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Arzneimittel-Sicherheit
Antihistaminika-Alarm
Das Positionspapier
Verschreibungsfreie Antihistaminika der ersten Generation
Positionspapier der Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter (KASK) der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)*
Problematik
Der wirkliche Stellenwert der Antihistaminika (H1-Antagonisten) der ersten Generation (AH1G) in ihrer Verwendung als Hypnotika und Sedativa bei Kindern ist derzeit nur sehr schlecht einzuschätzen, da diese "long established products" [z. B. Doxylamin, Diphenhydramin, Dimenhydrinat (Diphenhydramintheophyllinat), Promethazin] meist rezeptfrei in den Apotheken erhältlich sind. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Wirkstoffgruppe als Antiemetika und in Kombination mit anderen Wirkstoffen in Husten und Erkältungsmitteln weit verbreitet ist. Da ihre sedierende Wirkung allgemein bekannt ist, kann man davon ausgehen, dass diese Produkte auch zur Beruhigung bzw. Ruhigstellung außerhalb ihres Zulassungsbereichs ("off label use") eingesetzt werden. Eine Verordnung von AH1G scheint bevorzugt – noch vor Benzodiazepinen und Chloralhydrat – als Hypnotika und Sedativa auch durch Haus- und Allgemeinärzte zu erfolgen [12].
Nicht unerwähnt sollte in diesem Zusammenhang bleiben, dass mit Beginn der 1950er Jahre noch überwiegend von unbeabsichtigten (akzidentiellen) Überdosierungen in der pädiatrischen Literatur berichtet wurde, während ab dem Jahr 2000 mehrere Publikationen über beabsichtigte Überdosierungen mit Todesfolge unter der Behandlung mit AH1G und AH1G-haltigen Husten- und Erkältungsmitteln überwiegend in der forensischen Literatur erschienen [2, 4, 7, 9, 15, 16].
Pädiatrische Pharmakologie
Neben der antihistaminischen und antiallergischen Wirkung entfalten AH1G zusätzlich zentralnervöse und anticholinerge (antimuskarinerge) Wirkungen. Während die Hemmung des peripheren H1-Rezeptors die allergische Symptomatik unterdrückt, verursachen diese gut liquorgängigen Antihistaminika durch die Blockade der zerebralen H1-Rezeptoren zentralnervöse Symptome. Dadurch tritt bereits bei üblicher Dosierung der ausgeprägte und lang andauernde (> 24 h) sedierende Effekt ein, der bei älteren Kindern zu Tagesmüdigkeit, Benommenheit, Konzentrationsstörungen und letztendlich bei toxischer Dosis zu Halluzinationen und Krämpfen führen kann. Bei Säuglingen ist dagegen vermehrt mit zentralen Atemstörungen wie Schlafapnoen und im ungünstigsten Fall mit einem kardiorespiratorischen Kollaps zu rechnen (s. Fachinformation und publizierte Fallberichte in der forensischen Literatur [2, 15, 16]). Die anticholinerge, atropinähnliche (Neben-)Wirkung ist nicht nur für die erwünschte antiemetische Wirkung, sondern auch für die häufig zu beobachtenden unerwünschten Effekte Mundtrockenheit, Sekreteindickung (cave: obstruktive Atemstörung!), Blasenentleerungsstörung, Obstipation, tachykarde Herzrhythmusstörung (QT-Zeit-Verlängerung) und u. U. für das zentrale anticholinerge Syndrom verantwortlich zu machen. Offensichtlich sind nach Angabe der Fachinformation besonders Kinder bei einer Dimenhydrinatvergiftung durch diese zentrale Vagusblockade lebensbedrohlich gefährdet. Aus diesen Gründen wurden für die Behandlung von Allergien die AH1G weitgehend durch neuere, nichtsedierende H1-Rezeptor-Antagonisten ersetzt. Aber wegen der sedierenden und allgemein zentralnervös dämpfenden und damit auch antiemetischen Eigenschaft sind diese Altsubstanzen für Kinder in den verschiedenen Darreichungsformen weiterhin verfügbar. So können z. B. Doxylamin als Sedaplus®-Saft