Interpharm 2012

Gewohnheiten positiv nutzen

Wille und Gewohnheit müssen keine Widersacher sein

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier – doch muss das immer negativ sein? Prof. Dr. Julius Kuhl, Leiter des Fachgebietes Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung am Institut für Psychologie der Universität Osnabrück, zeigte in seinem Festvortrag Wege auf, wie man Gewohnheiten kreativ nutzen kann, statt sich von ihnen beherrschen zu lassen.

Prof. Dr. Julius Kuhl Wer weiß, wie Gewohnheiten und Wille oder Selbstmanagement im Einzelnen funktionieren, kann seinen Alltag effizient organisieren.

Warum ist es so schwer, von eingefahrenen Gewohnheiten zu lassen? Bereits Sigmund Freud hatte als Grund dafür erkannt, dass der größte Teil unserer Handlungen unbewusst abläuft. Dieser Anteil des "Unsteuerbaren" gleicht dem unter der Wasseroberfläche liegenden Teil eines Eisberges. Gewohnheiten bestimmen daher einen großen Teil unseres Alltages, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Als "automatisierte Routine" schleichen sie sich in unser Verhalten ein, vor allem dann, wenn wir abgelenkt oder gestresst sind. Wie stark ihre Macht ist, zeigt sich beispielsweise im Verhalten von (Klein)kindern, die vehement protestieren, wenn ihre Eltern am Zubettgeh-Ritual etwas verändern wollen.

Gewohnheiten können nützen oder schaden

Gewohnheiten sind dann positiv, wenn sie unserem Alltag Struktur und Sicherheit geben, betonte Kuhl. Wenn sie uns allerdings daran hindern, das zu tun, was wir eigentlich wollen, bremsen sie uns aus – sie werden dann zu Widersachern unseres Willens. Sie können uns auch "kontextblind" machen: Wenn Verhaltensweisen – ganz gleich ob im beruflichen oder privaten Bereich – immer nach dem gleichen Muster ablaufen, funktioniert der Blick über den Tellerrand nicht mehr, "Innovationen" werden blockiert. Wer zu stark an Regeln und Gewohnheiten gebunden ist, bekommt Angstattacken, wenn er sich nur vorstellt, einmal eine Ausnahme von der Regel zu machen. Wie Kuhl erläuterte, findet das seine extremste Ausprägung bei Zwangskranken (z. B. mit Waschzwang); Gewohnheiten sind bei ihnen zu sinnlosen, unkontrollierbaren Zwängen geworden, die Macht der Gewohnheit erdrückt sie förmlich.

Zwei Existenzformen

Auch der Philosoph Martin Heidegger hat sich mit derartigen Fragestellungen beschäftigt und Theorien entwickelt, z. B. die von den zwei Existenzformen des Seins. Das "uneigentliche Sein" ist gekennzeichnet durch Gewohnheiten, das sture Befolgen von Regeln, Gesetzen und Modetrends – ein "unpersönliches Verhalten" ("was man tut"). Dieses uneigentliche Verhalten kann bis zum Krankhaften gesteigert sein. Andererseits gibt es das "eigentliche Sein", das durch Selbstbestimmung und Selbstkongruenz gekennzeichnet ist.

Neue Forschungsergebnisse

In den letzten 20 Jahren konnten Hirnforschung und experimentelle Psychologie viele interessante Erkenntnisse zur Funktionsweise von Gewohnheiten gewinnen, berichtete Kuhl. So fand man beispielsweise bei Patienten, die unter Zwangsstörungen leiden, eine Überaktivität in einem Teil der Basalganglien, und zwar in einem subkortikalen Bereich, der Gewohnheiten unterstützt. Eine Therapie mit SSRI kann bewirken, dass diese Überaktivität wieder abklingt. Außerdem hat bei Zwangskranken der präfrontale Cortex, das heißt der Gehirnbereich, der willentliches Handeln steuert, seinen Einfluss verloren.

Kann Willenskraft trainiert werden?

