- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 48/2012
- Besuch einer HIV-...
"Wir lösen das Problem"
Besuch einer HIV-Schwerpunkt-Apotheke
Als Anfang der 80er Jahre AIDS als neue Infektionskrankheit bekannt wurde, gab es noch keine adäquaten Therapiemöglichkeiten, es kam auf eine enge Zusammenarbeit von spezialisierten Pflegediensten, Krankenhausambulanzen, Ärzten und Apotheken an. Die Alexander-Apotheke, die sich Ende der 80er Jahre in St. Georg niederließ, sah darin ihre Herausforderung, sich auf die Versorgung von HIV-Patienten zu spezialisieren. Das Krankenhaus St. Georg, ebenso ein niedergelassener Arzt, beide in der Nähe der Apotheke, behandeln schwerpunktmäßig AIDS-Patienten. "Die Überlebenszeit von HIV-positiven Patienten war damals kurz", erinnert sich Apotheker Jörg Barkau, Inhaber der Alexander-Apotheke, "viele starben an Begleitinfektionen aufgrund der Immunschwäche. Hatte man eine Infektion in den Griff bekommen, manifestierte sich die nächste." Erst mit Einführung der Proteasehemmer Mitte der 90er Jahre habe man deutliche Fortschritte gesehen.
Schon damals machte sich die Alexander-Apotheke einen Namen: Die Apotheke ging auf die besonderen Bedürfnisse der Patienten ein – sie fühlten sich gut betreut und versorgt, das sprach sich herum. Spezialarzneimittel mussten schnell und kontinuierlich zur Verfügung stehen, Infusionsports besorgt werden. Vor allem in den 90er Jahren, so Barkau, war es "eine heiße Zeit, in der es darum ging, dem Patienten dramatisch schnell zu helfen".
Auch wenn es immer noch komplizierte Fälle gibt – die Dramatik ist weitgehend verschwunden. Dennoch, auch heute zeigt sich die eine oder andere Herausforderung für eine HIV-Apotheke: "In dringenden Fällen liefern wir ein Präparat auch über weite Strecken per Boten, selbst wenn sich das betriebswirtschaftlich nicht rechnet."
Fortbildung, Beratung, Warenlager
Was zeichnet eine HIV-Schwerpunkt-Apotheke aus? An erster Stelle steht die intensive Fortbildung der Mitarbeiter auf dem Gebiet der AIDS-Therapie sowie ein enger Kontakt zu Herstellern und Ärzten. Die Apotheke muss über jede Verbesserung einer Therapie, insbesondere über neue Arzneimittel, die in Kürze auf den Markt kommen, Bescheid wissen – die Ärzte fragen danach.
Beratung der Patienten wird in der Alexander-Apotheke großgeschrieben. Wie wirken die Arzneimittel, wie werden sie angewendet und vor allem: welche Wechsel- und Nebenwirkungen im CYP-Bereich haben sie. Fragen zur Ernährung fließen genauso in die Beratung ein wie Kenntnisse über alternative oder adjuvante Therapiemöglichkeiten. "Wir nehmen Wünsche der Patienten nach einer Begleittherapie ernst, weisen aber auch darauf hin, dass eine begleitende Therapie nicht die Basistherapie ersetzen kann", ergänzt Barkau.
Eine Schwerpunkt-Apotheke hat zudem ein überdurchschnittlich großes Warenlager der relativ teuren Präparate – ein nicht zu unterschätzender Kostenfaktor. 20 Truvada-Packungen im Ziehschrank sind da schon üblich. Barkau: "Wir haben die Lagerhaltung weitgehend optimiert, um nicht zuviel Liquidität einsetzen zu müssen. Aber Vorrang hat für uns die Patientenbelieferung."
Ganz wichtig: die Kontrolle der ärztlichen Verordnung. Wie Barkaus Mitarbeiter und Filialleiter Andreas Hintz berichtet, kommt es immer wieder vor, dass in der Arztpraxis versehentlich ein Präparat verordnet wird, das nicht in ein neues Therapieschema passt. Oder es wird ein nicht korrektes Wiederholungsrezept ausgestellt. "Die Ärzte sind dankbar für diese Hinweise, ebenso für Hinweise, ob sich die HIV-Medikation mit der Arzneitherapie der anderen Krankheiten verträgt: Wechsel- und Nebenwirkungen, Kontraindikationen."
