Praxis

Arzneimittel auf Rezept – für Kinder immer und kostenfrei?

Im Grundsatz gilt, dass in der Gesetzlichen Krankenversicherung mitversicherte Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs bei Verordnung von Arzneimitteln auf Rezept keine Zuzahlung leisten müssen. Gilt das in jedem Fall? Was darf alles verordnet werden? Wann hat der Apotheker eine Prüfpflicht?
Foto: ABDA
Prüfpflicht Verordnet der Arzt ein apothekenpflichtiges Arzneimittel für Kinder bis zum 12. Lebensjahr, kann dieses ohne Prüfung auf Listung in Anlage III der AM-RL abgegeben werden. Nicht abgegeben werden dürfen nicht-apothekenpflichtige Arzneimittel!

Eigentlich ist der Fall ja klar: Kinder bekommen ihre Medikamente auf einem Kassenrezept verordnet und brauchen dafür nichts zu bezahlen. In der Praxis stellt sich diese eigentlich klare Regelung aber als deutlich komplexer heraus. Dabei sind verschiedene Fälle denkbar, in denen Kinder und Jugendliche dennoch in der Apotheke zahlungspflichtig sind – oder eben auch nicht.

Zuzahlung

Werden apothekenpflichtige bzw. verschreibungspflichtige Arzneimittel auf einem Kassenrezept verordnet, brauchen Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres keine Zuzahlung zu leisten.

Dabei können apothekenpflichtige Arzneimittel nur bis zu einem Alter von 12 Jahren ("bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres") verordnet werden. Danach sind apothekenpflichtige Arzneimittel nicht mehr verordnungsfähig und müssen vom Patienten selbst bezahlt werden. Eine Ausnahme besteht für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen; dieser Sonderfall ist weiter unten erläutert.

Alle Patienten ab 18 Jahre müssen bei einer Verordnung von Arzneimitteln auf Kassenrezept ihre Zuzahlung in der Apotheke leisten (es sei denn, sie sind davon befreit).

Dies gilt auch bei der Verordnung von Kontrazeptiva auf Kassenrezept. Diese können bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres verordnet werden und sind bis zum 18. Geburtstag von der Zuzahlung befreit; von 18 bis 20 Jahre muss die Patientin aber ihre Zuzahlung entrichten.

Cave: nicht jedes apothekenpflichtige Arzneimittel ist für Kinder vom Arzt verordnungsfähig! So gelten z. B. Immunstimulanzien und Umstimmungsmittel als unwirtschaftlich und dürfen auch für Kinder unter 12 Jahren nicht zulasten der Krankenkasse verordnet werden (Anlage III AM-RL, Nr. 46). Auch die Verordnung von Antidiarrhoika ist bis auf wenige Ausnahmen (Elektrolytpräparate, Saccharomyces Boulardii) nicht möglich (Anlage III AM-RL, Nr. 12). In der Regel wird dies von der Apothekensoftware zwar angezeigt, ist aber für die Apotheke nicht relevant, da hier keine Prüfpflicht besteht.

Cave: nicht jedes vom Arzt verordnete Arzneimittel darf auch abgegeben werden! Es gibt eine ganze Reihe von nicht-apothekenpflichtigen Arzneimitteln, die nicht zulasten der Krankenkasse abgegeben werden dürfen, etwa Hustensäfte wie Phytohustil® oder Calciumpräparate wie Calcipot®. Hier hat die Apotheke allerdings eine Prüfpflicht und muss bei Abgabe mit einer Retaxierung rechnen. Die Apothekensoftware gibt über die Apothekenpflicht Auskunft. Auch viele Pflegesalben bei Neurodermitis (z. B. Excipial®, Neribas®, Bedan® u. a.) sind keine abgabefähigen Arzneimittel, sondern medizinische Körperpflegeprodukte, die manchmal auch als Medizinprodukte deklariert sind (s. u.). Ein Hinweis des Arztes auf dem Rezept wie "medizinisch nötig" oder ähnliches macht diese Produkte nicht abgabefähig.

Mehrkosten

Liegt der Preis eines Arzneimittels oberhalb des Festbetrages, müssen die Mehrkosten vom Patienten übernommen werden. Dies gilt unabhängig vom Alter des Kindes und von der Schwere der Erkrankung. Auch Vermerke des Arztes, dass nur ein bestimmtes Arzneimittel vertragen wird, haben keine Auswirkung. Dies betrifft nicht nur stark wirksame Arzneimittel wie Asthmasprays, sondern sehr häufig auch fiebersenkende Schmerzzäpfchen oder Nasentropfen. Meist hilft hier ein Wechsel auf ein mehrkostenfreies Präparat, soweit Generika verfügbar sind und der Arzt kein aut idem angekreuzt hat. Ist ein Wechsel auf ein Generikum nicht möglich (z. B. patentgeschützte Arzneimittel), sollte der Patient Rücksprache mit dem Arzt halten, denn eventuell ist ein Wirkstoffwechsel innerhalb der Festbetragsgruppe möglich. Ein Hinweis, die Mehrkosten bei der Krankenkasse geltend zu machen, ist in der Regel nicht erfolgreich, da Mehrkosten grundsätzlich vom Patienten getragen werden müssen.

