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Medizin
Notfall Anaphylaxie
Unter Anaphylaxie versteht man eine akute systemische Reaktion des erworbenen Immunsystems gegen "fremde" Moleküle, die den ganzen Organismus erfassen kann. Sie setzt eine Sensibilisierung voraus, die symptomlos verläuft. Bei Erstkontakt mit dem Organismus wird das Allergen von TH2- und B-Lymphozyten unabhängig voneinander erkannt. Interagieren die beiden aktivierten Zelltypen miteinander, kommt es zur Differenzierung der B-Zellen in Plasmazellen. Diese setzen ein allergenspezifisches Immunglobulin E (IgE) frei, welches an basophile Granulozyten und Mastzellen bindet (s. Abb. 1).
Beim Zweitkontakt bindet das Allergen direkt an das auf den Mastzellen befindliche IgE. Rasch kommt es zu einer überschießenden Freisetzung von Mediatorsubstanzen wie Histamin, Zytokinen (v. a. Interleukinen), Leukotrienen, plättchenaktivierendem Faktor und dadurch in Sekunden bis Minuten zur anaphylaktischen Sofortreaktion (s. Abb. 1).
Zwar wird die Bedeutung der einzelnen Mediatoren noch nicht einheitlich beurteilt, jedoch korrelierten in mehreren Studien die signifikante Erhöhung von Histamin und verschiedenen Interleukinen (IL-2, IL-6, IL-10) sowie die Zunahme spezifischer Rezeptoren des Tumornekrosefaktors-alpha (TNF-α) mit der Schwere der anaphylaktischen Reaktion.
Als pathophysiologische Effekte der freigesetzten Mediatoren zeigen sich in der Regel
- eine Vasodilatation,
- eine erhöhte Gefäßpermeabilität,
- ein Bronchospasmus und
- eine Entzündungsreaktion im Gewebe.
Symptomatik und Schweregrade
Das Ausmaß der anaphylaktischen Reaktion kann interindividuell stark variieren. Im Wesentlichen manifestieren sich die Symptome an Haut, Atemwegen, kardiovaskulärem System und Gastrointestinaltrakt. Je nach Intensität und betroffenem Organsystem lässt sich eine anaphylaktische Reaktion in vier Schweregrade von Grad I bis Grad IV einteilen, die jeweiligen Symptome sind in Tabelle 1 aufgezählt. Trotz dieser Einteilung drohen hier grundsätzlich folgende Gefahren:
eine Verstärkung der Symptomatik von Schweregrad I zu IV innerhalb von Minuten,
primär eine massive Kreislaufreaktion ohne kutane oder pulmonale Symptomatik,
protrahierte oder biphasische Verläufe mit erneuter Symptomatik auch nach erfolgreicher Soforttherapie.
Da ausgehend von Schweregrad I die weitere Dynamik zunächst nicht absehbar ist, sollte nach Möglichkeit der Patient aufmerksam beobachtet und ein venöser Zugang angelegt werden.
Zu Beginn kann sich eine anaphylaktische Reaktion lediglich durch unspezifische Empfindungen bemerkbar machen, wie Juckreiz oder Brennen an Handinnenflächen bzw. Fußsohlen, metallischem Geschmack, Übelkeit, Angstgefühle, Kopfschmerzen oder Desorientierung.
An Haut und Schleimhäuten kommt es zu Erscheinungen wie Erythem (entzündliche Hautrötung), Flush (Gesichtsrötung), Urtikaria (Nesselsucht mit Quaddeln), Rhinorrhö (Absonderung von Nasensekret), Angioödem (Quincke-Ödem, s. Abb. 2) sowie Pruritus (Juckreiz).
Eine Verengung der oberen Atemwege durch Ödeme im Bereich des Rachens (Pharynx) oder Kehlkopfs (Larynx) kann innerhalb kürzester Zeit zu einer lebensbedrohlichen Hypoxie führen. Als Frühzeichen eines Larynxödems sieht man im Oropharynx häufig eine Schwellung der Uvula und der Zunge.
An der Lunge bewirken die verschiedenen Mediatoren zum einen eine Bronchokonstriktion mit nachfolgender Dyspnoe, zum anderen eine Vasokonstriktion mit Erhöhung des pulmonalen Gefäßwiderstandes. Hier droht die Gefahr einer akuten respiratorischen Insuffizienz. Als Folge der Permeabilitätsstörung kann es auch zum Lungenödem kommen.
Zu den gastrointestinalen Symptomen gehören Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Diarrhö. Auch führt die Stimulation von Histaminrezeptoren zu verstärkter Darmmotorik mit Meteorismus, Krämpfen und Stuhldrang bis hin zur Defäkation.
Zentralnervöse Symptome sind Unruhe, Kopfschmerzen, Tremor sowie eine Bewusstseinseintrübung bis hin zur Bewusstlosigkeit.
