Arzneimittel und Therapie

Sativex®: erstes Cannabis-haltiges Fertigarzneimittel

Ab 1. Juli 2011 ist es so weit: Das erste Cannabinoid-haltige Medikament steht in Deutschland zur Verfügung: Sativex®, ein Oromukosalspray, der die beiden therapeutisch wirksamen Cannabinoide Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol enthält, ist zugelassen für die Zusatzbehandlung der mittelschweren bis schweren Spastik bei Patienten mit multipler Sklerose, die auf eine andere antispastische Therapie nicht angesprochen haben. Erst Mitte Mai war auch in Deutschland vonseiten des Gesetzgebers der Weg für Cannabis-haltige Medikamente frei gemacht worden.

Spastik gehört zu den häufigen Begleitsymptomen der multiplen Sklerose. Sie ist eine Folge der Demyelinisierung, die zu Läsionen an vielen Stellen in Gehirn und Rückenmark führt. Sie betrifft vorwiegend die Beine und den Rumpf, kann aber auch zu Schmerzen, Schlaf- und Blasenfunktionsstörungen, Gehbehinderung und damit zum Verlust der Eigenständigkeit führen. Bis zu 85 Prozent der Patienten werden im Verlauf der neurodegenerativen Erkrankung damit konfrontiert, etwa ein Drittel von ihnen mäßig bis schwer. Die Lebensqualität wird dadurch stark beeinträchtigt. Bislang verfügbare antispastische Wirkstoffe wie Baclofen, Gabapentin oder Clonazepam, brachten laut Prof. Dr. Jürgen Köhler, Marianne-Strauß-Klinik Kempfenhausen, keinen durchschlagenden Erfolg. Als Erfolg versprechender therapeutischer Ansatzpunkt gilt schon seit Längerem das Endocannabinoidsystem. Es trägt zur Regulierung der neuronalen und neuromuskulären Signalübertragung und zur Kontrolle verschiedener Prozesse wie Schmerzempfinden, Appetit, Stimmung, Gedächtnisleistung, Entzündungs- und Immunreaktionen bei sowie zur Signalübertragung bei Bewegungen. Das Endocannabinoidsystem ist bei Spastik drastisch verändert, denn als Folge der Neurodegeneration kommt es auch zu einer Reduktion der körpereigenen Cannabinoide. "Dies ist die Grundursache der klinischen Symptome bei multipler Sklerose", so Köhler. Er bezeichnete das neue Antispastikum mit den Inhaltsstoffen Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) als Endocannabinoid-System-Modulator mit klar definierten Inhaltsstoffen. Die Kombination sorgt dafür, dass der Patient nicht "high" wird, denn das antipsychotisch wirksame Cannabidiol bremst den psychoaktiven Effekt vom Delta-9-Tetrahydrocannabinol.

Hanfanbau


Die Inhaltsstoffe für das Oromukosalspray werden aus zwei speziell durch Klonen über das Stecklingsverfahren gezüchteten Cannabis-sativa-Spezies extrahiert. So soll sichergestellt werden, dass die Pflanzen ein einheitliches Erbgut aufweisen und somit eine einheitliche Produktion von Cannabinoiden gewähren. Die Pflanzen werden unter überwachten Bedingungen in Gewächshäusern kultiviert. Der streng kontrollierte Ernte- und Verarbeitungsprozess gewährleistet, dass jede Charge eine fixe, definierte und reproduzierbare Zusammensetzung aufweist und stets den erforderlichen Gehalt an aktiven Wirkstoffen THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) enthält. Der gewonnene Dickextrakt aus Cannabis sativa L., folium cum flore (THC-Chemotyp) und aus Cannabis sativa L., folium cum flore (CBD-Chemotyp) wird zusammen mit Ethanol, Propylenglycol und Pfefferminzöl als Geschmackskorrigenz als Spray aufbereitet.

