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- DAZ 13/2012
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Arzneimittelversorgung
"Drug Shortage"
* Frau Prof. Dr. Barbara Sickmüller zum Wechsel in den "Unruhestand" gewidmet.
Hersteller produziert nicht mehr – FDA ist nicht zuständig
Die US-amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA hat nach eigenen Angaben keine Möglichkeit, den so entstandenen Arzneimittelmangel einzudämmen, da sie lediglich an die Hersteller appellieren kann, ihre Medikamente zur Verfügung zu stellen; eine rechtliche Handhabe, diese dazu zu "zwingen", existiert jedoch nicht. So muss sich die FDA damit begnügen, zur Information der Patienten die "Drug Shortages" – unsystematisch – zu erfassen, da keine Verpflichtung der Hersteller besteht, einen aufgetretenen Arzneimittelengpass an die FDA zu melden. Im Jahr 2010 lag die Zahl der "Drug Shortages" bei 178 und wurde in 2011 mit geschätzten 200 Fällen noch übertroffen. Derzeit stehen ca. 111 Arzneimittel auf der FDA-Liste, darunter auch zahlreiche Antibiotika. Die FDA ist bemüht, die Engpässe zu schließen, indem sie den Herstellern ihre Unterstützung anbietet, zudem sucht sie aktiv nach anderen Unternehmen, die durch Erhöhung ihrer Produktionskapazitäten aushelfen sollen. Der aktuellste Fall von "Drug Shortage" betrifft den Wirkstoff Methotrexat, der zur Behandlung von Leukämie bei Kindern eingesetzt wird und dessen Vorräte derzeit lediglich noch für einige Wochen reichen, nachdem im November 2011 ein Hersteller seine Produktionsstätte wegen Qualitätsproblemen freiwillig geschlossen hatte und die verbliebenen Unternehmen den dadurch entstandenen Engpass nicht auffangen konnten.
Die Folgen des Arzneimittelmangels sind besonders für die Patienten fatal, wie eine Studie der American Hospital Association (AHA) vom 12. Juli 2011 zeigt. So berichteten nahezu alle der 882 befragten Krankenhäuser (99,5%), von einem Engpass bei einem oder mehreren Arzneimitteln innerhalb der letzten sechs Monate betroffen gewesen zu sein, und fast die Hälfte meldete 21 oder mehr "Drug Shortages". Diese Ergebnisse erstrecken sich auf alle Behandlungskategorien, jedoch insbesondere auf die Bereiche Chirurgie/Anästhesie, Notfallmedizin, Herzerkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Schmerzbehandlung, Infektionskrankheiten und Krebsbehandlung. In 82% der Krankenhäuser wurde als Folge der Arzneimittelengpässe die Behandlung von Patienten verzögert, und mehr als die Hälfte war daran gehindert, die Patienten mit den benötigten Medikamenten zu versorgen. Daher werden knappe Arzneimittel in drei von vier Krankenhäusern rationiert bzw. priorisiert.
Da sich die meisten Krankenhäuser inzwischen auch auf dem sogenannten "grauen Markt" ("gray market") zu deutlich erhöhten Kosten versorgen (müssen), sind die Ausgaben für Arzneimittel in allen Krankenhausbereichen stark angestiegen. Nicht untersucht ist unseres Wissens, inwieweit sich hier ein weiteres "Einfallstor" für Arzneimittelfälschungen öffnet. Die Preisregulierung des "grauen Marktes" eröffnet ein weiteres Problem der Kompetenz zwischen den involvierten Behörden FDA und "Drug Enforcement Administration" (DEA).
Gemäß der AHA-Befragung beklagten die Krankenhäuser zudem die seltenen oder gänzlich fehlenden Hinweise von Arzneimittelengpässen und die mangelnden Informationen über Gründe oder voraussichtliche Dauer der schlechten Versorgungssituation. Insgesamt bestätigen diese Ergebnisse die Resultate einer vorausgegangenen Befragung des "Institute for Safe Medication Practices" (ISMP) unter 1800 Beschäftigten im Gesundheitswesen, überwiegend Apothekern, zwischen Juli und September 2010. So beklagten über 80% der Befragten einen Mangel an Informationen über einen drohenden Arzneimittelengpass und geeignete Alternativen, 80% berichteten von Schwierigkeiten bei der Suche nach Alternativprodukten, für 70% existierte gar keine Alternative, und 64% sahen das Risiko für schädliche Folgen für die Patienten. Bei 78% der Befragten war ein deutlicher finanzieller Einschnitt aufgrund des Arzneimittelmangels zu spüren.
