Interpharm 2011

Immunzellen zerstören Myelinscheiden

Die multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der es zu Entzündungen im Nervensystem kommt. Meistens bricht sie bei jungen Erwachsenen aus, in der Regel im dritten Lebensjahrzehnt. Ausgelöst werden die Entzündungsreaktionen durch Lymphozyten, welche über die Blut-Hirn-Schranke ins ZNS eindringen, wie Professor Dr. Bernd Kieseier, Düsseldorf, ausführte.
Foto: DAZ/Reimo Schaaf
Prof. Dr. Bernd Kieseier

Als Folge der Attacke kommt es zum Abbau des Myelins, der Isolierhülle der Nervenzellen. Dadurch werden auch die Axone, die Fortsätze der Nervenzellen, und die Nervenzellen selbst direkt geschädigt. Diese Schäden führen im weiteren Verlauf der Erkrankungen zu bleibenden Behinderungen.

Die Krankheitsherde können im gesamten Zentralnervensystem auftreten und werden spürbar, wenn wichtige Nervenbahnen betroffen sind, etwa der Sehnerv oder sensible Nerven. Die Entzündungsreaktionen lassen sich im Kernspintomogramm (MRT) sichtbar machen. Aktive Entzündungsherde reichern Kontrastmittel an, das durch die gestörte Blut-Hirn-Schranke gelangt.

Erst Entzündung, dann Degeneration

Während zu Beginn der Erkrankung die Entzündungsreaktion im Vordergrund steht, kommt es im weiteren Verlauf zu degenerativen Schäden der Nervenzellen. Das Gehirnvolumen nimmt bereits relativ früh im Krankheitsverlauf ab. Zu Beginn der Erkrankung kann das Nervensystem diese Schäden noch gut kompensieren. Im weiteren Verlauf werden jedoch immer mehr neurologische Ausfallerscheinungen sichtbar.

Warum es zu der fehlgeleiteten Immunreaktion kommt, ist unklar. Die Aktivierung der T-Zellen findet im Immunsystem statt. Der Auslöser ist nicht bekannt. Diskutiert werden eine erbliche Veranlagung, ein bisher unbekannter Virusinfekt und ein Vitamin-D-Mangel.

Eine Kindheit in nördlichen Gegenden der Erde erhöht das Risiko. Umgekehrt kann Sonnenlicht in der Schwangerschaft das Kind vor einer multiplen Sklerose im späteren Leben schützen. Möglicherweise kommt dem durch Sonnenlicht gebildeten Vitamin D eine Schutzfunktion zu.

Schubförmiger Beginn

Bei 85% der Patienten beginnt die Erkrankung schubförmig. Nach einem Schub kommt es zur Rückbildung der neurologischen Symptome und zu einer Erholung, die unterschiedlich lange andauern kann.

Wegen der wechselnden Symptome suchen die Patienten oft zunächst verschiedene Ärzte auf. Zu Beginn werden oft Symptome wie Sehstörungen, Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen nicht korrekt zugeordnet. Im Durchschnitt wird die Diagnose dadurch erst nach 3,5 Jahren Krankheitsdauer gestellt.

Bei der Hälfte der Patienten kommt es innerhalb von zehn Jahren zu einem chronisch-progredienten Verlauf, bei dem die Nerven fortlaufend weiter geschädigt werden und degenerieren, ohne dass es dabei noch zu Erholungen kommt. Im weiteren Verlauf leiden rund 90% der Patienten zu einem späteren Zeitpunkt an dieser chronisch-progredienten Form.

Möglichst frühe Behandlung

Heute gibt es eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten, mit denen der Krankheitsverlauf wirkungsvoll aufgehalten werden kann. Mit diesen Methoden können vor allem die Entzündungsreaktionen zu Krankheitsbeginn verhindert werden. Gegen die spätere Neurodegeneration stehen keine Behandlungsoptionen zur Verfügung. Deshalb sollte möglichst früh behandelt werden, also bereits bei einem ersten klinisch isolierten Syndrom, wenn sich gleichzeitig kernspintomografisch mehrere Entzündungsherde nachweisen lassen.

Gut wirksame Basistherapie

Ein akuter Schub wird zunächst mit hoch dosierten Glucocorticoiden intravenös behandelt, um die Entzündung zurückzudrängen und die Schubdauer zu verkürzen.

