem Bereich, aber auch im Hinblick auf eine mögliche künftige Bedeutung für die pharmazeutische Industrie gibt es weltweit Bemühungen, Makroalgen nachhaltig in Aquakultur zu produzieren. In Deutschland hat sich der Naturkosmetikhersteller oceanBASIS in Kiel auf die Kultivierung der Braunalge Laminaria spezialisiert; er betreibt in der Kieler Förde die erste marine Algenfarm Deutschlands, die er auch als "blaue Apotheke" apostrophiert [21].


Quellen

[1] www.coml.org, Census of Marine Life, Pressemitteilung v. 04.10.2010.

[2] Teas J. The dietary intake of Laminaria, a brown seaweed, and breast cancer prevention. Nutr Cancer 1983;4(3):217 – 222.

[3] Jolles B, et al. Effects of sulphated degraded laminarin on experimental tumour growth. Br J Cancer 1963;17:109 – 115.

[4] Hänsel R, Sticher O. Pharmakognosie – Phytopharmazie. 9. Aufl. Springer-Verlag, Berlin 2009.

[5] Mian J, Percival E. Carbohydrates of the brown seaweeds Himanthalia lorea and Bifurcaria bifurcata Part II. structural studies of the "fucans”. Carbohydr Res 1973, 26, 147 – 161.

[6] Hussein MM, et al. Sulfated heteropolysaccharides from Padina pavoia. Phytochemistry 1980;19:2131 – 2132.

[7] Hussein MM, et al. Some structural features of a new sulfated heteropolysaccarid from Padina pavoia. Phytochemistry1980;19:2133 – 2135.

[8] Chevolot L, et al. A disaccharide repeat unit is the structure structure in fucoidans from two species of brown algae. Carbohydr Res 2001;330:529 – 535.

[9] Marais M, Joseleau J. A fucoidan fraction from Ascophyllum nodosum. Carbohydr Res 2001;336:155 – 159.

[10] Chandía NP, Matsuhiro B. Characterization of a fucoidan from Lessonia vadosa (Phaeophyta) and its anticoagulant and elicitor properties. Int J Biol Macromol 2008;42:235 – 240.

[11] Anno K, et al. Isolation and purification of fucoidin from brown seaweed Pelvetia wrightii. Agric Biol Chem 1966;30:495 – 499.

[12] Jin J-O, et al. The mechanism of fucoidan-induced apoptosis in leukemic cells: Involvement of ERK1/2, JNK, glutathione, and nitric oxide. Mol Carcinogen 2010;49(8):771 – 782.

[13] Kim EJ, et al. Fucoidan present in brown algae induces apoptosis of human colon cancer cells. BMC Gastroenterology 2010;10:96.

[14] Li B, et al. Fucoidan: Structure and Bioactivity. Molecules 2008;13:1671 – 1695.

[15] Mandal P, et al. Structural features and antiviral activity of sulphated fucans from the brown seaweed Cystoseira indica. Antivir Chem Chemother 2007;18(3):153 – 162.

[16] Ponce NMA, et al. Fucoidans from the brown seaweed Adenocystis utricularis: extraction methods, antiviral activity and structural studies. Carbohydr Res 2003;338(2):153-165.

[17] Yuan YV, Walsh NA. Antioxidant and antiproliferative activities of extracts from a variety of edible seaweeds. Food Chem Toxicol 2006;44(7):1144 – 1150.

[18] Athukorala Y, et al. Antiproliferative and antioxidant properties of an enzymatic hydrolysate from brown alga, Ecklonia cava. Food Chem Toxicol 2006;44(7):1065 – 1074.

[19] Robert L, et al. Effect of L-fucose and fucose-rich polysaccharides on elastin biosynthesis, in vivo and in vitro. Biomed Pharmacother 2004;58(2):123 – 128.

[20] Fodil-Bourahla I, et al. Effect of L-fucose and fucose-rich oligo- and polysaccharides (FROP-s) on skin aging: penetration, skin tissue production and fibrillogenesis. Biomed Pharmacother 2003;57(5-6):209 – 215.

[21] oceanBASIS, sea.science.solutions; www.oceanbasis.de.


Autor
Dr. Hans-Peter Hanssen, Institut für Pharm. Biologie und Mikrobiologie, Bundesstr. 43, 20146 Hamburg, hans-peter.hanssen@hamburg.de

Literatur


Medizinisches Wissen aus dem Meer, in: World Ocean Review 2010, kostenlos bestellen bei: http://worldoceanreview.com

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