oder als Mereprine®-Sirup zur Behandlung von Unruhe, Erregungszuständen und Schlafstörungen und Diphenhydramin sowie Dimenhydrinat mit der ausgeprägtesten, antimuskarinergen Wirkung als Emesan®-Kinderzäpfchen bzw. als Vomex A®-Saft und Vomacur/Vomex®-Suppositorien zur symptomatischen Behandlung von Übelkeit und Erbrechen bereits ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ohne Rezept in den Apotheken abgegeben werden. Selbst in harmlos erscheinenden pflanzlichen Säften zur Sedierung sind AH1G beigemischt, z. B. Doxylamin im Gemisch mit Extrakten von Weißdorn, Mistel, Passionsblume, Hopfen und Hafer in dem Sedativum Curatan nach E. Gallner, Stern-Apotheke, Münster. Aber auch in rezeptfreien Husten- und Erkältungssäften findet man die AH1G, z. B. Doxylamin zusammen mit Ephedrin, Dextromethorphan und Paracetamol in WICK MediNait®, Erkältungssirup für die Nacht. In diesen Kombinationsprodukten wird das bereits ungünstige Nutzen-Risiko-Verhältnis der AH1G-Monosubstanzen durch die Komedikation mit weiteren zentralwirksamen Substanzen, wie Dextromethorphan und Ephedrin, noch zusätzlich ungünstig beeinflusst [7]. Da die AH1G durch die N-Demethylierung im CYP2D6-Stoffwechselweg enzymatisch abgebaut werden, besteht möglicherweise noch zusätzlich die Gefahr, dass bei der Komedikation mit Dextromethorphan und Ephedrin, alles Substrate, die durch den CYP2D6-Stoffwechselweg O-demethyliert bzw. 4-hydroxyliert werden, die zentrale Wirkung durch die gegenseitige Hemmung im Abbau verstärkt wird. Weiterhin kommt zu dieser potenziellen Arzneimittelinteraktion komplizierend hinzu, dass CYP2D6 einen ausgeprägten genetischen Polymorphismus aufweist und im ersten Lebensjahr einem funktionellen Reifungsprozess unterworfen ist [14].
Angesichts dieser vielfältigen offenen Fragen zur Pharmakokinetik und Pharmakodynamik der AH1G muss man sich fragen, welches Datenmaterial zur Wirksamkeit und Verträglichkeit beim Abschluss der Nachzulassung im Jahre 2005 dem BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) von den Herstellern vorgelegt wurde. In den Jahrzehnten zuvor hatte man aus missverstandener Rücksichtnahme auf die Durchführung von aussagekräftigen Zulassungsstudien bei Kindern – und hier insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern – verzichtet. Zum jetzigen Zeitpunkt, in dem die Hersteller nicht mehr in der Pflicht zu stehen scheinen, ist es vielmals schwieriger, belastbare Hinweise oder gar Beweise zur Bedenklichkeit dieser Wirkstoffgruppe bei Kleinkindern in Deutschland zusammenzutragen. Dies gilt insbesondere für den missbräuchlichen Einsatz. Möglicherweise sind diese AH1G-haltigen Hustenmittel ebenso bedenklich wie die clobutinolhaltigen Hustenstiller, die über Jahrzehnte als gut verträglich galten, bis sie 2008 nicht aufgrund epidemiologischer Erhebungen, sondern aufgrund pharmakologischer Überlegungen prophylaktisch vom Markt genommen wurden.
Die Ein- bis Dreijährigen sind aus zweierlei Gründen vor diesen AH1G-haltigen Produkten besonders zu schützen:
1. In dieser frühkindlichen Entwicklungsphase reagieren Kinder allgemein auf ZNS-wirksame (ZNS: Zentralnervensystem) Wirkstoffe [z. B. Morphin, Nicotin, GABAerge (GABA: Gammaaminobuttersäure) Antikonvulsiva] gesteigert mit Atemdepression und Krämpfen oder mit paradoxen Reaktionen wie Unruhe und Erregung sowie mit einer gesteigerten Neurotoxizität mit Spätfolgen für die weitere zerebrale Entwicklung. Erst jenseits des 2. Lebensjahrs, wenn die von kaudal nach rostral fortschreitende zerebrale Entwicklung ihren Höhepunkt überschritten hat, nimmt diese erhöhte Vulnerabilität ab [11].