Neue Gesetze, wie der von US-Präsident Barack Obama initiierte "Preserving Access to Life-Saving Medications Act of 2011” und der durch die Kongressabgeordneten John Carney und Larry Bucshon initiierte "Drug Shortage Prevention Act 2012”, sollen der FDA eine bessere Handhabe des Problems der Drug Shortage, insbesondere hinsichtlich der möglichst frühzeitigen Erkennung und Bekämpfung von Engpässen, ermöglichen.
Globalisierung – auch für Deutschland ein Problem
Es gibt leider zahlreiche Anhaltspunkte, wonach auch die deutsche Arzneimittelversorgung auf eine den USA vergleichbare Situation von Lieferengpässen oder Arzneimittelmangel zusteuern könnte. So hat der in den USA bekannte Globalisierungstrend auch schon in Deutschland Einzug gehalten. Laut einer Stellungnahme der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) kommen mittlerweile vier von fünf arzneilichen Wirkstoffen aus China oder Indien, und die Vorfälle mit verunreinigtem Heparin haben gezeigt, wie problematisch die Überprüfungsverfahren bei asiatischen Herstellern sein können. Auch Deutschland begibt sich hinsichtlich der Arzneimittelversorgung in eine enorme Abhängigkeit vom Ausland, da z. B. fast alle der in Deutschland verbrauchten Antibiotika in China produziert werden und bei Ausgangsstoffen wie Cortison, Metformin oder Amlodipin eine ähnliche Entwicklung zu beobachten ist. Insbesondere das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) – aber auch die vorangegangenen Gesundheitsreformen und AMG-Novellen – tragen dazu bei.
Problemfall Rabattverträge
Da sind zum einen die Rabattverträge. In der Regel erhält diejenige Firma, die den niedrigsten Preis anbietet, den Zuschlag. In diesem System werden jedoch absurde und für die flächendeckende Arzneimittelversorgung höchst problematische Szenarien wie dieses produziert: In der Ausschreibung der AOK für den Betablocker Metoprololsuccinat hatte das Pharmaunternehmen Betapharm im Juni 2011 den Zuschlag erhalten, obwohl es dieses Arzneimittel bis dato gar nicht im Sortiment hatte. So war Betapharm mit Inkrafttreten des Rabattvertrags zum 1. 6. 2011 nicht lieferfähig, erst Mitte September 2011 konnte der spanische Lohnhersteller das Arzneimittel endlich nach Deutschland liefern. Aufgrund des Lieferengpasses in den vier dazwischen liegenden Monaten mussten die Apotheken, denen die fehlende Lieferfähigkeit des Herstellers erst verspätet mitgeteilt worden war, anstatt des rabattierten Arzneimittels kurzfristig Alternativpräparate abgeben. Zugleich wurden im Juni und Juli 2011 rund 30.000 Rezepte fälschlicherweise mit der PZN des nicht lieferfähigen Betapharm-Produkts bedruckt, worauf die AOK den betreffenden Apothekern Strafen und Anzeigen wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrug bei der Staatsanwaltschaft androhte.
Dieser Fall offenbart, dass sich ein Hersteller bis zum Zuschlag mit der Produktion Zeit lassen kann, denn die Erstattung für die Medikamente erhält er nach Erteilung des Zuschlags auch dann, wenn er erst mit Verzögerung liefert. Betapharm-Geschäftsführer Michael Ewers räumte Ende August 2011 ein, dass aufgrund der Neueinführung des Produkts Metoprololsuccinat bereits anfänglich mit einer Lieferverzögerung von drei Monaten zu rechnen war.
Das System der Rabattverträge kann noch mit einer weiteren paradoxen Ausprägung aufwarten: Das Originalpräparat Zyprexa® (Olanzapin) hatte im September 2011 den Patentschutz eingebüßt, womit eigentlich der Weg für einen Preiswettbewerb mit Generika geebnet sein müsste. Allerdings zwingen mehrere Rabattverträge, die der Originator mit unterschiedlichen gesetzlichen Krankenkassen kurz vor dem Ablauf des Patentschutzes geschlossen hat, die Apotheken in Deutschland, derzeit weiterhin das jetzt patentfreie Original – es kostet je nach Packungsgröße im Januar 2012 bis zu 973 Euro (Apothekenverkaufspreis) – abzugeben, obgleich Generika bereits mehr als 80% günstiger sind. Auf diese Weise gelingt es dem Pharmaunternehmen, das Einsparungsziel der Rabattverträge erfolgreich zu unterlaufen.