Zur Basistherapie sind Interferone und Glatirameracetat Mittel der ersten Wahl. Sie reduzieren die Schubrate um rund 30%. Bei frühzeitigem Beginn und langdauernder Anwendung wirken sie am besten. Sie können die Krankheitsprogression und eine Konversion in die progrediente Verlaufsform aufhalten; ihre Wirkung ist auch im MRT sichtbar.

Als Mittel der zweiten und dritten Wahl dienen die Immunsuppressiva Azathioprin, Mitoxantron und Cyclophosphamid sowie intravenöse Immunglobuline (IVIG). Bei der chronisch progredienten Verlaufsform wird in erster Linie Mitoxantron eingesetzt.

Natalizumab: gut wirksam, aber gefährlich

Wenn diese Methoden versagen oder nicht geeignet sind, steht zur Eskalationstherapie Natalizumab zur Verfügung, die bisher wirksamste Substanz zur Behandlung der MS. Als Infusion alle drei Wochen kann sie die Schubraten um fast 70% reduzieren.

Natalizumab blockiert alpha-4-Integrin, das für die Immunantwort wichtig ist, und wirkt dadurch immunsuppressiv. Die Immunsuppression beinhaltet aber auch das Risiko einer seltenen, aber gefährlichen Infektion mit dem JC-Virus, das ins Gehirn eindringt und hier eine progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) auslösen kann, eine schwere Infektion des Gehirns. Diese potenziell tödliche Nebenwirkung trat bisher weltweit bei 102 Patienten auf, in Deutschland sind 22 Fälle bekannt.

Das Risiko ist also sehr gering, scheint aber mit der Anwendungsdauer zu steigen. Wahrscheinlich erhöhen auch aggressive vorangegangene Therapien mit Mitoxantron oder Methotrexat und Azathioprin das Risiko, so dass es bei einer entsprechenden Vortherapie bis auf 1:200 ansteigen kann. Derzeit wird ein Test auf das Virus entwickelt.

Fingolimod zur oralen Therapie

Auch das neue oral anwendbare Fingolimod, das jetzt die Zulassung von der EMEA erhalten hat, wirkt immunsuppressiv. Es wird einmal täglich in einer Dosis von 0,5 mg eingenommen. Fingolimod reduziert die Schubrate um 54% und wirkt damit besser als die Interferone.

Fingolimod richtet sich gegen die Sphingosin-1-Phosphatrezeptoren auf den Lymphozyten, die den Austritt von antigenaktivierten Lymphozyten aus den Lymphknoten regeln. Als Folge wird deren Auswanderung aus dem Lymphknoten verhindert.

Die Nebenwirkungen ergeben sich aus der immunsuppressiven Wirkung. Dazu gehört eine Lymphopenie. In den klinischen Studien kam es unter der höheren Dosis von 1,25 mg zu zwei Todesfällen im Rahmen von Herpes-Infektionen. Außerdem kam es unter der Behandlung zu Bradykardien und AV-Blöcken, zur Hypertonie, zu Makula-Ödemen, Hautkrebs und erhöhten Leberenzymwerten.

Wegen der bisher noch unbekannten Langzeit-Nebenwirkungen ist Fingolimod in Europa nur zur Second-line-Therapie zugelassen, wenn andere Verfahren versagt haben oder nicht anwendbar sind. In der Schweiz und den USA kann es auch als Ersttherapie eingesetzt werden.

Omega-3-Fettsäuren und Vitamin D ergänzen

Dass sich mit den richtigen Mikronährstoffen die Entzündungsreaktion bei der MS hemmen lässt, zeigte Uwe Gröber aus Essen.

Durch eine entsprechend angepasste Kost lässt sich die Entzündungsbereitschaft des Körpers senken. Dazu muss vor allem eine übermäßige Aufnahme von Arachidonsäure mit tierischen Nahrungsfetten verhindert werden. Entzündungshemmend wirken Omega-3-Fettsäuren. Gröber empfahl die Einnahme von hochdosierten Fischölpräparaten. Dabei sollten 35 mg pro kg Körpergewicht täglich dauerhaft eingenommen werden.

Außerdem betonte Gröber die Bedeutung von Vitamin D und empfahl eine Blutspiegelmessung. Dieses Vitamin könne bei ergänzender Zufuhr die Schubrate senken und die Muskelfunktion verbessern. Im Tiermodell der MS und des Typ-1-Diabetes konnte das Vitamin laut Gröber sogar den Ausbruch der Erkrankung hemmen.


hel



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DAZ 2011, Nr. 14, S. 70

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