2. Diese Altersgruppe ist wegen ihrer hohen Prävalenz von Atemwegsinfektionen (6 pro Jahr), die meist von Unruhe, Husten und Erbrechen begleitet sind, am stärksten mit AH1G-haltigen Arzneimitteln exponiert [10].
Während die sedierende Wirksamkeit gut belegt ist, ist der Nutzen bezüglich der symptomatischen Behandlung der Atemwegsinfekte wissenschaftlich eher widerlegt als belegt [MHRA-Recherche (MHRA: "Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency") [8]]. Ähnliches trifft für die Antibiotikaverordnungen zu, die häufig (80%) nicht indiziert sind [10]. Beide Phänomene sind offensichtlich durch die enorme Erwartungshaltung seitens der unter Druck stehenden Eltern verursacht. Auch in Zukunft wird es kaum zu umgehen sein, dass nach sorgfältiger Abwägung und unter besonderen Auflagen diese Gruppe der Antihistaminika wegen ihrer sedierenden und antiemetischen Wirkung bei Kindern eingesetzt wird. Für die Erwachsenen werden allerdings die AH1G wegen ihres ungünstigen Nebenwirkungsprofils nicht mehr empfohlen [1].
In den letzten Jahren mehren sich die Bedenken gegenüber dem Einsatz AH1G-haltiger Husten- und Erkältungsmittel besonders bei Kleinkindern. So wird zunehmend gefordert, aufgrund sorgfältiger Anamneseerhebung gezielt toxikologische Untersuchungen vorzunehmen und neben der unbeabsichtigten auch die beabsichtigte Überdosierung in Erwägung zu ziehen. In den USA mussten die CDC ("Centers of Disease Control and Prevention") bei den Berichten über Notaufnahmen von Vergiftungsfällen mit Husten und Erkältungsmitteln in 2008 immerhin bei fast 50% der betroffenen Kinder unter zwei Jahren als naheliegendste Erklärung für die Intoxikation von einer beabsichtigten Überdosierung durch den Betreuer ("caregivers") ausgehen (MHRA-Recherche [8]). Zurzeit werden in Deutschland leider nur im Ausnahmefall bei plötzlichem Kindstod (SIDS) und anderen ungeklärten Todesursachen im Säuglings- und Kleinkindalter toxikologische Untersuchungen, die auch die AH1G-haltigen-Hustenmittel mit einbeziehen, vorgenommen, obwohl in einem hohen Prozentsatz respiratorische Infektionen mit Hustenproblemen vor dem Tod angegeben werden [5]. Diese toxikologische Unterbewertung mag auch dadurch bedingt sein, dass diese seit Langem leicht verfügbaren OTC-Produkte (OTC: "over the counter") als harmlos betrachtet wurden und offensichtlich auch noch werden. In der Tat liegt in Deutschland auch nur wenig belastendes Datenmaterial vor. Es kann aber mit Sicherheit angenommen werden, dass neben der geringen toxikologischen Untersuchungsrate in der Gerichtsmedizin auch mit einem hohen Prozentsatz an "under-reporting" dieser leicht verfügbaren "long established products" bei den für Arzneimittelsicherheit zuständigen Institutionen zu rechnen ist.
Schlussfolgerung und Handlungsvorschläge
Es liegen berechtigte Sicherheitsbedenken gegenüber der rezeptfreien Abgabe von AH1G-haltigen Arzneimitteln für Kinder und Jugendliche vor (s. auch das hohe Suizidpotenzial für Jugendliche, [6]). Die französische Arzneimittelbehörde AFSSPS [3] beschloss daher, dass AH1G-haltige Arzneimittel wegen des ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses bei Säuglingen und Kleinkindern als kontraindiziert zu gelten haben. Selbst zur antiemetischen Behandlung im Rahmen einer infektiösen Gastroenteritis kann keine nennenswerte klinische Besserung mit Dimenhydrinat erzielt werden [13]. Auch auf den Vertrieb von AH1G-haltigen Kombinationsprodukten gegen Husten- und Erkältungskrankheiten bei Kindern unter 4 (6) Jahren sollten die Hersteller – ähnlich wie in den USA – verzichten.