Problemfall "Frühe Nutzenbewertung"
Des Weiteren beeinflusst das mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) geschaffene Kontrollinstrument der "Frühen Nutzenbewertung" gemäß § 35a SGB V massiv die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit innovativen Arzneimitteln. Obwohl die "Frühe Nutzenbewertung" erst Anfang 2011 begann, häufen sich schon jetzt die Forderungen von Politikern, Ärzten und Wissenschaftlern, die Regelungen zu überarbeiten.
In diesem Verfahren ist es Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), neu zugelassene Arzneimittel dahingehend zu überprüfen, ob sie einen Zusatznutzen aufweisen. Als Gutachter beauftragt er dabei das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG). Je nachdem, ob das Votum des G-BA positiv oder negativ ausfällt, finden anschließend Preisverhandlungen zwischen dem Hersteller und dem GKV-Spitzenverband statt, oder es erfolgt die Eingruppierung in eine Festbetragsgruppe. Dadurch wird es nicht mehr den Pharmaunternehmen überlassen, die Preise für ihre innovativen Medikamente selbst zu bestimmen.
Neben den befürchteten Gewinneinbußen bringt das Verfahren einen hohen bürokratischen Aufwand für die Firmen mit sich, da bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt wissenschaftliche Daten zum Beleg des Zusatznutzens vorgelegt werden müssen. Wie sich bereits gezeigt hat, scheuen einige Unternehmen vor diesen Anforderungen zurück oder zweifeln an der Auswahl der "zweckmäßigen Vergleichstherapie" durch den G-BA: So hat im August 2011 zunächst Novartis seinen Blutdrucksenker Rasilamlo® (Aliskiren-Amlodipin-Kombination) nach nur vier Monaten vom Markt genommen. Anschließend entschieden Boehringer Ingelheim und der amerikanische Partner Eli Lilly, dass sie ihr orales Antidiabetikum Trajenta® (Linagliptin) den deutschen Patienten nicht zur Verfügung stellen werden. So bleibt den deutschen Patienten und Ärzten erstmals der Zugang zu neuen Therapien, deren Wirksamkeit im Zulassungsverfahren belegt wurde, verwehrt. Selbstverständlich darf jedes Pharmaunternehmen nach betriebswirtschaftlichen Abwägungen entscheiden, ob und wo es seine Produkte auf den Markt bringt. Wenn andere Firmen allerdings dem Beispiel folgen sollten, stellt sich die Frage, ob diese Auswirkung des AMNOG für die Patientenversorgung wünschenswert ist.
Innerhalb der erst kurzen Zeit, in der die "Frühe Nutzenbewertung" durchgeführt wird, wurden schon mehrere Entscheidungen des IQWiG kritisch kommentiert: Mit "Überraschung und Unverständnis" hat die Eisai GmbH die Bewertung des IQWiG zur Kenntnis genommen, wonach für das Zytostatikum Eribulin (Halaven®) kein dokumentierter Zusatznutzen belegt ist. In seiner Bewertung urteilt das IQWiG, es gebe "Anhaltspunkte dafür", dass Eribulin das Leben der Patientinnen verlängern könne. Allerdings sei unklar, "um wie viele Wochen oder Monate es sich dabei handeln kann". Die Kategorie "Anhaltspunkte" hatte das Institut erst im Herbst vorigen Jahres in seinen Methodenkatalog aufgenommen. Das IQWiG betrachtete zwei nachträglich definierte Patientengruppen separat. Aus der Beurteilung der Daten nicht vordefinierter Subgruppen spricht das Institut Eribulin einen Zusatznutzen ab, ein aus Sicht des Herstellers wissenschaftlich fragwürdiges Vorgehen. Die endgültige Entscheidung über den Zusatznutzen von Eribulin wird der G-BA voraussichtlich im April 2012 fällen.
Anhand eines anderen Beispiels zeigt sich die politische Dimension der Nutzenbewertung: "Orphan Drugs" (OD) sind Arzneimittel, die für seltene und schwerwiegende Leiden ausgewiesen und nicht für die Behandlung von großen Patientengruppen vorgesehen sind. Es gibt in der Regel in der entsprechenden Indikation keine zugelassene Therapiealternative, die einen Vergleich und damit einhergehend eine Aussage über den Zusatznutzen im Vergleich zu dieser Therapie ermöglichen würde. Aus diesem Grund hat sich die schwarz-gelbe Regierungskoalition bereits vor Inkrafttreten des AMNOG in einem Änderungsantrag für eine Ausnahmeregelung hinsichtlich der OD ausgesprochen. G-BA und IQWiG vertraten jedoch schon während des Gesetzgebungsprozesses die Ansicht, dass auch bei OD eine Nutzenbewertung erforderlich sei.