Darüber hinaus übernimmt die Alexander-Apotheke auch bei sozialen Fragestellungen eine Lotsenfunktion und hilft Patienten, beispielsweise ihre Zuzahlungsbefreiung zu beantragen. Oder bei der Frage, welche Chirurgen auf kosmetische Operationen spezialisiert sind, um die durch jahrelange AIDS-Therapie als Nebenwirkung entstehenden Gesichtsfalten, die Patienten als Stigmatisierung empfinden, unterspritzen zu lassen.
Es geht in den Gesprächen mit den langjährigen Patienten, die heute in der Regel ein durchschnittliches Lebensalter erreichen, auch um Lebensführung, um Lifestyle. "Die Patienten sterben heute mit HIV, aber nicht mehr an HIV", zitiert Barkau einen Arzt mit einer HIV-Praxis. HIV ist heute nicht mehr das Problem, so die Erfahrung des Arztes der Schwerpunktpraxis, Probleme entstehen heute eher durch Erkrankungen wie Koronare Herzkrankheit, Diabetes, Hypertonie und die möglichen Interaktionen mit der HIV-Behandlung. Die Patienten wollen ein möglichst normales Leben führen. HIV und Kinderwunsch ist beispielsweise ein Thema, das noch vor zehn oder fünfzehn Jahren indiskutabel war. Die Alexander-Apotheke weiß auf solche Fragen eine fundierte Antwort und kennt Möglichkeiten, wie sich ein solcher Wunsch verwirklichen lässt.
Barkau: "Die Herausforderung wird in Zukunft sein, die HIV-Patienten mit steigendem Alter und mit ihrer Gesamtmedikation vernünftig zu behandeln. Hier kommt verstärkt die Apotheke mit ins Spiel."
Mitarbeiter mit fachlicher und emotionaler Kompetenz
Um auf Augenhöhe mit den Ärzten zu kommunizieren, besuchen die Apothekerinnen und Apotheker der Alexander-Apotheke auch ärztliche Fortbildungen oder Arbeitskreise der Ärzte. "Das ist zum einen Fortbildung, zum andern auch Öffentlichkeitsarbeit für die Apotheke. Nur so können wir eine gemeinsame Sprache mit den Ärzten sprechen", so Hintz, "Es reicht also mit Sicherheit nicht, wie es manche Kolleginnen und Kollegen tun, den Arzt anzurufen oder eine Karte zu schicken und zu erklären, dass man nun auch AIDS-Patienten versorgen wolle. Es gehört mehr dazu."
Zum Beispiel auch Mitarbeiter, die bedingungslos zum Konzept einer solchen Apotheke stehen, ein profundes Wissen über HIV, die AIDS- und Hepatitis-Therapie haben und die bereit sind, ihr Wissen in diesen Gebieten ständig zu aktualisieren. "Mit einer Abendveranstaltung im Jahr ist das nicht getan", so Apotheker Jörg Barkau. Drei Apotheker und zwei PTA sind hier die kompetenten Ansprechpartner für Kunden und Patienten. Telefonanrufe nimmt nicht eine PKA der Apotheke entgegen, sondern Apotheker und PTA. "Der Anrufer soll sofort einen Gesprächspartner am Telefon haben, der fachlich Auskunft geben kann", erklärt Barkau. Gearbeitet wird in der Regel im Zweier-Team, beispielsweise ein Apotheker und eine PTA, so dass die PTA sich unmittelbar mit einem Apotheker, auch vor dem Kunden, beratschlagen kann. Die Kunden akzeptieren dies ohne Weiteres und empfinden es als Wertschätzung, mit ihrer Krankheit und ihren Problemen ernst genommen zu werden.