Literatur
[1] Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) (2009) Arzneimittelverordnung. AkdÄ, Berlin
[2] Baker AM, Johnson DG, Levisky JA et al (2003) Fatal diphenhydramine intoxication in infants. J Forensic Sci 48:425 – 428
[3] Commission Nationale de Pharmacovigilance at Afssaps (2010) Pharmacovigilance – Compte rendu de la réunion de 25. Afssaps, Saint Dennis, http://ansm.sante.fr/var/ansm_site/storage/original/application/0cf9c1dcc65b0dfdcfe0ece0b13f2093.pdf. Zugegriffen: 05.09.12
[4] Dart RC, Paul IM, Bond GR et al (2009) Pediatric fatalities associated with over the counter cough and cold medications. Ann Emerg Med 53:411– 417
[5] Findeisen M, Vennemann M, Brinkmann B et al (2004) German study on sudden infant death (GeSID): design, epidemiology and pathological profile. Int J Legal Med 118:163 – 169
[6] Köppel C, Tenczer J, Ibe K (1987) Poisoning with over-the counter doxylamine preparations; an evaluation of 109 cases. Human Toxicol 6:355 – 359
[7] Marinetti L, Lehman L, Casto B et al (2005) Over-the-counter cold medications: postmortem findings in infants and the relationship to cause death. J Anal Toxicol 29:738 – 743
[8] Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA) (2010) Overview – Risk: benefit of OTC cough and cold medicines in children. MHRA, London, http://www.mhra.gov.uk/home/groups/pl-p/documents/websiteresources/con041374.pdf. Zugegriffen: 05.09.12
[9] Rimsza ME, Newberry S (2008) Unexpected infant death associated with use of cough and cold medications. Pediatrics 122:e318 – e322
[10] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2009) Sondergutachten 2009, 3.6 Arzneimitteltherapie bei Kindern und Jugendlichen. Bundestag, Berlin, S 168 – 175, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/137/1613770.pdf. Zugegriffen: 05.09.12
[11] Seyberth HW, Kauffman RE (2011) Basics and dynamics of neonatal and pediatric pharmacology. In: Seyberth HW, Rane A, Schwab M (Hrsg) Pediatric clinical pharmacology. Handbook of Experimental Pharmacology, Bd 205. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 3 – 49
[12] Techniker-Krankenkasse (2012) TK-Daten zeigen: Immer mehr Kinder nehmen Psychopharmaka. Geschäftsbericht 2011, Wissenschaft, Politik & Gesellschaft, S 30. Techniker-Krankenkasse, Hamburg
[13] Uhlig U, Pfeil N, Gelbrich G et al (2009) Dimenhydrinate in children with infectious gastroenteritis: a prospective RCT. Pediatrics 124:e622– e632
[14] Van den Anker JN, Schwab M, Kearns GL (2011) Developmental phamacokinetics. In: Seyberth HW, Rane A, Schwabe M (Hrsg) Pediatric clinical pharmacology. Handbook of Experimental Pharmacology, Bd 205. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 51– 75
[15] Vennemann B, Bajanowski T, Karger B et al (2005) Suffocation and poisoning – the hard-hitten sode of Munchausen syndrome by proxy. Int J Legal Med 119:98 – 102
[16] Wingert WE, Mundy LA, Collins GL, Chmara ES (2007) Possible role of pseudoephendrine and other over-the-counter cold medications in death of very young children. J Forensic Sci 52:487– 490
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. H. W. Seyberth
Kommission für Arzneimittelsicherheit im
Kindesalter (KASK)
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)
Chausseestraße 128/129, 10115 Berlin
E-Mail: info@dgkj.de
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor weist auf folgende Beziehungen hin: Aktienbesitz von Bayer AG und Roche
Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter (KASK) der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) Berlin
Mitglieder der Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter (KASK) Prof. Dr. R. Berner (Freiburg), Prof. Dr. J. Boos (Münster), Prof. Dr. B. Erdlenbruch (Minden), Prof. Dr. F. Heinen (München), Dr. D. Mentzer (Langen), Prof. Dr. Dr. h.c. W. Rascher (Erlangen), Prof. Dr. M. Schwab (Stuttgart), Prof. Dr. H. W. Seyberth (Landau), Prof. Dr. F. Zepp (Mainz) (Vorsitzender)