Arzneimittelähnliche Medizinprodukte

Nicht alle Ärzte kennen die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie (AM-RL), in der alle verordnungsfähigen Medizinprodukte aufgeführt sind. Verordnet der Arzt ein Medizinprodukt, das nicht auf der Anlage V der AM-RL steht, müssen die Patienten dieses selbst bezahlen. Das betrifft auch Kinder! Bekanntes Beispiel sind Infectodell® bei Dellwarzen oder bestimmte Läusemittel, die nicht auf der Anlage V stehen. Will der Patient das Mittel nicht selbst bezahlen, sollte er zwecks Alternativen zum Arzt zurückgeschickt werden. Ein späteres Einreichen der Rechnung bei der Krankenkasse wird in der Regel keinen Erfolg haben. Für die Abgabe von Medizinprodukten auf Rezept gilt: die Apotheke muss nicht die Diagnose prüfen, wohl aber die grundsätzliche Abgabefähigkeit. Diese ergibt sich aus einem entsprechenden Hinweis in der jeweiligen Apothekensoftware. Eine ausführliche Darstellung der Problematik findet sich in DAZ 2011, Nr. 13, S. 38.

Jugendliche mit Entwicklungsstörungen

Durch § 34 Absatz 1, Satz 1 SGB V und die darauf fußende Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) § 12 sind nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen (Absatz 1). Diese Regelung wird jedoch in § 12 Absatz 12 der AM-RL eingeschränkt. Dort heißt es:

"Die Regelungen in Absatz 1 gelten nicht für versicherte Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und versicherte Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr."

Während der erste Teil allgemein bekannt ist, begegnet einem der zweite Teil in der täglichen Praxis eher selten. Dennoch ist es grundsätzlich möglich, dass in der Apotheke ein Rezept zur Einlösung vorgelegt wird, auf dem z. B. abschwellende Nasentropfen und ein schleimlösender Hustensaft für ein 16-jähriges Mädchen verordnet worden sind – und diese abgabefähig sind.

Eine Entwicklungsstörung wird vom Arzt festgestellt, und diese Feststellung obliegt auch nur dem Arzt, in der Regel ist dies der Kinderarzt. Es gibt weder festgelegte "Normen", ab denen eine Entwicklungsstörung vorliegt, noch einen ICD-10-Katalog oder ähnliches. Eine gewisse Richtschnur bieten die ICD-10-Ziffern (F 80 – F 89), aber auch jenseits dieser Erkrankungen kann eine Entwicklungsstörung vom Arzt diagnostiziert werden. Die dann verordneten Arzneimittel müssen auch nicht dazu dienen, die Entwicklungsverzögerung auszugleichen, sind also nicht zweckgebunden. Ein Vermerk auf dem Rezept wird nicht gefordert.

So wäre es im vorliegenden Fall durchaus möglich, eine auf den ersten Blick gesunde 16-Jährige mit abschwellenden Nasentropfen und einem Hustensaft zu versorgen, wenn der Arzt eine Entwicklungsverzögerung festgestellt hat. Das bedeutet, dass apothekenpflichtige Arzneimittel für Kinder über 12 Jahre (bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) in der Apotheke auf Rezept abgegeben werden dürfen, da die Apotheke die Diagnose grundsätzlich nicht überprüfen muss. Es ist also nicht erkennbar, ob es sich im vorliegenden Fall um einen schlichten Irrtum der Arztpraxis oder tatsächlich beim betreffenden Patienten um einen Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen handelt.


Die Antwort kurz gefasst


Nicht jede Verordnung auf Kassenrezept für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre ist zuzahlungsfrei, nicht jede darf beliefert werden.

  • Verschreibungspflichtige Arzneimittel werden zuzahlungsfrei für mitversicherte Kinder bis zum 18. Lebensjahr erstattet, es sei denn, der Preis liegt oberhalb des Festbetrags.

  • Apothekenpflichtige Arzneimittel sind nur bis zur Vollendung des 12. Lebensjahrs verordnungsfähig. Diese Regelung gilt nicht für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen. Die Apotheke hat jedoch keine Prüfpflicht!

  • Medizinprodukte sind nur verordnungsfähig, wenn sie in Anlage V der AM-RL aufgeführt sind. Es besteht Prüfpflicht!

  • Nicht-apothekenpflichtige Arzneimittel und Pflegeprodukte sind nicht verordnungsfähig. Es besteht Prüfpflicht!


Literatur

www.gesetze-im-netz: SGB V (letzter Zugriff 27. Juni 2011)

Gemeinsamer Bundesausschuss: Arzneimittelrichtlinien inklusive Anlagen I und III (letzter Zugriff 30. Juni 2011)

Hasenöhrl N: Übersicht: Kinder mit gestörter Entwicklung, MMA 2006, Ärztemagazin 1-2/2006

Heyde I et al.: Wann Medizinprodukte eine GKV-Leistung sind. Dtsch Apoth Ztg 2011, 151(13): 1568 (38)


Autorinnen
Insa Heyde, Stanislava Dicheva, Dörte Fuchs, Heike Peters
Apothekerinnen und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen in der Arbeitsgruppe "Arzneimittelanwendungsforschung", Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen


Warum nicht auf Rezept?


Apothekerinnen der Arbeitsgruppe Arzneimittelanwendungsforschung, Zentrum für Sozialpolitik, Bremen, erläutern in der DAZ regelmäßig besondere Probleme der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln für gesetzlich Krankenversicherte. Bislang sind folgende Beiträge erschienen:




DAZ 2011, Nr. 28, S. 72

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