Kongress

Wundbehandlung: Neue Leitlinie mit vielen Fragezeichen

15. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung

Akute Wunden infolge eines Unfalls oder chirurgischen Eingriffs heilen mithilfe der Selbstheilungskräfte des Menschen meistens in kurzer Zeit. Chronische Wunden hingegen sind Symptome einer zugrunde liegenden Erkrankung und heilen erst, wenn diese behoben wurde. In der alternden Gesellschaft wächst die Anzahl von Patienten mit chronischen Wunden von Jahr zu Jahr. Diese und andere Probleme hat die Deutsche Gesellschaft für Wundforschung und Wundheilung (DGfW) auf ihrem 15. Jahreskongress erörtert, der vom 14. bis 16. Juni in Kassel stattfand.
Foto Smith + Nephew

Das Thema des diesjährigen Kongresses waren "Leitlinien und Qualitätsstandards in der Wundheilung und Wundbehandlung"; ein weiterer Schwerpunkt war die Präventivmedizin. Nahezu alle Experten des deutschsprachigen Raums waren vertreten und berichteten von neuesten Erkenntnissen aus der zumeist klinischen Forschung. Zudem boten verschiedene, oft praktisch orientierte Seminaren und Industriesymposien den Teilnehmern Gelegenheit, ihre Fachkenntnisse aufzufrischen oder zu vertiefen. Das Interesse war riesig – alle Kurse waren voll besetzt.


Internet


http://kongress.dgfw-ev.de/2012

Wachstumsfaktoren – ein zweischneidiges Schwert

Dipl.-Biol. Vera Grotheer aus der Unfall- und Handchirurgie des Universitätsklinikums Düsseldorf berichtete über In-vitro-Versuche zur Stimulation der Angiogenese humaner Endothelzellen durch neuartige Kieselgelwundauflagen. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die starke Forcierung der Angiogenese durch Wachstumsfaktoren (hier indirekt angeregt durch den Fremdkörper Kieselgel in der Wunde) auch Nachteile haben kann, denn Wachstumsfaktoren können auch Karzinombildung und -wachstum unterstützen. Dies war für Regranex® (Wirkstoff Becaplermin) gezeigt worden, worauf zuerst in den USA, später auch in Deutschland vor dessen Anwendung gewarnt wurde [1, 2] und Mitte 2011 europaweit dessen Vertrieb eingestellt wurde. Ähnliches gilt für den Wachstums- und Differenzierungsfaktor Activin [3, 4]. Dass Geweberegeneration und Malignombildung zusammenhängen können, hatte erstmals Rudolf Virchow beobachtet, der schon 1863 schrieb, dass chronische Hautschäden und frühere Verletzungen die Entstehung von bösartigen Tumoren begünstigen [3].

Neue S3-Leitlinie

Die Wundheilung ist ein komplexer Vorgang, dessen Förderung oft auch Nebenwirkungen provoziert. Auf der Basis von publizierten klinischen Studien hat die DGfW nun die S3-Leitlinie "Lokaltherapie chronischer Wunden bei Patienten mit den Risiken periphere arterielle Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus, chronische venöse Insuffizienz" vorgelegt [5]. Mit der zurzeit höchsten verfügbaren Evidenz bewertet sie verschiedene Therapieformen und empfiehlt sie gegebenenfalls (siehe Tab.). Naturgemäß befassten sich viele Vorträge und Diskussionen mit der neuen S3-Leitlinie.

Im Symposium "Evidenzbasiertes Wissen" zur Leitlinie stellten Dr. Mike Rüttermann, Plastische Chirurgie der Universität Groningen, Dr. Sven Gregor, Gefäßchirurg in Düsseldorf, Dr. Jörg Bunse, Sana Klinik Berlin, und Dr. Andreas Meier-Hasselmann, Städtisches Klinikum München, die Ergebnisse einzelner Arbeitsgruppen der Expertenrunden der S3-Leitlinie vor. Die mit großem Aufwand betriebene Auswertung zu den verschiedenen Themenbereichen der Wundbehandlung ergab leider die magere Erkenntnis, dass die Evidenz vieler Therapieansätze – neuer wie altbewährter – gering oder fraglich ist (s. Tab.).

Hyperbare Sauerstofftherapie

Einzig der Taucharzt Dr. Wilhelm Welslau, Wien, durfte eine hohe Evidenz für die Wundheilung bei der Ganzkörperdruckkammertherapie (hyperbare Sauerstofftherapie, HBO) vorstellen, die durch den hohen Sauerstoffpartialdruck im Blut die Sauerstoffversorgung der häufig anoxischen Gewebe bei chronischen Wunden verbessert. Mit dem Evidenzlevel B (Empfehlung: sollte angewendet werden) schnitt diese Therapieform am besten von allen in der S3-Leitlinie beschriebenen Verfahren ab. Für Abwandlungen der aufwendigen HBO-Therapie in begehbaren Druckkammern zu nur lokalen "Überdruckverbänden", in denen ausschließlich das betroffene Gliedmaß mit Sauerstoff begast wird, gab es keine vergleichbare positive Empfehlung.