Arzneimitteltherapie
* Das Thema dieses Positionspapiers ist auch Gegenstand des Beitrags Rezeptfreie Antihistaminika bergen Risiken für Kleinkinder, veröffentlicht in der Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt, Jg 109, Heft 38.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Dtsch. Ärzteblatts und von Springer Science+Business Media. aus Monatsschr Kinderheilkd 2012 DOI 10.1007/s00112-012-2778-2
Risikoinformation des BfArMDiphenhydramin, Doxylamin und Dimenhydrinat: Rezeptfreie H1-Antihistaminika der ersten Generation bei Säuglingen und KleinkindernWas sind Antihistaminika der ersten Generation und wofür werden sie eingesetzt?H1-Antihistaminika sind Arzneistoffe, die durch eine Blockade von H1-Rezeptoren die Wirkung von Histamin hemmen und somit antiallergisch wirken. Im Gegensatz zu H1-Antihistaminika der zweiten oder dritten Generation werden H1-Antihistaminika der ersten Generation gut in das zentrale Nervensystem aufgenommen. Aufgrund der Blockade zentraler H1-Rezeptoren haben diese Antihistaminika zusätzlich einen sedierenden und antiemetischen Effekt und werden daher hauptsächlich in diesen Indikationsgebieten, nämlich als Sedativum (Schlaf- und Beruhigungsmittel) oder Antiemetikum (Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen) eingesetzt. H1-Antihistaminika der ersten Generation werden dagegen bei der Behandlung von allergischen Erkrankungen zunehmend durch nicht-sedierende Antihistaminika der zweiten oder dritten Generation ersetzt. H1-Antihistaminika der ersten Generation sind zur Behandlung von Erkältungskrankheiten für Kinder bis drei Jahren derzeit in Deutschland nicht zugelassen. Für Kleinkinder (bis drei Jahre) sind aber folgende rezeptfreien H1-Antihistaminika der ersten Generation als Antiemetikum bzw. Sedativum zugelassen:
Welche unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) wurden berichtet?H1-Antihistaminika der ersten Generation können unerwünschte zentralnervöse Wirkungen wie Tagesmüdigkeit, Konzentrationsstörungen, Halluzinationen und Krämpfe auslösen. Des Weiteren können sie sogenannte anticholinerge Effekte wie z. B. Mundtrockenheit, Blasenentleerungsstörungen und Verstopfung verursachen. H1-Antihistaminika können eine Wirkung auf das Herz haben (QT-Intervall-Verlängerung im EKG), was zur Beschleunigung des Pulses oder zu Herzrhythmusstörungen führen kann. Die folgenden Berichte zu unerwünschten Arzneimittelreaktionen (UAW) liegen in der UAW-Datenbank des BfArM vor:
Was ist bei der Anwendung bei Kindern zu berücksichtigen?Insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern besteht die Möglichkeit des Auftretens paradoxer Reaktionen wie Unruhe, Erregung, Schlaflosigkeit, Angstzustände oder Zittern. Des Weiteren ist bei Säuglingen besondere Vorsicht geboten, da diese besonders empfindlich auf die anticholinergen Effekte dieser Antihistaminika reagieren können und somit das Risiko für unregelmäßigen Atem und Atemstillstand besteht. Überdosierungen können vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern auftreten und diesen gefährlich werden. Aus diesem Grund ist bei Verdacht auf Überdosierung oder Vergiftung sofort ein Arzt zu informieren. Zu den Symptomen einer Überdosierung gehören Verwirrung, Erregungszustände bis hin zu Krampfanfällen, Bewusstseinstrübungen, die von starker Schläfrigkeit bis zu Bewusstlosigkeit reichen, sowie Atemstörungen bis zum Atemstillstand. Die empfohlene Dosierung sollte, vor allem bei Kindern, auf keinen Fall eigenmächtig erhöht werden! Die Informationen der Packungsbeilage sollten insbesondere bei der Behandlung von Säuglingen und Kleinkindern beachtet und den Anweisungen strikt gefolgt werden. Was macht das BfArM?Die Sicherheit der H1-Antihistaminika der ersten Generation wird wie die