Als Kreislaufreaktion zeigt sich eine zunehmende arterielle Hypotonie, zunächst aufgrund der gefäßerweiternden Wirkung der freigesetzten Mediatoren. Ein zusätzlicher blutdrucksenkender Faktor ist die Hypovolämie, die infolge der Permeabilitätsstörung mit Flüssigkeitsverlust aus den Gefäßen in das umliegende Gewebe entsteht. Nachfolgend entwickelt sich eine Tachykardie, die durch den positiv chronotropen (herzfrequenzsteigernden) Effekt von Histamin noch verstärkt wird. Darüber hinaus können Allergiemediatoren auch direkt kardiotoxisch wirken, sowohl arrhythmogen als auch negativ inotrop (die Kontraktion vermindernd).
Ausnahme von der Verschreibungspflicht -
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Im Einzelfall kann die Herz-Kreislauf-Reaktion dramatisch verlaufen. Die kardiopulmonalen Pathomechanismen können nach Allergenexposition auch schlagartig eintreten. Die Folge ist ein anaphylaktischer Schock mit massivem Blutdruckabfall und verminderter Durchblutung lebenswichtiger Organe. Es droht ein Kreislauf- sowie Atemstillstand mit Verlust des Bewusstseins. Die typischen kutanen oder respiratorischen Symptome einer Anaphylaxie können zwar auftreten, haben wegen der lebensbedrohlichen Situation jedoch keine Priorität.
Diagnostik
Das klinische Bild einer akuten anaphylaktischen Reaktion ist oft so charakteristisch, dass die Diagnose wenig Schwierigkeiten bereitet. Dennoch sollte an verschiedene Differenzialdiagnosen gedacht werden (s. Tab. 2). Die häufigsten Auslöser anaphylaktischer Reaktionen sind
- Medikamente (z. B. Antibiotika, Narkotika, Muskelrelaxanzien, Kontrastmittel, Antirheumatika, Antiepileptika)
- Insektengifte (z. B. Wespe, Hornisse)
- Nahrungsmittel (z. B. Nüsse, Fisch, Schalentiere, Milch) und Lebensmittelzusätze
- Aeroallergene (Pollen, Gräser)
- Naturlatex (z. B. Küchenhandschuhe)
- Physikalische Faktoren (z. B. Kälte, UV-Strahlung)
Bei Patienten, die eine anaphylaktische Reaktion überstanden haben, hat die allergologische Diagnostik folgende Ziele: Zunächst sollte das individuelle Risiko ermittelt werden, also das auslösende Agens und der relevante Pathomechanismus (z. B. IgE). Darauf abgestimmt sollten Vermeidungsstrategien und ein Therapieplan erstellt werden, v. a. zugunsten alternativer "verträglicher" Arzneimittel. Nicht zuletzt sollte der Patient im Hinblick auf potenzielle Notfallsituationen geschult werden ("Notfallset").
Grad I | Grad II | Grad III | Grad IV | |
Haut |
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ZNS |
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Abdomen |
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Respirationstrakt |
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Herz-Kreislauf-System |
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Selbstmedikation mit "Notfallset"
Nach einer anaphylaktischen Reaktion sollten Patienten mit einem "Notfallset" zur Selbstmedikation ausgerüstet und in dessen Handhabung praktisch und schriftlich eingewiesen werden. Üblicherweise enthält dieses Set drei Medikamente:
- Adrenalin (als Autoinjektor Fastjekt® oder Anapen®, ggf. auch zur Inhalation),
- dann ein H1-Antihistaminikum und
- ein Glucocorticoid als Saft oder Tropfen.
Für Patienten mit bekanntem Asthma bronchiale empfiehlt sich zusätzlich ein Beta-2-Stimulator zur Inhalation.
Wie der Patient (oder ein Angehöriger) das Notfallset anwenden soll, wird vom zuständigen Arzt, basierend auf der bisherigen Anamnese, individuell festgelegt.
- Wenn Hautsymptome dominieren (Schweregrad I), kann die Einnahme des H1-Antihistaminikums ausreichen.
- Bei Anzeichen kardiovaskulärer Symptome (ab Grad II) und/oder eines anaphylaktischen Schocks sollte das Adrenalin schnellstmöglich mit dem Autoinjektor intramuskulär in die Außenseite des Oberschenkels injiziert werden. Alarmzeichen sind Brennen, Juckreiz, Hitzegefühl und Rötung sowie Tachykardie und Kollapsneigung. Die Wirkung von Adrenalin setzt innerhalb von Minuten ein, im Gegensatz zu Antihistaminika oder Cortison, deren Wirkung sich erst nach 30 bis 60 Minuten entfaltet.
- Werden hauptsächlich respiratorische Probleme erwartet (Grad II), kann auch das Adrenalinpräparat zum Inhalieren eingesetzt werden, alternativ das Beta-2-Mimetikum.