Spastik bessert sich bei der Hälfte der Patienten

Geprüft wurde die Tetrahydrocannabinol/Cannabidiol-Kombination in einer Pilotstudie und mehreren pivotalen Studien. Zur Zulassung führte schließlich die Phase-III-Studie von Novotna et al. [Eur J Neurol 2011] mit folgendem Design: 572 Patienten erhielten in einer ersten Phase Tetrahydrocannabinol plus Cannabidiol einfachblind über vier Wochen. Die Responder wurden dann 1:1 randomisiert mit Verum oder Placebo über weitere zwölf Wochen behandelt. Definiert war die Response als Reduktion von mindestens 20% auf der numerischen Ratingskala für das Spastiksymptom mit einer durchschnittlichen Veränderung gegenüber dem Beginn der Erkrankung von -3 Punkten. 241 Patienten sprachen auf die Therapie an mit einer mittleren Reduktion auf der numerischen Ratingskala von 7 auf 3,8 Patienten. Unter einer fortgeführten THC/CHB-Therapie blieb der RS-Wert etwa konstant mit einer tendenziellen Verbesserung (-0,19), während es unter Placebo zu einem signifikanten Anstieg auf der NRS (+0,64) kam, erläuterte Köhler die Daten. Im Vergleich zum Ausgangswert zu Studienbeginn erreichten 74% der Patienten unter Verum eine Verbesserung um mindestens 30%. Dieses Ergebnis wird erreicht, obwohl es sich um "Worst-case-Patienten" handelt, die auf frühere Antispastika nicht angesprochen haben, betonte Köhler.

Keine Abhängigkeitsentwicklung

Die Patienten sollten darüber informiert werden, dass es bis zu zwei Wochen dauern kann, bis die optimale Dosierung gefunden wird und dass Nebenwirkungen während dieser Zeit auftreten können; am häufigsten sind Schwindelgefühle. Als häufigste Nebenwirkungen traten Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Schwindelgefühl oder Übelkeit auf. Eine Abhängigkeitsentwicklung gilt als unwahrscheinlich, unter anderem weil auch bei Langzeitanwendung es zu keiner Erhöhung der Dosis kam. Zudem zeigte eine Absetzstudie nach 3,5-jähriger Therapie, dass keine Absetzphänomene auftraten – die Spastik aber wieder kam.

Individuell titrieren

Das neue Cannabinoid-haltige Präparat, das zu den Betäubungsmitteln gehört und entsprechend verordnet werden muss, ist ein Oromukosalspray. 100 µl Spray (entsprechend einem Sprühstoß) enthalten 2,7 mg Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und 2,5 mg Cannabidiol (CBD). Es sollte bei jedem Gebrauch auf einen anderen Bereich der Mundschleimhaut gesprüht werden. Die Dosis kann vom Patienten über einige Tage hinweg nach einem Titrationsschema optimiert werden. Dadurch kann er die Kontrolle über die eigenen Symptome übernehmen. Allerdings: Pro Tag sollten nicht mehr als zwölf Sprühstöße appliziert werden. Die optimale Tagesdosis lag in den Zulassungsstudien bei acht Sprühstößen.

Das Oromukosalspray muss im Kühlschrank (2 °C bis 8 °C) gelagert werden. Sobald die Sprühflasche geöffnet und verwendet wird, ist die Lagerung im Kühlschrank nicht notwendig, die Umgebungstemperatur sollte aber nicht über 25 °C liegen.

Verkehrs- und verschreibungsfähig: Fertigarzneimittel mit Cannabis erlaubt!


Vor allem Schmerzpatienten und Patienten mit multipler Sklerose warten schon lange darauf: auf die Verkehrs- und Verschreibungsfähigkeit Cannabis-haltiger Medikamente. Sie können nun aufatmen. Eine entsprechende Änderung des Betäubungsmittelrechts war bereits im März dieses Jahres vom Bundeskabinett beschlossen worden. Am 17. Mai trat nun die Neuregelung in Kraft, nachzulesen in der 25. Betäubungsmitteländerungsverordnung.

Cannabis-haltige Fertigarzneimittel gehören damit zu den verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln. Mit dieser Regelung wird dafür gesorgt, dass erstmals in Deutschland Medikamente, die Cannabis enthalten, hergestellt und, nach entsprechender klinischer Prüfung und Zulassung durch das BfArM, von Ärzten verschrieben werden können. Mit Sativex® , einem THC/CBD-Kombinationspräparat ist das erste Cannabis-haltige Fertigarzneimittel auf dem Markt. Übrigens: Unverändert bleibt die Rechtslage bezüglich des Handels und des Besitzes von Cannabis zu Rauschzwecken.


Quelle

Fachinformation Sativex® , Stand Mai 2011.

Prof. Dr. Jürgen Köhler, Kempfenhausen: Pressegespräch "Neue Therapieoption für MS-induzierte Spastik", München, 25. Mai 2011, veranstaltet von der Almirall Hermal GmbH, Reinbek.


Apothekerin Dr. Beate Fessler



DAZ 2011, Nr. 22, S. 32

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