jedes zugelassenen Arzneimittels kontinuierlich überwacht. Zusätzlich werden alle verfügbaren Daten in nationalen und internationalen Gremien bewertet und mögliche Maßnahmen evaluiert. Was können Sie (die Eltern) tun?Wir bitten Sie, Nebenwirkungen, die bei Ihrem Kind auftreten, bevorzugt über Ihren Kinderarzt oder auch selbst an das BfArM zu melden. Sie helfen uns damit, ein besseres Bild vom Sicherheitsprofil dieser Arzneimittel in der Praxis zu bekommen. FazitDie Anwendung von H1-Antihistaminika der ersten Generation bei Säuglingen und Kleinkindern muss unter strenger Beachtung der Produktinformationen und mit besonderer Vorsicht erfolgen. Kinder unter drei Jahren sind besonders gefährdet für Nebenwirkungen. Überdosierungen müssen deshalb in dieser Altersgruppe unter allen Umständen vermieden werden. Sollten Sie Nebenwirkungen bei der Anwendung von Antihistaminika der ersten Generation beobachten, bitten wir Sie (die Eltern) oder besser Ihren Kinderarzt, diese anhand des Meldebogens an das BfArM zu melden. Quelle: Risikoinformation des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), www.bfarm.de/DE/Pharmakovigilanz/risikoinfo/2012/RI-antihistaminika.html |
Interview
"Warnung vor einem lange verkannten Arzneimittelproblem!"
DAZ: Herr Professor Seyberth: Die Warnung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin vor Hustensäften mit Antihistaminika der 1. Generation hat einige Apothekerinnen und Apotheker irritiert.
Seyberth: Hier gibt es wohl unterschiedliche Betrachtungsweisen. Während Ärzte üblicherweise ein Arzneimittel aus pharmakologischer Sicht betrachten, sehen offensichtlich Apotheker im Arzneimittel ein pharmazeutisches Produkt eines Arzneimittelherstellers. Das DGKJ-Positionspapier hat nun als Grundlage die pharmakologische Betrachtungsweise von Wirkstoffen und deren Wirkmechanismen verwendet. Apotheker folgen nun offensichtlich der Arzneimittel-Einteilung und Listung wie sie von den Arzneimittelherstellern, so z. B. in der Roten Liste vorgegeben werden. Dort findet man im Hauptgruppenverzeichnis der Fertigarzneimittel und Medizinprodukte die Gruppe Antitussiva/Expektoranzien und des Weiteren die Gruppe Grippemittel und Mittel gegen Erkältungskrankheiten. In der Pharmakologie sind diese Bezeichnungen und Unterteilungen völlig ungebräuchlich. Hier spricht man von Antitussiva, Mukolytika/Sekretolytika, Antipyretika, Analgetika oder Antihistaminika. Antihistaminika der 1. Generation (AH1G), um die es im Positionspapier hauptsächlich geht, sucht man dann wiederum in der Roten Liste außer unter Grippe- und Erkältungsmittel natürlich auch unter Antiallergika, Antiemetika/Antivertiginosa und Hypnotika/Sedativa. Da es leider gegen die sehr häufigen viralen Infektionen in den oberen Atemwegen keine kausale, sondern nur eine symptomatische Behandlung mit einer Vielzahl von Wirkstoffen und Wirkstoffkombinationen gibt, werden in der internationalen und auch nationalen Medizin für dieses "Potpourri" von Arzneien die Bezeichnungen Cough and Cold Medicines bzw. Husten- und Erkältungsmittel verwendet (siehe hierzu die Ausführungen der britischen und europäischen Zulassungsbehörden: http://www.mhra.gov.uk/home/groups/pl-p/documents/websiteresources/con041374.pdf.
DAZ: Die Irritation resultiert wohl vor allen Dingen daher, dass die angesprochenen Antihistaminika Diphenhydramin, Dimenhydrinat und Doxylamin nur als Antiemetika und Sedativa für Kinder zugelassen sind.
Seyberth: Es ist richtig, dass Husten- und Erkältungsmittel wie Grippostad-C-Hartkapseln mit dem AH1G Chlorphenamin und Wick MediNait Erkältungssirup mit Doxylamin nur eine Zulassung zur Behandlung von Reizhusten für Kinder über zwölf Jahre haben. Doch ist die kindgerechte Darreichungsform des Wick-Sirups meines Erachtens auch für jüngere Kinder sehr geeignet und wird auch nachweislich entsprechend eingesetzt.