Einfühlungsvermögen ist gefragt
Apotheker Hintz: "Die große Herausforderung: Für jeden Menschen mit einer HIV-Infektion ist etwas anderes wichtig." So berichtet er, dass ein Patient beispielsweise keinerlei Aufkleber auf seinen Arzneimitteldosen wünscht, um seinen Mitmenschen zu Hause nicht kundzutun, dass er AIDS-Präparate nimmt. Ein anderer Kunde möchte nur kleine Vorräte mit nach Hause nehmen und sucht nach Wegen, den zu Hause gelagerten Vorrat an Medikamenten möglichst gering zu halten. Um das herauszufinden, gehört zur Betreuung von AIDS-Patienten eine hohe soziale Kompetenz, viel Fingerspitzengefühl. Es sind die "soft skills", die zählen, und der persönliche Umgang mit zahlreichen Stammkunden. Viel Einfühlungsvermögen in diese Patienten ist gefragt. Das bunt gemischte Patientenklientel, neben Drogenabhängigen meist homosexuelle Männer, durchlaufen meist viel rascher verschiedene Lebenszyklen: Trennungen, neue Partner, neuer Arbeitsplatz, neue Wohngemeinschaften. "Das heißt, wir müssen unsere Stammkunden immer wieder neu kennenlernen – eine zusätzliche Herausforderung, auf die wir uns einstellen müssen", ergänzt Hintz. Je nach Lebenssituation möchte der Patient seine Arzneimittel höchst diskret eingepackt bekommen, in einer anderen Situation nimmt er sie ohne Verpackung mit. Ein anderer möchte einen Infusionsflaschenaufhänger in glänzendem Edelstahl statt in Plastik – "es ist eben eine besondere Klientel, die mitunter in Details sehr anspruchsvoll ist. Auf diese Wünsche gehen wir ein." Für Apotheker Hintz ist dies kein Problem, sein Steckenpferd ist Kommunikation, er besitzt das Einfühlungsvermögen und die Empathie, die für die Beratungsgespräche und Betreuung der Patienten von Vorteil sind. In regelmäßigen Teambesprechungen werden die Kundenwünsche diskutiert. Warum beispielsweise ein Patient unzufrieden war und was man verbessern kann. Doch es kommt auch vor, dass Mitarbeiter kündigen, da sie mit der Betreuung dieses Klientels überfordert sind. Der eine Patient, der gerade erfahren hat, dass er HIV-positiv ist, kommt zitternd, bleich, verzweifelt und aufgelöst in die Apotheke; ein anderer Patient, der bereits mehrere Jahre von seiner Erkrankung wusste und bisher noch keine Therapie machte, tritt dagegen selbstbewusst auf, um die Details der Therapie zu besprechen. Jeder Neukontakt läuft anders ab, man muss auf den Kunden eingehen. Barkau: "Wir bitten den Patienten, uns seinen Dosierungsplan, den er vom Arzt bekommen hat, zu zeigen. Während die einen für weitere Erläuterungen und Hinweise dankbar sind und ein ausführliches Gespräch wünschen, machen andere deutlich, dass sie vollkommen vom Arzt aufgeklärt sind und keine weiteren Hinweise benötigen. In diesem Fall geben wir eine Karte mit den Kontaktdaten der Apotheke mit. Oft kommt dann später ein Anruf: was tun, wenn ich die Einnahme vergessen habe, wie pünktlich muss ich das Arzneimittel einnehmen usw. Da Compliance für den Therapieerfolg äußerst wichtig ist, stehen Hinweise und Tipps dazu mit an erster Stelle, beispielsweise: Tablettenboxen, Notfallration für den Arbeitsplatz oder für die Reise."
"Aber", so räumt Barkau ein, "wir sind auch eine normale Apotheke, das heißt, wir kümmern uns mit der gleichen Intensität auch um die Senioren aus dem Pflegeheim, die zu uns kommen, um die Mutter mit Kind und um jeden anderen Patienten und Kunden. Wartende HIV-Patienten, die glauben, sie seien mit ihren teuren Rezepten besonders viel wert, bekommen dies mit und schätzen es, dass wir auf alle Patienten eingehen. Wir sind eine Apotheke für alle, nicht nur für Menschen, die an HIV erkrankt sind. Es ist unsere Authentizität."
Nur noch einmal täglich
Die moderne antiretrovirale HIV-Therapie besteht im Idealfall nur noch aus der Gabe eines Arzneimittels, einem Kombipräparat mit drei Wirkstoffen. Doch abhängig vom Patienten, seiner Ausgangslage und den Begleiterkrankungen sind in einigen Fällen auch mehrere Arzneimittel einzunehmen. Perspektive für den Patienten in der Langzeittherapie ist die einmalige Gabe eines Präparats am Tag. In höherem Alter kommt dann allerdings die altersentsprechende Medikation hinzu wie Antihypertonika, Antidiabetika.
Unterm Strich werden die modernen Arzneimittel heute gut vertragen, Nebenwirkungen sind seltener geworden, kann Hintz berichten. Allerdings altern Menschen mit HIV sowohl durch die Infektionen selber als auch aufgrund der Arzneimittelnebenwirkungen rascher, und sie bekommen häufiger Tumore, beispielsweise ein Analkarzinom.
Deutliche Fortschritte sind bei HIV-positiven Frauen, die schwanger sind, festzustellen. Ärzte schaffen es, die Übertragungsrate des Virus von der Mutter auf das Kind unter zwei Prozent zu halten. Schwangere beginnen bereits während der Schwangerschaft eine HIV-Therapie – "knifflig, aber möglich". Selbst ein Kinderwunsch mit einem HIV-positiven Partner ist heute kein Tabu mehr. Sperma kann physikalisch aufgereinigt werden, die Befruchtung erfolgt dann in vitro.