Von praktischer Bedeutung ist nun die Frage, ob sich der Wille trainieren lässt. Ein solches Willenstraining könnte beispielsweise zur Verbesserung der Compliance von chronisch Kranken, die dauerhaft Medikament (z. B. Asthmasprays, Antihypertonika) einnehmen müssen, genutzt werden. Das Wichtigste bei einem Willenstraining ist, sich für das zu erreichende Ziel zu motivieren. Wiederholtes positives Denken allein reicht dabei nicht, so Kuhl. Seiner Ansicht nach machen daher auch die vielfach angebotenen "Motivationskurse" wenig Sinn. Man muss vielmehr das positive Denken mit dem "schwierigen Vorsatz" verknüpfen. Eine Übung, mit der das realisierbar ist, ist die Pendelübung (s. Kasten).


Wie motiviere ich mich selbst?

Gedankliche "Pendelübung" zur Selbstmotivation


1. Schritt: Wählen Sie einen schwierigen Vorsatz aus.

2. Schritt: Malen Sie sich aus, wie schön es ist, wenn Sie ihn umgesetzt haben.

3. Schritt: Denken Sie an die ersten Handlungsschritte auf dem Weg zum Ziel, auch wenn diese Schritte unbequem und beschwerlich sind.

4. Schritt: Wiederholen Sie zweimal Schritt 2 und 3 ("Pendeln")

Man pendelt einige Male zwischen der positiven Vorstellung, das Ziel erreicht zu haben, und den Gedanken an die (oft nicht so angenehmen) konkreten ersten Schritte, die dafür auszuführen sind, hin und her. Durch dieses Hin- und Her-Schwingen wird die Energie, die notwendig ist um die erwünschte Handlung auszuführen, in die richtige Richtung gelenkt, die Selbstmotivation funktioniert.

Dopaminerge Bahnen spielen wichtige Rolle

Was passiert nun im Gehirn, wenn wir uns selbst motivieren? Diese Vorgänge sind so komplex, dass sie neurobiologisch noch nicht bis ins letzte Detail verstanden sind. Einige Anhaltspunkte haben die Wissenschaftler schon herausgefunden: eine Willenshandlung wird durch mindestens vier dopaminerge Bahnen zwischen verschiedenen Gehirnsystemen angebahnt. Jeder dieser Bahnen kann eine Verhaltensweise zugeordnet werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei Bahnen, die mit dem rechten präfrontalen Cortex, dem Sitz des "Selbst" verbunden sind. Dieses ist in der Lage, die eigenen inneren Umstände abzubilden – ähnlich wie ein Notebook, das bei niedrigem Batteriestatus je nach Einstellung "Maßnahmen ergreift", indem z. B. der Bildschirm abgeschaltet wird, um Strom zu sparen. Das Selbst verfügt über so viel Kraft, dass es möglich wird, komplexe Gewohnheiten mit Sinn auffüllen. Kuhl sprach von "Sinnakkus", die Sinn speichern und dann weiter wirken, wenn andere sinnstiftende Systeme nicht erreichbar sind, z. B. bei Krankheit. Während das Selbst also "ein mentaler Tausendsassa, ein wahres Vernetzungsgenie" ist, besteht das "Ich" aus vielen Einzelfunktionen, die sachlich-analytisch nebeneinander ihre Aufgaben "abarbeiten", ohne dass eine Vernetzung besteht.

Vernetzungsintelligenz des Selbst therapeutisch nutzen

Wie kann nun diese Vernetzungsintelligenz des Selbst therapeutisch genutzt werden? Die amerikanische Psycho- und Ernährungstherapeutin Ellyn Sattler hat auf Basis dieser Erkenntnisse einer Methode zur Veränderung des Essverhaltens (Eating Competence Training) entwickelt, die sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen in Studien wissenschaftlich erprobt wurde. Dabei wird die Aufmerksamkeit der zu Behandelnden mehr auf das Erlaubte als auf das Verbotene gerichtet. So müssen während der Mahlzeiten nicht immer nur feste Regeln befolgt werden. Es wird auch nicht ständig thematisiert, welche Lebensmittel verboten sind. Damit wird die Macht der Gewohnheit auf intelligente Weise eingebunden statt bekämpft, konstatierte Kuhl. Ein solches Training erfordert Geduld, denn Erfolge stellen sich nicht so schnell ein wie bei einer eher "diktatorischen Methode". Aber wenn sich dann das Verhalten zu ändern beginnt, geschieht das praktisch "wie von selbst".


cb


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DAZ 2012, Nr. 11, S. 46

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