DAZ: Nachweislich eingesetzt bedeutet durch Kinderärzte verordnet?
Seyberth: Nein, das nehme ich nicht an; ebenso dürfte dieser Erkältungssirup zur Verabreichung an Kinder unter zwölf Jahren von Apothekern kaum empfohlen bzw. abgegeben worden sein. Die toxikologische Abteilung der Technischen Universität München hat uns aber auf Anfrage Daten zur Verfügung gestellt, aus denen hervorgeht, dass in der Vergangenheit auch mehrere Eltern von Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren wegen Vergiftungsverdacht sich an die Münchner Toxikologen gewandt haben. Wie die Kinder an Wick MediNait gekommen sind, geht aus der Aufstellung leider nicht hervor.
DAZ: Gibt es Zahlen dazu, in welchem Umfang Eltern die rezeptfreien Husten- und Erkältungsmittel in der Apotheke für ihre Kinder erwerben?
Seyberth: Die Frage muss ich an die Apotheker zurückgeben. An diese sehr interessanten Daten kommen wir leider nicht heran.
DAZ: Eine weitere Frage betrifft die Einordnung der Antihistaminika der 1. Generation. In deutschen Pharmakologie-Büchern sucht man sie unter Antitussiva vergebens.
Seyberth: Hier gibt es einen Unterschied zur angloamerikanischen Literatur. In dem führenden pharmakologischen Textbuch von Goodman & Gilman, werden neben den Opioid-Analgetika, Dextromethorphan und Noscapin auch die AH1G zu den zentral wirksamen Antitussiva gezählt. Zusätzlich zu dieser zentralnervösen Wirkung haben die anticholinergen AH1G eine periphere antitussive Wirkung, denn sie blockieren beim Husten-Reflexbogen die afferente Nervenleitung über den Vagus. Zusammengenommen heißt dies, dass die AH1G auch selbst "Hustenmittel” sind. Wie könnte ansonsten auch Grippostad, das außer dem AH1G Chlorphenamin keinen weiteren antitussiven Wirkstoff enthält, wirksam gegen Reizhusten sein? Wegen ihrer gleichzeitigen positiven Wirkung auf Husten-bedingtes Erbrechen und Unruhezustände, dürften die AH1G sich bei Kindern bzw. Eltern bei der Behandlung von Husten im Rahmen von respiratorischen Infektionen größerer Beliebtheit als die anderen zentral wirksamen Antitussiva erfreuen (siehe hierzu die Ausführungen der britischen und europäischen Zulassungsbehörden: http://www.mhra.gov.uk/home/groups/pl-p/documents/websiteresources/con041374.pdf).
DAZ: Das zentrale Anliegen der DGKJ ist es, auf das Problem der Anwendung älterer Antihistaminika bei Kleinkindern aufmerksam zu machen. Was erwarten Sie von den Apothekerinnen und Apothekern?
Seyberth: Wie im Positionspapier bereits ausgeführt wurde, wollen wir bei der rezeptfreien Abgabe von AH1G-haltigen Arzneimitteln wegen deren ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses bei Kindern – hier insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern unter zwei (besser unter drei) Jahren – aus pädiatrisch-pharmakologischer Sicht auf ein wahrscheinlich lange verkanntes Arzneimittelproblem aufmerksam machen. Während die AH1G als wirksame Antiemetika, z. B. bei Reisekrankheit, nur schwerlich zu ersetzen sind, gibt es für die AH1G-haltigen Husten- und Erkältungsmittel bessere Alternativen. So kann ich als Pädiater und Pharmakologe bei Kindern mit einem viralen Infekt der oberen Luftwege empfehlen, auf ausreichend Flüssigkeitsangebot zu achten und wegen des Fiebers, der Schmerzen und des entzündungsbedingten Reizhustens auf das in der Pädiatrie sehr gut untersuchte Ibuprofen mit seinen zahlreichen kindgerechten Darreichungsformen zurückzugreifen.
DAZ: Herr Prof. Seyberth, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Interview: Dr. Doris Uhl
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