Noch viel Ungewissheit

Zu vielen Methoden wurden keine qualitativ geeigneten Daten in der Fachliteratur gefunden, die den Nutzen oder Schaden belegen oder widerlegen. Publizierte Studien mit statistisch signifikanten Ergebnissen entbehren oft der nötigen Qualität und stehen daher im Verdacht der unbewussten oder bewussten Beeinflussung der Ergebnisse. Evidenzbasierte Empfehlungen gab es daher selten, häufiger aber eine positive Wertung der Fachmediziner aufgrund positiver Erfahrungen (GCP).

So war selbst eine Empfehlung für einen regelmäßigen Verbandwechsel nur durch eine Expertenmeinung im Konsens zu erlangen – evidenzbasierte Literatur existiert dazu nicht. Auch die heute allenorten als Goldstandard gesetzte "feuchte Wundbehandlung" konnte nicht bei allen Ausprägungen chronischer Wunden mit ausreichender Evidenz belegt werden. Das sollte allerdings nicht Wasser auf die Mühlen der "trockenen Wundheiler" sein. Vielmehr empfiehlt man einen dem physiologischen feuchten Wundmilieu angenäherten Feuchtigkeitsgrad und den Einsatz von Verbandmitteln, die dieses erreichen (stark vereinfachend: feuchte Wunde > saugfähige Binde; trockene Wunde > anfeuchtende Auflage).

Selbst für grundlegende Vorgänge wie die Wundreinigung als Vorbereitung einer Wundheilung blieb nach intensivem Literaturstudium unklar, ob diese für den Patienten oft schmerzhafte Methode notwendig, hilfreich oder gar schädlich ist. Das gilt auch für das häufig durchgeführte chirurgische Débridement, also das radikale Abtragen von avitalem Gewebe und Belägen bis in intakte anatomische Strukturen. Dabei ist es gleichgültig, ob dieses mit einem Skalpell, einem scharfen Löffel, einer Ringküvette oder mittels Wasserstrahldruck durchgeführt wird. Das chirurgische Débridement wurde deshalb nur mit der Empfehlung "GCP" (keine Bewertung, aber häufig und mit positiven Erfahrungen klinisch angewendet) versehen.

Manuka-Honig und Fliegenmaden

Für die Behandlung mit Honig fand Prof. Dr. Dissemont, Uniklinik Essen, deutliche Worte in einem unterhaltsamen und durch Wissen glänzenden Vortrag. Die seit Jahrhunderten, vermutlich schon von den alten Ägyptern verwendete Wundauflage mit Honig ist bei chronischen Wunden ungeeignet und erhielt in der S3-Leitlinie, wie auch Becaplermin, die Empfehlung "B negativ" (sollte nicht angewendet werden). Die DAZ berichtete hierzu letztes Jahr [6]. Manuka-Honig in Wundauflagen verursacht vermutlich aufgrund des hohen Gehalts an mikrobizidem Methylglyoxal (MGO) häufig Schmerzen. MGO bindet an schmerzleitende Neuronen und macht sie überempfindlich [7].

Dissemont berichtete auch von seinen guten Erfahrungen mit der Madentherapie, wobei er sich scherzhaft wunderte, dass Wunden nach einer Behandlung mit Maden in (rechteckigen) BioBags ebenfalls rechteckig sind. Der Hersteller der BioBags berichtet in seiner Produktbeschreibung, dass bei der Anwendung der Larven in Bags sehr häufig Schmerzen, und häufig Blutungen auftreten. Für die Verwendung der freien Larven hingegen sind beide Effekte mit "selten" angegeben.


Quellen

[1] Waknine Y. Diabetic Ulcer Gel Gets Black Box Warning; www.medscape.com, 2008-09-06.

[2] Rote Hand Brief 2010-03-15, Janssen-Cilag, Kontraindikation für Regranex® (Becaplermin) bei Patienten mit malignen Erkrankungen; www.akdae.de.

[3] Antsiferova M, et al. Activin enhances skin tumourigenesis and malignant progression by inducing a pro-tumourigenic immune cell response. In: Was Hautwunden und Krebs gemeinsam haben, 13.12.2011 ETH Zürich; www.ethlife.ethz.ch/archive_articles/111213_activin_per.

[4] Heuer L. Chronische Wunden – ein Schutzmechanismus? 20.12.2011, www.ethlife.ethz.ch/archive_articles/111213_activin_per.

[5] S3-Leitlinie, Registernummer 091 – 001; www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/091-001.html.

[6] Heuer D, Heuer L, Saalfrank V. Manuka-Honig. Dtsch Apoth Ztg 151;2011:2982 – 2983.

[7] www.deutsche-apotheker-zeitung.de/spektrum/news/2012/05/21/methylglyoxal-verstaerkt-den-schmerz/7284.html.

[8] Heuer H, Heuer L. Pain release drugs in maggot therapy – Uncover the physiological interaction, 8th International Conference on Biotherapy, 11. – 14. Nov. 2010, Los Angeles.


Autoren
Heike Heuer und Lutz Heuer, Dormagen



DAZ 2012, Nr. 26, S. 86

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