Therapie
Als erste Maßnahmen sollte man – neben der Verständigung des Notarztes – die Zufuhr des mutmaßlichen Allergens sofort beenden und den Betroffenen in eine liegende Position mit hochgelagerten Beinen bringen (sofern keine Atemnot vorliegt). Falls vorhanden, können Medikamente aus dem Notfallset appliziert werden. Möglichst rasch sollten Rachen und Kehlkopf eingesehen werden, um lebensbedrohliche Schwellungen rechtzeitig zu erkennen. Bei Atem-/Kreislaufstillstand als Zeichen des anaphylaktischen Schocks muss sofort mit der kardiopulmonalen Reanimation begonnen werden (s. a. DAZ 2010, Nr. 49, S. 76 - 79). Den aktuellen leitliniengerechten Therapiealgorithmus je nach Schweregrad zeigt Abbildung 3. Zur medikamentösen Behandlung der anaphylaktischen Reaktion werden in der Regel folgende Substanzen eingesetzt:
Adrenalin
Über die Stimulation von α- sowie β-Rezeptoren antagonisiert Adrenalin die wesentlichen zur Anaphylaxie führenden Pathomechanismen, so die Hypovolämie durch Vasokonstriktion, das Herzversagen durch Steigerung von Herzfrequenz und -kontraktilität und das Atemversagen durch Bronchodilatation. Darüber hinaus hemmt Adrenalin die Freisetzung von Mediatoren aus Mastzellen und basophilen Granulozyten.
Steht die kardiovaskuläre Symptomatik im Vordergrund, appliziert man die Verdünnung 1 ml (= 1 mg) Adrenalin + 9 ml NaCl 0,9% (Lösung 1:10.000) milliliterweise i. v. unter engmaschiger Kreislaufkontrolle. Ohne venösen Zugang ist ab Schweregrad II mit zunehmender kardiovaskulärer Symptomatik die sofortige intramuskuläre Gabe von 0,3 bis 0,5 mg Adrenalin in die Außenseite des Oberschenkels die Therapie der ersten Wahl, die bei Bedarf und in Abhängigkeit von Wirkung bzw. Nebenwirkung alle 10 bis 15 min wiederholt werden kann. Neueren Untersuchungen zufolge ist die intramuskuläre Applikation rascher wirksam als die subkutane oder die inhalative.
Betamimetika
Bei überwiegend pulmonaler Symptomatik in den Stadien II und III können alternativ zu inhalierbaren Adrenalinpräparaten auch die gängigen zur Asthmatherapie eingesetzten β2 -Mimetika als Dosieraerosol verabreicht werden, z. B. Fenoterol, Salbutamol. Jedoch muss beachtet werden, dass β2 -Stimulatoren im Gegensatz zu Adrenalin durch ihre Gefäßwirkung blutdrucksenkend wirken.
Antihistaminika
Aufgrund der zentralen Rolle von Histamin als wesentlichem Mediator der anaphylaktischen Reaktion ist die Gabe von Antihistaminika bereits ab Schweregrad I indiziert. Allerdings reicht die alleinige Wirkung von H1 -Antihistaminika (z. B. Clemastin) bei fortschreitendem Schweregrad nicht aus. Mehrere Studien haben hier die verstärkte Wirkung einer Kombination mit einem H2 -Antihistaminikum (z. B. Cimetidin) nachgewiesen. Auch wird die sogenannte "H1 /H2 -Prophylaxe" bei Risikopatienten, etwa vor Allgemeinnarkosen oder Kontrastmitteluntersuchungen, in der Regel erfolgreich eingesetzt.
Glucocorticoide
Wegen ihres langsamen Wirkungseintritts spielen Glucocorticoide in der Akuttherapie nur eine untergeordnete Rolle. Jedoch wirken sie protrahierten oder biphasischen anaphylaktischen Reaktionen entgegen. Glucocorticoide hemmen die Produktion von Bradykinin, Serotonin und plättchenaktivierendem Faktor, die Aktivierung von Entzündungszellen sowie direkt das Enzym Phospholipase A und damit die Bildung von Leukotrienen und Prostaglandinen. Die empfohlene Dosierung, z. B. für Methylprednisolon, beträgt 1 bis 2 mg/kg KG alle 6 Stunden oder 250 bis 500 mg als Einmalgabe.
Literatur[1] Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI), Ärzteverband Deutscher Allergologen (ÄDA), Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin (GPA), Deutsche Akademie für Allergologie und Umweltmedizin (DAAU). Akuttherapie anaphylaktischer Reaktionen. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 061/025. Allergo Journal 2007; 16: 420 – 434[2] Baars T, Erbel R. Internistische Intensiv- und Notfallmedizin. Köln: Deutscher Ärzte Verlag; 2011[3] Müller-Werdan U, Werdan K: Anaphylaktischer Schock. In: Eckart, Forst, Burchardi (Hrsg). Intensivmedizin. Landsberg: ecomed Medizin; 2004[4] Silbernagl S, Despopoulos A. Taschenatlas der Physiologie. Stuttgart, New York: Georg Thieme Verlag; 2001[5] Stone SF. Elevated serum cytokines during human anaphylaxis: Identification of potential mediators of acute allergic reactions. J Allergy Clin Immunol 2009;124:786 – 792
Autor
Clemens Bilharz, Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin
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