Als Kompromiss wurde eine gesetzliche Sonderregelung geschaffen: So müssen sich OD zwar auch der "Frühen Nutzenbewertung" unterziehen, allerdings gilt gemäß § 35a Abs. 1 S. 10, 2. HS. 2. Alt. SGB V der medizinische Zusatznutzen durch die Zulassung als belegt, und es brauchen, aufgrund fehlender Therapiealternativen, keine Angaben zum medizinischen Nutzen oder Zusatznutzen gemacht zu werden. Dies gilt für jedes OD, mit dem innerhalb von zwölf Kalendermonaten ein Umsatz von weniger als 50 Mio. Euro erzielt wird.
Diese sozialrechtliche Privilegierung gemäß SGB V wird von einer untergesetzlichen Norm der Verfahrensordnung des G-BA (G-BAVerfO), nach der der G-BA lediglich "weitere Einzelheiten" zur Nutzenbewertung festlegen kann, unzulässig eingeschränkt: So verlangt der G-BA gemäß § 12 Nr. 1 S. 2, 2. HS. G-BAVerfO vom pharmazeutischen Unternehmer – unter Abweichung von den Maßgaben des § 35a SGB V – einen Nachweis zum Ausmaß des Zusatznutzens und überschreitet bei der Umsetzung dieser höchstwahrscheinlich rechtswidrigen Vorschrift seine Kompetenzen. Bei der Bewertung des als OD zugelassenen Pirfenidon (Esbriet®) bestätigte das IQWiG zwar, dass es keine zugelassene und zweckmäßige medikamentöse Therapiealternative zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit idiopathischer Lungenfibrose gibt, trotzdem attestierte es in seinem Gutachten dem Wirkstoff keinerlei Zusatznutzen. In diesem Fall ist der G‑BA dem Gutachten des IQWiG nicht gefolgt, sondern hat einen "nicht quantifizierbaren Zusatznutzen" des Arzneimittels anerkannt. Zugleich hat der Vorsitzende des G‑BA, Rainer Hess, angekündigt, der G-BA werde das IQWiG künftig nicht mehr mit der Bewertung von OD beauftragen.
Fazit
Wenn man die Entwicklung in den USA betrachtet und die Tendenzen hochrechnet, die unmittelbar auf die Gesetzesnovellierungen des deutschen Gesundheitssystems der letzten Jahre zurückgeführt werden können, mutet die Äußerung des Bundesgesundheitsministers Daniel Bahr, dass er die flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln nicht in Gefahr sieht, recht realitätsfern an. Wir möchten mit unserer exemplarischen Darstellung an die Politik appellieren, dass sie die Gefahr der "Drug Shortage", die in den USA schon besteht, für Deutschland erkennt und ihr mit qualifizierten Maßnahmen entgegensteuert. Eine sachgerechte Überarbeitung der Bestimmungen zu den Rabattverträgen, des AMNOG und zu den Kompetenzen des G-BA sowie des IQWiG erscheint den Autoren dafür erforderlich.
Literatur bei den Autoren
Autoren
RAin Dipl.-Jur. Janna K. Schweim, M. Sc., Köln
Prof. Dr. Harald G. Schweim, Bonn
Drug Regulatory Affairs, Universität Bonn,
Gerhard-Domagk-Str. 3, 53121 Bonn
Zum WeiterlesenCord Willhöft, Christine Lietz: Die frühe Nutzenbewertung von Orphan Drugs nach § 35a SGB V. Arzneimittel & Recht 1/12, S. 19 – 23. Eine Diskussion über die "Frühe Nutzenbewertung" mit Experten des G-BA, der pharmazeutischen Industrie und des GKV-Spitzenverbandes fand am 10. März auf der Interpharm 2012 in Frankfurt statt. Bericht in: DAZ 2012, Nr. 11, S. 56 – 60. Zur abgeschlossenen Nutzenbewertung von Pirfenidon (Esbriet®) und Tafamidis Meglumin (Vyndaqel®): DAZ 2012, Nr. 12, S. 41 f. Bis jetzt hat der G-BA sechs Nutzenbewertungsverfahren abgeschlossen. Website: www.g-ba.de > Frühe Nutzenbewertung (§ 35a SGB V) > Übersicht der Wirkstoffe |
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