Problemgruppe: MSM
Die Patienten: es gibt tragische Fälle wie die 16-jährige Drogenabhängige bis hin zum 86-Jährigen. Aber es gibt auch Fälle, in denen sich beispielsweise eine Pflegekraft während der Ausbildung infiziert hat. Die Patienten kommen aus allen sozialen Schichten, unabhängig von Beruf, Einkommen und Status. Die Frau, die eine Immobilienagentur betreibt, gehört genauso zur Patientengruppe wie der Landwirt aus dem Alten Land oder der Obdachlose vom Bahnhof. Die größte Gruppe bilden allerdings Männer, die Sex mit Männern (MSM) haben. Hinzu kommt ein großer Anteil an Personen, die aus Ländern kommen, in denen HIV endemisch vorkommt, beispielsweise afrikanische und asiatische Länder. Die Zahl der infizierten Drogenabhängigen, die sich in eine antiretrovirale Therapie begeben, ist dagegen leicht gesunken.
Aber die Infektionszahlen steigen, trotz aller Aufklärungsmaßnahmen von Organisationen wie beispielsweise der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, so die Erfahrung der beiden Apotheker aus der Alexander-Apotheke. Dennoch sollten die Aufklärungskampagnen nicht aufhören: "Die Bevölkerung darf nicht glauben, AIDS spielt sich nur in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ab. Auch eine Liebe im Urlaub kann die Quelle der Infektion sein, das sollten Jugendliche wissen."
Im Visier der Krankenkassen
Die Arzneimitteltherapie gegen AIDS kostet heute im Durchschnitt etwa 2000 Euro im Monat, kann sich aber auch schon mal auf 5000 Euro summieren. Klar, dass eine solche Schwerpunkt-Apotheke unter besonderer Beobachtung der Krankenkassen steht. Die Abgabe von Importarzneimitteln steht hier im Vordergrund mit allen Vor- und Nachteilen. Retaxationen drohen. "Das ist zum Teil existenziell. Wenn man Fehler macht und die Nullretaxation eines 5000-Euro-Rezepts kommt ins Haus – das ist mehr als unerfreulich", gibt Barkau zu bedenken. Eine gute Dokumentation über die Verfügbarkeit und Lieferfähigkeit ist hier unabdingbar. Für die Apotheke bedeutet das auch logistische Herausforderungen, da es im Bereich der Importe immer wieder einmal Engpässe geben kann. Importarzneimittel aus verschiedenen Ländern können unterschiedlich verpackt sein, in Blistern oder Dosen. Außerdem kann es von einem Original bis zu zehn verschiedene Importe mit unterschiedlichen Preisen geben – die Kassen bestehen auf einem der drei günstigsten Importe. Nachdem bei Retrovir das Patent abgelaufen ist, gibt es ein AZT-Generikum, die Folge: Rabattverträge sind auch hier an der Tagesordnung. Die Ärzte werden zudem von den Kassen angehalten, Importe zu verordnen, und private Krankenversicherungen machen Druck auf ihre Versicherten, aktiv nach Importen zu fragen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Patienten besonders empfindlich sind, wenn sie auf einmal eine Reimport-Packung mit kyrillischen Schriftzeichen bekommen. "Hier spürt man die Angst der Patienten vor Fälschungen", so Apotheker Andreas Hintz. "Wenn wir den Patienten glaubhaft versichern können, dass wir nicht über eine Kette von Zwischenhändlern kaufen, so trägt dies zur Compliance bei. Oder wir machen pharmazeutische Bedenken geltend, wenn ein Patient auf keinen Fall das Generikum akzeptiert. Hier werden weitere Herausforderungen auf uns zukommen", so Barkau.
Bei allen Schwierigkeiten: Ansporn für die Alexander-Apotheke, sich Tag für Tag um die Arzneimittelversorgung der Menschen mit HIV zu kümmern, ist auch die Dankbarkeit der Patienten. Apotheker Hintz: "Da kommt schon mal die eine oder andere Postkarte aus dem Urlaub oder wir bekommen selbstgebackene Weihnachtsplätzchen. Viele Patienten berichten uns aus ihrem Leben, wenn sie eine neue Wohnung haben, eine neuen Job, einen neuen Partner. Wir sind für viele Vertraute."
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.